Titanic Rising

Titanic rising

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von Jobst Liebrecht

 

 

Während Udo Lindenberg für sein Orchester flapsig den Slogan prägte „Keine Panik auf der Titanic“, bleibt das gesunkene Riesenschiff für die Mehrheit unter uns doch immer ein mythisches Gleichnis. Nicht nur für menschliche Hybris und menschliches Versagen bei der Beurteilung von Eisblöcken, deren größter Teil bekanntlich unter Wasser liegt – nein, vielmehr auch ein Gleichnis dafür, dass überhaupt alles Schaffen der Menschen letztendlich Schiffbruch erleidet, hinabsinkt in die ewigen Tiefen der Ozeane. Angesichts der Folgen des Klimawandels ein hochaktuelles Gleichnis.

 

Aber nicht nur vom Schaffen der Menschen reden wir hier, sondern auch von der Liebe. Hierfür brannte sich das Finale des gigantischen „Titanic“-Blockbusters von 1997 ins kollektive Gedächtnis. Die umwerfende Jugendlichkeit voller Emphase und Strahlkraft von Leonardo di Caprio, wie er sich inmitten grauer Fluten des Eismeers untergehend von Kate Winslet auf immer verabschiedet. Romantischer geht es nicht.

 

Auch Natalie Mering alias Weyes Blood wird da als Jugendliche im Kino geweint  haben. Um Jahre später um diese mythischen Bilder herum und durchaus in kritischer Absetzung zu ihnen ein ganzes Album zu bauen, das von ihr den pointierten Titel „Titanic rising“ bekam. Kurz vor der Pandemie 2019 erreichte sie damit ihren internationalen Durchbruch und wurde während der Isolation der Pandemie für viele Musikliebende mit diesem Album zur seelenstützenden Begleiterin.

 

Zentraler Song, piéce de resistance in der Mitte ist „Movies“, eine Hymne auf das Kino – sowohl auf die dort sich ausdrückende  Fähigkeit der Menschen zur überhöhenden Phantasie als auch zum Irrbild, was  problematisiert wird: „The movies I watched when I was a kid / The ­hopes and the dreams / Don’t give ­credit to the real things“. Natalie Mering ist als Filmregisseurin fast genauso toll wie als Komponistin und Liederschreiberin und hat ihren eigenen Song kongenial in ein Video übersetzt:

 

 

Die KinozuschauerInnen tauchen hier in die Wellen der „Movies“ wie in einen Strom des Unterbewussten. Sie finden unter Wasser Befreiung, Überraschung, Lösung. Sie springen in den Film hinein und durchbrechen dafür die beengende „dritte Wand“ der Kunst. Im Stück gibt es dann einen radikalen Klangwechsel von dem fulminanten Synthesizer- zu einem realen Streicherarpeggio, und die Handlung verlegt sich vom Unter-Wasser-Schwimmen in die reale Oberwelt der Berge um Los Angeles. Es wird aufgetaucht.

 

Ich könnte mir vorstellen, dass Weyes Blood ihre größten Fans unter denjenigen hat, die auch einmal in ihrem Leben einen wirklichen Schiffbruch erlebt haben. Oder unter denen, deren Leben sich mitunter wie unter die wassergefüllte Glocke einer Depression zurückzieht. Und unter denen, die trotzdem immer wieder auftauchen.

 

Das Cover des Albums liefert dafür ein Bild. Es zeigt Natalie Mering unter Wasser durch ihr Jugendzimmer schwimmend, wie sie gleichzeitig nach oben ins Licht blickt.

 

( Zur Entstehung der höchst artifiziellen Cover-Fotos gibt es eine skurril unterhaltsam-ausführliche Doku über das Unter-Wasser-Bühnenbildnern und Fotografieren in einem großen Swimming Pool hier zu sehen:  )

Das Unter-Wasser-Sein kann dabei , wie das Jugendzimmer hier zeigen will, auch Geborgenheit, einen kreatürlichen Ur-Zustand vermitteln, der für die Entstehung wie für die Rezeption dieser Musik sehr wesentlich ist. Was in der intellektuellen Musikkultur manchmal kritisch beäugt wird, das „Ausbaden“ in der Musik, das „Ausufern“, das „Herum-Mäandern“ , das ist für Natalie Merings Melodien nämlich konstitutiv.

 

Diese Melodien schaffen etwas sehr Bemerkenswertes: Alle summen und singen innerlich ihre Musik mit, ohne dabei eigentlich diese Melodien in den Griff bekommen zu können. Man kann sie sich im realen Bewusstsein schlecht merken. Sie bleiben immer ein Stück weit abstrakt. Sie sind nicht sehr fasslich, und trotzdem wirken sie sofort faszinierend.  Der Melodie- und Formaufbau wird in ihnen meistens überflutet. Es kommt ständig zu Unregelmässigkeiten, vorgezogenen Betonungen, überraschenden Fortführungen. Es bildet sich immer wieder der Eindruck von einer unendlichen Melodie, die sich ewig fortträgt, und wo jederzeit wieder an nahezu jeder Stelle erneut angeknüpft werden kann. Grundlage hierfür sind die Liedgedichte, die Texte, ihre rhapsodisch-freie Form.

 

Häufig werden kleine, unscheinbar und belanglos wirkende Liedanfänge, einzelne Liedfloskeln unversehens erweitert in immer neue Wellen und Fluten. Explizit bei dem plötzlichen, großartigen Melodieaufschwung in „Something to believe“ zu dem Text „And at night/ I just laid down and cried/ The waters don’t really go by me“ oder ebenso eindrucksvoll in „Wild time“, wo alles mit der kleinen Zeile beginnt „Look around / There’s nothing left to keep“ und einem einfach in der Luft herumhängenden Ton, und wo dann mit jeder neuen Refrainzeile „Don’t cry, it’s a wild time to be alive“ sich immer neue kathedralenhafte Klanggebilde darauf aufbauen.

 

La cathédrale engloutie ( Claude Debussy ).

 

Dieses liegt zum großen Teil an der Behandlung des musikalischen Materials, der Tonfolgen und Rhythmen selbst, zu einem Teil aber auch an dem meisterhaften Einsatz begleitender elektronischer Instrumente: zischend, blubbernd, gleißend, wirbelnd, den Klang wie unter Wasser verzerrend…

 

… oder auch Klänge von Walgesängen hineinmontierend. Witz hat die Künstlerin also auch. Und man muß es auch düsteren Witz nennen, wenn sie als letzte Nummer des Albums eine kurze Streichervariation über den Choral „Nearer to Thee“ anfügt als Aufrufung des legendären letzten Stückes, das die Kapelle auf der „Titanic“ während des Untergangs gespielt haben soll.

 

Es ist so symbolisch, dass die Titanic an einem Eisberg zerschellte und nun geht dieser Eisberg mit der Zivilisation unter“ ( Natalie Mering in einem Interview )

 

Wahrlich, wir leben in anderen Zeiten. Längst Vergangenes kommt wieder empor. Wir schippern nicht mehr fröhlich in einem „Yellow Submarine“ durch die Weltmeere. Wir starren auf das Wrack der Titanic in 4000 Metern Tiefe mit unseren Infrarot-Digitalkameras und 8K-Videos. Wir schicken unsere U-Boote dorthin.  Touristen-Expeditionsteams tauchen dorthin und scheitern tödlich. Mitten im Eismeer. Weyes Blood benennt die Lage lapidar „Heaven found that life went down/Everyone’s broken now and no one knows just how/ We could have all gotten so far from truth“. Alle Vernunft sagt uns, dass der riesige Koloss da unten auf ewig so liegen bleibt. Aber was hat heute und in Zukunft noch Bestand?

 

( Jobst Liebrecht, 7. 11. 2023 )

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