Sind wir noch zu retten? Axel Brüggemanns Buch „Die Zwei-Klassik-Gesellschaft“
Sind wir noch zu retten?
Axel Brüggemanns Buch „Die Zwei-Klassik-Gesellschaft“
Wir dürfen Musikgeschichte nicht nur als ein Podium für Stars und Sternchen wahrnehmen, sondern müssen sie immer in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext sehen. Große Künstlerinnen und Künstler tauchen nicht aus einem luftleeren Raum heraus auf, sondern reagieren auf ihre jeweilige Zeit. Schon Karl Kraus postulierte, dass „jede Zeit sich selbst erlösen muss, da sie allein an sich nur leidet“. Jede Epoche der Musikgeschichte hat also ihre eigenen Lösungen gesucht und ihre eigenen Wendepunkte definiert, sowohl in der Rückschau wie auch mit ihrem Blick in die Zukunft.
Wenn jemand einmal auf den Anfang des 21. Jahrhunderts musikhistorisch zurückschauen wird, wird Axel Brüggemanns Buch „Die Zwei-Klassik-Gesellschaft“ eine wichtige Informationsquelle sein. Denn es ist relativ offensichtlich, dass wir uns an einem Wendepunkt befinden. Einem Wendepunkt, den Brüggemann gleich in seinem ersten Kapitel als Die sterbende Generation“ gegen „die letzte Generation“ beschreibt.
Die „sterbende Generation“ ist natürlich überspitzt ausgedrückt – vermutlich werden sich noch lange mittelalte bis ältere Klassikfans an KI-generierten Lego Set-Bildern erfreuen und damit auf einem Insiderwissen aufbauen, dass immer mehr am Schwinden ist. Aber wie steht es eigentlich um die Zukunft der Klassik? Ist diese uns genauso egal wie vielen Populisten der Klimawandel, nach der Devise „nach mir die Sintflut“?
Wenn ich in der Vergangenheit auf das Thema „Überalterung der Klassik“ angesprochen wurde, wies ich gerne auf Zitate aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hin, in denen der Komponist Paul Hindemith sich schon vor 100 Jahren über das zunehmende Ergrauen des Publikums mokierte und über ein mögliches Aussterben Gedanken machte. Originalzitat: Was uns Alle angeht, ist dies: das alte Publikum stirbt ab; wie und was müssen wir schreiben, um ein größeres, anderes Publikum zu bekommen; wo ist dieses Publikum?». Das Problem ist also nicht neu, und die Generation von Hindemith hat es scheinbar gelöst, denn sonst wäre das Publikum in den letzten 100 Jahren tatsächlich komplett ausgestorben. Dass es nicht so kam, hat mir immer Mut gemacht, denn die Alterung des Publikums hat vielleicht auch damit zu tun, dass sich die Herausforderungen des Berufs -und Familienlebens in einer Leistungsgesellschaft eher intensiviert haben, und daher viele Menschen erst nach ihrer Pensionierung Zeit haben, endlich wieder viel in Konzerte zu gehen.
Im Jahre 2023 bin ich mir nicht mehr so sicher, ob diese Theorie Bestand haben wird, vor allem nicht nach der Lektüre von „Die Zwei-Klassik-Gesellschaft“. Denn hier schreibt jemand, der kaum wie jemand anderes den Klassik-Betrieb von allen Seiten kennt. Axel Brüggemann ist ein Musikjournalist, der nicht nur für die bedeutenden Printmedien der klassischen Musik geschrieben hat, sondern auch Radio- und Fernsehsendungen gestaltet, produziert und moderiert hat. Er ist Podcaster, er ist aktiv in sozialen Medien und hat Musikerbiografien geschrieben. Kurzum: wie kaum ein anderer bekommt er seismographisch mit, was im Moment passiert und wo es bröckelt. Und er brennt für klassische Musik, beschreibt auch immer seine eigene Leidenschaft dafür, denn er gehört einer Generation an, der wie selbstverständlich durch eigene schöne Erfahrungen in die Welt der klassischen Musik hineinwuchsen und ihre Blütezeit – zum Beispiel während des CD-Booms in den 80er Jahren – miterlebt haben.
Für uns sind es oft nur Fußnoten in den sozialen Medien – wieder einmal muss ein Klassikmagazin sein Erscheinen einstellen, wieder gibt es eine Website weniger. Es gibt immer weniger Laienchöre- und Orchester und manche Opernhäuser erleben massiven Zuschauerschwund, vor allem die, die allein auf das bewährte Repertoire setzen. Sponsoren und Förderer brechen weg, weil sie zunehmend weniger Bezug zu Kultur haben. Noch nicht einmal Bayreuth ist mehr ausverkauft. Wir lesen von Musikerinnen und Musikern, die aufgeben, und andere Berufe ergreifen (einige davon hat Brüggemann in seinem Podcast „Alles klar, Klassik?“ interviewt). Andere lassen sich – wie Teodor Currentzis – nachweislich von Diktatoren bezahlen, oder werden – wie der Cellist Matthias Moosdorf – im Bundestag populistisch aktiv. Die Situation für den musikalischen Nachwuchs ist, was die grundsätzliche Förderung angeht, in Deutschland keineswegs schlecht, nur fehlt zunehmend der Nachwuchs, da in den meisten Schulen der Musikunterricht zur Randnotiz verkommt (was Brüggemann in seinem Kapitel „Kaugummifach oder Menschwerdung“ beschreibt). Parteien wettern gegen den Fortbestand des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks und wollen diesen am liebsten abschaffen, was massive Konsequenzen für sowohl Klassik als auch hiesige Musik absolut aller Genres hätte. Kultur und Bildung sind überall unter Beschuss, genau von den Kräften, für die eine möglichst ungebildete Bevölkerung das größte Wählerpotenzial hat. Klassische Musik wird zunehmend in eine elitäre Ecke gedrängt, wird zum „Luxus“ degradiert. Sind wir darin auch ein bisschen mit Schuld? Haben wir es versäumt, relevanter zu sein? Oder ist die Forderung nach „Relevanz“ von Kultur vielleicht auch ein perverses Zeichen unserer Zeit, in der alles nur nach kommerziellem Erfolg befragt wird und es keinerlei Verständnis für andere Werte mehr gibt?
All diese Baustellen kann man sich vielleicht einzeln noch weglächeln, doch in ihrer Gesamtheit ergeben sie ein zunehmend beunruhigendes Bild. Brüggemann hält unerbittlich den Finger drauf und stellt die unangenehmen Fragen, wie zum Beispiel „Ist unsere Musikausbildung noch zeitgemäß?“ oder „Lässt sich die Musikförderung noch aufrechterhalten?“ und sogar „Was folgt auf das Ende der Musikkritik?“.
Da seine Fragen meistens unbequem sind, hat Brüggemann sich nicht nur Freunde gemacht. Der SWR hat ihn z.B. wegen seiner kritischen Berichterstattung über Currentzis schlicht und einfach gecancelt, obwohl es eigentlich einem öffentlich-rechtlichen Sender anstünde, diese Fragen auszuhalten. Man sollte nicht übersehen, dass Brüggemann oft den Kopf hinhält, wo andere sich nicht trauen, nachzuhaken. Dass es dringend eine journalistische Kontrollinstanz in der Klassik braucht, zeigen nicht nur die bizarren Vorgänge um die Intendanz von Uwe Eric Laufenberg, der aktuell gerade den Musikjournalisten Volker Milch öffentlich vorführen will, nur weil dieser über die vielen Skandale an seinem Haus schrieb.
Brüggemann versteht aber sehr wohl, dass es nicht reicht, nur Fragen zu stellen. Daher endet das Buch in einem von Hoffnung geprägten Kapitel mit „45 Denkanstößen“, 9×5 Thesen über mögliche Auswege aus der momentanen Situation. Wenn man das liest, wagt man zu hoffen, dass die vormals verstaubte klassische Musik vielleicht einmal wieder zu dem Ort werden könnte, an dem gesellschaftlich interessante Debatten stattfinden. Denn da so viele Kräfte an ihrem Untergang interessiert zu sein scheinen, muss sie enormes aufklärerisches Potenzial haben.
Und genau deswegen ist es wert, sie zu erhalten.
Moritz Eggert
Komponist
Danke für den Artikel, und das Buch ist wirklich lesenswert!
Über die Problematik der gesellschatlichen Relevanz denke ich viel nach. Was kommt zuerst, das Ei oder die Henne? Ein Tabuthema z.B. bekommt man schwer auf die Bühne, es ist eben ein Tabuthema. Aber weil es ein Tabuthema ist, ist es eigentlich gesellschaftlich relevant. Oder ist ein gesellschaftliche relevantes Thema ein Thema, über das alle irgendwie mitreden können? Und aus welcher Perspektive sollte das Thema behandelt werden?
Die Oper über Malcolm X von Anthony Davis wurde ja 2023 als gesellschaftlich relevante zeitgemäße Oper an der Met gehandelt, aber geschrieben wurde es bereits 1985/86. (Auch deshalt ist es so toll, dass „Die Letzte Verschwörung“ von Moritz Eggert auch 2024 in der 2. Saison noch zu sehen ist – unbedingt hingehen!)
Bei Instrumentalmusik kommt noch hinzu, dass die Musik ohne Worte und ohne Handlung auskommen muss. Sie ist diesbezüglich also abstrakt, auch wenn sie sehr direkt emotionell berührt. Und gerade das ist die Stärke der Musik.
Bei Konzerten um „gesellschaftlich relevanten Themen“ erlebe ich oft, dass dem Konzert ein Vortrag von oder eine Diskussion mit „Fachpersonen“ bzw. „Aktivisten“ zum Thema vorangestellt wird. Das hat natürlich den Vorteil, dass die Besucher über das Thema inhaltlich informiert werden. Dadurch wird die Musik dann doch irgendwie zum Beiwerk. Dabei kann die Musik viel mehr und für sich sprechen.
Ein anderes Problem ist, dass man – nur weil man sich für das Thema interessiert – sich nicht unbedingt mit dem Musikstil des jeweiligen Werks anfreunden kann. Ein Klimaschützer z.B., der keine Neue Musik mag, kann mit einer Neue Musik Komposition über Klimakatastrophe nicht unbedingt viel anfangen. (Ich fand mal persönlich einen Pop-Song, der speziell für eine Aktion gegen Gewalt gegen Frauen komponiert wurde, musikalisch unerträglich langweilig – auch wenn ich den Sinn und Zweck der Komposition durchaus gut verstand und befürwortete.)
Das ist auch ein Moment, wo ich das Feuilleton vermisse. Wo es keine Rezension gibt, fehlt der Raum zur Nachbesprechung. Zusätzlich zu den Problemen wie Finanzierung, die im Buch thematisiert wird, gibt es bei „gesellschaftlich relevanten Themen“ die Schwierigkeit, was denn überhaupt der Kritiker besprechen soll. Er soll ja in erster Linie die Musik und die Aufführung besprechen, er ist ja die Kulturredaktion und nicht die Redaktion „Politik“ oder „Gesellschaft“. Kann und soll er dies aber ohne das Wissen über das Thema machen? Und ist der Leser klug und differenziert genug, um zu verstehen, dass es durchaus sein kann, dass er das Thema wichtig findet, die Musik schlecht? Oder die Musik gut, aber die Botschaft der Musik blöd?
Die „Politik“, „Geselslchaft“ oder die „Wirtschaft“ Redaktion wäre vielleicht die passendere Redaktion, wenn es um die Thematisierung des Themas an sich ginge. Über Klimaschutz, Migration usw. kann man ja auch ohne den Umweg einer Musikrezension schreiben. Dann bräuchte es aber kein Kunstwerk.
Jedenfalls wäre es gut, wenn man nicht 50 Jahre warten müsste, bis die Musik, welche die heute aktuellen Themen behandelt, gesellschaftsfähig wird.
Das Buch, ebenso wie die ganze Diskussion um dieses Thema, geht von der falschen Prämisse aus, dass Relevanz von Kunst irgendetwas mit den Institutionen zu tun hätte. Relevanz kann nur aus dem Ästhetischen selber kommen. Wenn Kunstwerke eine Austrahlung entwickeln, bildet sich darum ein Ökosystem an Aufmerksamkeit, das dann auch in die institutionellen und medialen Systeme ausstrahlt. Umgekehrt funktionert das nicht. Deswegen sind die Vorschläge von Herrn Brüggemann zwar ehrenwert doch völlig vergeblich.