Verachtet mir die Meister nicht
Verachtet mir die Meister nicht
Wer mich kennt, weiß, dass meine Einschätzung von Richard Wagner eher kritisch geprägt ist . Aber dennoch erschien mir dieses Zitat aus den „Meistersingern“ ein passender Titel für einen Text, der sich mit einer Tendenz beschäftigt, die nicht erst seit den massiven Kulturkürzungen in Berlin in unserer Gesellschaft um sich greift: einer zunehmenden Ächtung und Marginalisierung von allem, was in irgendeiner Form mit Bildung und Fachwissen zu tun hat. Wir leben in einer Zeit, in der die „Meister“ und Meisterinnen mehr denn je verachtet werden.
75 Nobelpreisträger warnen vor einem Amtsantritt eines Gesundheitsministers, der ein erklärter Wissenschaftsfeind und Impfgegner ist. Und dennoch ist das nur eine Fußnote und verhallt im öffentlichen Diskurs, weil der Respekt vor einer Leistung wie dem Nobelpreis grundsätzlich gesunken ist und nichts mehr zählt. Ein wachsender Teil der Bevölkerung ignoriert zum Beispiel – von Meinungsmachern und Konzerninteressen geblendet – dass eine überwältigende Mehrheit der Wissenschaft klare Beweise für den menschengemachten Klimawandel erbringen kann. Die intellektuellen Kapazitäten, diese eindeutige Manipulation zu durchschauen (und auch der grundsätzliche Respekt vor Expertenwissen), fehlen zunehmend, weil man sich mit einer schnellen google-Suche gleich als wissend für ein Fachgebiet fühlt. Schon das Wort „Wissenschatfler/in“ wird wie ein Schimpfwort verwendet – wer ein paar youtube-Videos gesehen hat, fühlt sofort überlegen, wenn es um komplexe Fragen geht, selbst wenn die dazugehörigen Fachzweige noch nicht einmal ansatzweise verstanden werden.
Wildeste Verschwörungsmythen finden ein großes Publikum, während Hobbywissenschaftler und Pseudoexperten auf TikTok der Jugend erklären, warum die Erde flach oder die Evolutionslehre falsch ist. Oder dass jeder Satz in der Bibel absolut wörtlich zu nehmen ist. Oder jeder Satz im Koran oder im Talmud (was keinerlei Unterschied macht im Wettrennen der religiösen Eiferer um die zunehmend naiven und verdummten Massen).
Es ist keine Vereinfachung, wenn man feststellt, dass uninformierte Meinungen im öffentlichen Diskurs inzwischen einen höheren Wert darstellen als mühsam recherchierte und belegte Fakten. Politische Kandidaten lügen und verbreiten schwachsinnigste Falschbehauptungen, ohne dass es irgendeinen Einfluss auf Wählerstimmen hat. Man könnte sogar zynisch sagen, dass der Kandidat, der am offensichtlichsten lügt, die meisten Stimmen bekommt im Kampf um Aufmerksamkeitsgenerierung.
Aber das ist nur die eine Seite der Medaille – auch der akademische Diskurs scheint zunehmend vergiftet von übertriebener Cancel Culture und fehlendem Selbstvertrauen in die intellektuellen Fähigkeiten, die man zu lehren versucht. Musikuniversitäten weltweit diskutieren inzwischen, ob die Fähigkeit des Notenlesens vielleicht zu „exklusiv“ sei, oder ob Tonalität vielleicht ein inhärent „rassistisches“ Konzept ist. Währenddessen klagen lehrende Kolleginnen und Kollegen zunehmend über lieblos mit ChatGPT-generierte Texte, die als akademische Arbeiten oder Förderungsbewerbungen eingereicht werden. Ernsthaft arbeitende Studierende erleben genau wie Schachgroßmeister eine zunehmende Konkurrenz aus der zweiten bis dritten Reihe, die sich mit immer neuen Hilfsmitteln aus der modernen Computer- und KI-Technologie Vorteile verschafft. Die eigentlichen Fähigkeiten scheinen zunehmend nicht mehr zu zählen, außer sie spielen sich auf einer reinen Schauebene ab, die sich auf Instagram präsentieren lässt.
Man sieht also weiterhin virtuose Tänzer oder Pianistinnen, die in großer Perfektion Skalen rauf und runterdonnern, aber immer weniger echte Durchdringung der Materie samt Hintergrundwissen. Früher einmal als grundsätzlich essenziell und mit Bildung verknüpfte Fähigkeiten verkümmern zusehends, und wer darüber mahnt, wird als rückständig empfunden. Natürlich ist es so, dass clevere Individuen (die es immer geben wird) die neuen digitalen Möglichkeiten auch auf sehr kreative und intelligente Weisen nutzen werden, wie wir sie uns noch kaum vorstellen können. Aber es ist eine Tatsache, dass man auf diesem Planeten immer besser zurechtkommt, wenn man grundsätzliche geistige Fähigkeiten wie zum Beispiel das Schreiben und Sprechen der eigenen Sprache verkümmern lässt oder intellektuelle Entscheidungen und Einschätzungen Algorithmen anvertraut.
Fähigkeiten, für die es keine Anreize mehr gibt, tendieren dazu, zu verschwinden, das sieht man an dem medizinischen Problem der zunehmend ungesunden „Couch Potatoes“ ab dem 20. Jahrhundert, die mit der Erfindung von Autos, Fernsehern und Computern erst entstanden. Wird man also in Zukunft so etwas wie „Mental Fitness“-Studios bemühen müssen, um die grundsätzliche geistige Gesundheit zu erhalten, die durch permanente Social-Media-Nutzung inzwischen vollkommen atrophiert und verschwunden ist?
Als Folge dieses Trends der geistigen Verrohung bekommen vormals als erhaltenswürdig empfundene Kulturinstitutionen zunehmend weniger Schutz oder Respekt. Die Komische Oper scheint von der Berliner Kulturpolitik trotz hohen internationalen Ansehens inzwischen abgeschrieben worden zu sein. Ein wachsender Anteil von deutschen Opernhäusern wie zum Beispiel Frankfurt oder Augsburg spielt in unbefriedigenden Interimsstätten, da sich Sanierungsarbeiten endlos hinziehen oder nicht genügend finanziert werden. In Stuttgart könnte es bis 2040 dauern, bis das Opernhaus wieder einsatzfähig ist. In München gibt es die skurrile Situation, dass es zwar möglich war, in erstaunlich kurzer Zeit eine Interimsspielstätte für die Münchener Philharmoniker zu errichten (die Isarphilharmonie), es aber unmöglich scheint, den Gasteig zu sanieren, eine der vormals angesehensten und meistbesuchten Kultureinrichtungen Deutschlands.
Nicht nur in der GEMA wird inzwischen darüber diskutiert, ob es nicht vielleicht wesentlich wichtiger wäre, elektronische Clubmusik zu fördern, als die Fähigkeit, für ein großes Orchester zu schreiben. Nichts gegen Clubmusik, aber die braucht keine jahrzehntelange Ausbildung. Es ist keine Arroganz und auch keine Hochnäsigkeit, das umfassendere Fachwissen einer solchen Ausbildung grundsätzlich anzuerkennen, denn dies entspricht ganz gewiss nicht einer Nichtanerkennung von Clubmusik. Dass das einen Unterschied macht, dass man Dinge unterschiedlich fördert, je nachdem wie viel Aufwand dafür betrieben werden muss – all dies scheint als Konzept nicht mehr zu zählen.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Doktor- und Professorentitel inzwischen schon von vielen als Affront empfunden werden, und primitive Geschäftsmänner mehr als Menschen mit echten Lebensleistungen bewundert werden, nur weil sie sich als geschickter und ruchloser in der Immobilienspekulation oder dem Aufkauf von Startups erweisen.
Auch wenn Kultur nicht dasselbe wie Bildung ist, ist sie doch eng mit dem Konzept von Bildung verknüpft. Jemand, der in eine Ausstellung oder in ein Konzert ohne jegliche Vorbildung über Kunstgeschichte oder Musikgeschichte geht, wird fraglos ein völlig anderes Erlebnis haben als jemand, bei dem das Gegenteil der Fall ist. Übrigens nicht unbedingt ein Schlechteres, vorausgesetzt es gibt eine grundsätzliche Neugier und Offenheit gegenüber neuen Erlebnissen, aber auch eine solche Grundhaltung will erst einmal erlernt werden und kommt nicht einfach von selbst. Auch sie hat mit Bildung zu tun.
In den letzten Jahrzehnten ist es der klassischen Musik trotz verschiedener Anbiederungsversuche und des teilweise eigenen Ausverkaufs als seichter „Neoklassik“ nicht wirklich gelungen, sich vom Nimbus des „Elitären“ zu befreien. Und das hat leider auch gesellschaftliche Gründe.
Es ist eine große Leistung unseres Sozialstaats, dass Bildung und Kultur auf eine Weise gefördert werden, die theoretisch allen Bevölkerungsschichten zugänglich ist. Studiengebühren sind im Vergleich zum Ausland lächerlich niedrig und für alle zu bezahlen. Selbst ein Ticket für die besten Plätze in der Bayerischen Staatsoper kostet deutlich weniger als ein Ticket zu einem Champions-League-Spiel des FC Bayern oder einem Taylor Swift-Konzert. Und letztere können sich eindeutig sehr viele Menschen leisten, auch wenn sie nicht über ein hohes Einkommen verfügen. Bibliotheken und Museen öffnen ihre Tore für alle – es gibt Ermäßigungen und Vergünstigungen zuhauf, ein Großteil des Bildungsangebots ist fast umsonst. Wer sich also bilden will, kann es in der Theorie.
Dass dies trotzdem nicht in dem Maße passiert, wie man es sich wünschen würde, hat mit dem Selbstverständnis von sozialen Schichten zu tun, und welche Zeiteinteilung als wertvoll erachtet wird. Ein Kind aus einer Akademikerfamilie bekommt wie selbstverständlich Ballett- oder Klavierunterricht, die Eltern fahren es zu Proben mit einem Kinderchor und fördern Mitwirkungen an Theaterstücken und Musiktheateraufführungen. Sie zahlen auch die Unkosten für ein langes Studium oder einen Auslandsaufenthalt, weil für sie Bildung und Erfahrungsvermehrung einen hohen Stellenwert haben.
Ein ebenso begabtes und neugieriges Kind aus einem nichtakademischen Milieu bekommt diese Werte nicht vermittelt, weil der soziale Druck auf möglichst früher Selbstständigkeit und eigenem Einkommen liegt. Einem Kind aus diesem Umfeld kommt Kultur meist wie ein vollkommen unnötiger Zeitvertreib vor, es misstraut dann den „Eliten“, die sich damit beschäftigen.
Beiden Welten fehlt es an Respekt voreinander. Bildung und Kultur schützen nicht vor Arroganz und geistiger Verrohung. Ein Doktortitel heißt nicht, dass man ein besserer oder wertvollerer Mensch ist als zum Beispiel ein Handwerker, dies glauben aber leider viele, die dem Klischee der arroganten „Elite“ entsprechen.
Umgekehrt wird das zunehmende Misstrauen gegenüber irgendeiner Form eines herausragenden Wissens oder Könnens genau von denen geschürt, denen die uninformierte und dumm bleibende Masse am meisten nützt: den Diktaturen dieser Welt, die seit vielen Jahrzehnten im Aufschwung sind. Wir müssen also verstehen, dass nicht die Handhabung von Bildung das Problem ist, sondern wie sie gegen andere Aspekte des gesellschaftlichen Lebens ausgespielt wird. Bildung und Kultur stehen nicht außerhalb oder über einer Gesellschaft, sondern sind essenzielle Bestandteile derselben. Sie nützen auch denjenigen, die sie selbst nicht als wertvoll erachten, genauso wie eine Landwirtschaft auch denjenigen nützt, die nie mit einem Traktor über einen Acker fahren.
Bildung und Kultur für alle ist eine Utopie, die nie erfüllt werden kann. Sie ist aber eine sinnvolle Utopie – dieser Utopie zu dienen ist wertvoll und produktiv für jede Gesellschaft. Problematisch ist es, wenn diese grundsätzliche Anerkennung – so wie es im Moment ist – bröckelt.
In diesem Kontext werden Museen, Kultureinrichtungen und Universitäten zunehmend zu politischen Kampfzonen. Der Besuch eines klassischen Konzerts oder das gründliche Lesen eines Buches sind keine reaktionären oder elitären Statements mehr, sie sind das exakte Gegenteil. Wer Bildung sucht, ist der Revolutionär von Heute. Bildung und Kultur wappnen vor Manipulation und Beeinflussung durch Konzerne und Diktaturen. Denken (und Lernen) zu können ist eine Ermächtigung, keine nutzlose Fähigkeit von vorvorgestern.
Eine Opernbühne kann in einer zunehmend von KI-Videos oder Deepfakes verseuchten Welt wieder zu einem Ort der Wahrheit und Authentizität werden. Die dort agierenden Musikerinnen und Sängerinnen sind auf jeden Fall „echt“, sie verfügen über ein komplexes und erlerntes Können, dass tatsächlich tiefer und weiter geht als das aktuelle TikTok-Tänzchen. Dies grundsätzlich anzuerkennen gemeinsam mit dem Anerkennen der Leistung von speziell ausgebildeten Menschen in tausenden von Berufen, egal ob Elektriker oder Physiker, ob Friseurin oder Juristin, sollte selbstverständlich sein. Zur Bildung gehört aber auch das Anerkennen des eigenen Nichtwissens – je mehr man lernt, desto größer ist der Respekt vor dem, was man noch nicht weiß.
Bildung ist keine Einbahnstraße und kein elitärer Selbstzweck. Bildung und Kultur stellen den fortlaufenden Wunsch dar, mehr zu wissen, die Welt neu zu erfahren und sich neuen Herausforderungen zu stellen.
Das Wichtigste aber ist: wer sich bildet, macht sich resistent gegenüber Einflüsterungen und Manipulationen von allen Seiten.
Und diese Resistenz ist genau denen ein Dorn im Auge, die von ihrer Abwesenheit profitieren.
Moritz Eggert
Komponist