Abstrakt und Recherche – aDevantgarde mit Ensembledoppel
Nach dem Auftakt eine Woche zuvor setzte das Münchener aDevantgarde-Festival sein Programm am Samstag, dem 24. Juni, mit einem Konzert im schwere reiter fort. Zu Gast waren gleich zwei hochklassige Ensembles: das Trio Abstrakt aus Köln und das Freiburger ensemble recherche.
Durch eine Seitentür gelangte man in eine begehbare Klanginstallation. Im ersten Raum das Saxofon, Lautsprecher, dann im Hauptraum Schlagzeug und Klavier. Zum Zuhören hatte man bei diesem gefühlten Boardingprozess jedoch nur wenig Zeit: Um fünf nach sollte man schon seinen Platz eingenommen haben. Beim ersten Stück „Poly-Momente“ von Jakob Stillmark waren vor allem zwei Momente zu registrieren: die in sich loopende Installation und der Übergang zum ersten Bühnenstück des Abends. Doch verstand ich diese Aufteilung nicht sofort, ich hätte der Installation gerne noch etwas länger gelauscht.
Bei der folgenden Begrüßung von Alexander Strauch wurde mir das nicht gelesene Programmheft zum Verhängnis. Das angekündigte „Paua“ von Kathrin Denner entpuppte sich nicht etwa als geballte Energie („power“), sondern vielmehr als eine träumerische Klanglandschaft, betitelt nach dem satten Blau einer Muschel aus dem Pazifischen Ozean.
Noch flüchtiger und nur schemenhaft erschien danach das Solo für Baritonsaxofon von Evan Johnson, der in „Largo calligrafico / ‚patientiam’“ (unhörbar) ein Tenorlied Ludwig Senfls eingearbeitet hatte. Leider war das gefühlvolle Spiel von Salim Javaid allzu schnell vorbei.
Auch die ruhigen Momente hatten nun ein Ende: endlich Musik mit Ecken und Kanten! Philipp C. Mayer morphte in seiner „Deconvolution Study #1“ aufgenommene und live gespielte Klänge ineinander. Snare Drum, piepender Synthesizer, spitze Klaviertöne und ein teils schnatterndes Saxofon, was eine Reihe vor mir zum Lachkrampf führte (warum bitte?); insgesamt hätte der Klangmix sogar noch drastischer ausfallen dürfen.
Extrem wurde dann das Ende der ersten Konzerthälfte. Die „Edges“ von Franck Bedrossian erforderten zwar erst eine Umbaupause, fast alle Schlagzeugflächen mussten in Alu gewickelt werden. Doch lohnte sich das Warten: Marlies Debacker und Shiau-Shiuan Hung erzeugten als Duo die Power, die ich zu Unrecht bereits nach der Begrüßung erwartet hatte. Der dichte Sound aus dem Klavierinnenraum und der metallischen Schlaginstrumente übertrug sich nicht einfach nur als Noise, wie es oft bei musique saturée der Fall ist. Die präzise gearbeitete Dramaturgie ergab einen Sog, dem man automatisch folgte. Beim Applaus wischten sich die Musikerinnen erstmal den Schweiß von der Stirn.
Die zweite Hälfte des Doppelabends gestaltete daraufhin das sechsköpfig angereiste ensemble recherche. Es begann das Holzbläsertrio mit „Im Rauschen 1“ von Simon Steen-Andersen. Ein (zumindest beim ersten Hören) faszinierendes Stück, denn die Holzbläser erkannte man kaum wieder: Schumann-Melodien waren leise zu vernehmen durch die Instrumentalkörper von Flöte und Klarinette sowie die Mundhöhle des verkabelten Oboisten (ohne Oboe).
Zwei Stücke blieben danach etwas unter dem Radar: Vorbei plätscherte etwa Yang Songs „Petrichor II“; betitelt nach dem feuchten Geruch eines längeren Regenschauers, den ich allerdings nicht wahrnehmen konnte. Und als kurzes Intermezzo hatte das Ensemble außerdem mit „Notturno Amoroso“ von Cornelius Schwehr eines der Liebeslieder aus dem recherche-Repertoire im Gepäck.
Mit ihren „Nebensonnen“ erinnerte Lisa Streich daraufhin an Helmut Lachenmann, der tatsächlich ein paar Tage zuvor in München bei musica viva präsent war. Die Coda mit Schubert-Zitat begleitete hier ein instrumental-intimes Bild: Zwei Rücken an Rücken stehende Streicher, Sofia von Atzingen an der Bratsche und die Geigerin Lilli Felicia Schmitt, die Melise Mellinger vertrat und der man nicht anmerkte, dass sie sich erst mitten in ihrem Studium befindet.
Nach den Nebensonnen ging die Reise noch weiter zur wirklichen Sonne: Tatsächlich mit zarten Lachenmann-Klängen komponierte Henrik Ajax sein neues Ensemblestück „innen, Sonne – eine Fantasie“. Mit einem wunderbar ausbalancierten Werk, dank ausgefeilten Spieltechniken und einer nachvollziehbar konzipierten Form, kam der Teil des ensemble recherche zum Ende.
Zum Schluss warf Alexander Strauch die Ressourcen des Abends noch einmal in einen großen Topf. Endlich spielten die beiden wunderbaren Ensembles zusammen, allerdings getrennt voneinander in den Räumen, die auch von der Installation gefüllt wurden. „Frei nach Derrida: Mit Marx‘ Gespenstern reden“ erinnerte zurück an den Konzertanfang, doch auch noch darüber hinaus, es ging um die Kommunikation mit der Vergangenheit. Schließlich sah man sich im 19. Jahrhundert wieder, die Ensembles fanden über das Kopfmotiv aus Schumanns Geistervariationen zusammen. Wie in dessen zweiter kanonischer Variation überlagerten sich nun die Ton- und Zeitebenen.
Adrian Nagel ist Komponist und Musiktheoretiker. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit unterrichtet er in Lehraufträgen an der HfMDK Frankfurt und an der Hochschule für Musik Freiburg.
Adrian Nagel
Adrian Nagel ist Komponist und Musiktheoretiker. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit unterrichtet er in Lehraufträgen an der HfMDK Frankfurt und an der Hochschule für Musik Freiburg.