Rückkehr
Tagebuch der Wörter (23)
Rückkehr
So langsam geht es wieder los mit dem Konzertleben (und die Betonung liegt auf „langsam“). Wenn man mal von Masken und 2G, 3G oder 1G-Regelungen absieht (die in jedem Bundesland anders sind und auch in den Locations vollkommen unterschiedlich gehandelt werden) ist es inzwischen größtenteils wieder möglich, ganz normal ins Kino, Konzert oder Theater zu gehen, vielerorten mit voller Auslastung. Sogar vorsichtige Politiker reißen sich inzwischen zu Aussagen hin, die eine vollkommene Normalität im nächsten Frühjahr versprechen, vorausgesetzt die meisten in D sind geimpft und es kommen keine überraschenden Mutationen auf.
Was den generellen Verlauf der Pandemie angeht, so kann man inzwischen auch schon immer sicherer sagen, dass ständig gescholtene Experten wie z.B. Drosten mit ihren Prognosen immer ziemlich richtig lagen, wogegen die üblichen Verschwörungswürste wie Wodarg und Bhakdi sich inzwischen in einen Bereich der Unseriosität begeben haben, der sie noch dümmer aussehen lässt als sie ohnehin schon sind. Wenn alles so läuft, wie es sich im Moment ankündigt, wird die Pandemie im nächsten Frühjahr keineswegs weltweit „vorbei“ sein, wie viele hoffen, aber sie wird im öffentlichen Leben keine Rolle mehr spielen. Die weniger sexy Wahrheit dahinter wird sein: wir werden dann durch Impfungen und steigende Grundimmunität keine dramatischen „Wellen“ mehr erleben, aber es werden weiterhin viele Menschen mit Covid-19 zu tun haben und auch daran sterben. Es wird aber dann an jedem selbst liegen, die Risiken einzuschätzen, ein Luxus, den man im Rest der Welt nicht überall haben wird, wo man weiterhin Impfstoffmangel und Ausbrüche erleben wird, vielleicht noch viele Jahre lang.
Die von vielen sensiblen Künstlerinnen und Künstlern gefürchtete ewige „Corona-Diktatur“ mit dem ominösen Ziel einer angeblichen „Vernichtung der Kunst“ blieb komplett aus, stattdessen litt die Kultur wie viele andere Sparten unter Corona, erlebte aber auch viele Hilfsmaßnahmen, die bis heute andauern. Kultur genoss bei diesen Hilfen in unserem Land einen Stellenwert, der weit über den vergleichbaren Hilfsmaßnahmen der meisten Länder auf diesem Planeten lag und liegt. Aber einen endgültigen Vergleich wird man erst nach der Coronakrise ziehen können – meine Vermutung ist, dass da manche staunen werden, die unserem Land seit Anderthalb Jahren maximale Kulturfeindlichkeit unterstellen. Aber selbst die großzügigste Hilfe kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es viele Musikerinnen und Musiker sehr, sehr hart getroffen hat. Es gab Karriereenden, Studienabbrüche, persönliche Krisen und Katastrophen.
Umso größer sind die Hoffnungen, die wir alle in den „Neustart“ gesetzt haben. Was haben wir uns nicht alle darauf gefreut! Viele haben vermutet, dass die Menschen- kaum, dass es erlaubt ist – wieder in Massen in die Konzertsäle und Philharmonien stürmen werden, ausgehungert nach Hochkultur und den damit verbundenen Emotionen. Doch…ist es wirklich so?
Die Zeichen mehren sich, dass nicht. Es ist immer schwierig, sich aus persönlichen Erfahrungen, Hörensagen und Erzählungen von anderen ein genaues Bild zu machen, aber es scheint so zu sein, dass ein Teil des Publikums nach wie vor wegbleibt. Nicht überall, nicht in allen Situationen, aber gerade dort, wo es vorher „normal“ war, sind die Besucherzahlen nicht auf dem Niveau von vor der Krise.
Erklärungsmodelle hierfür gibt es viele. Ja, Coronatote waren vor allem in den älteren Semestern zu finden, aber waren da so viele Klassikfans darunter? Ja, einige Menschen sind nach wie vor zögerlich, sich in öffentlichen Räumen zu bewegen, aber sind das wirklich so viele, die deswegen nach wie vor fehlen? Ja, einige wollen sich nicht umständlich testen lassen vor einer Kulturveranstaltung und haben sich an Netflix und Streaming gewöhnt, aber müssten dann nicht auch in anderen Kulturveranstaltungen dieselben leeren Stühle auftauchen?
Irgendwie scheint es noch nicht so glatt zu laufen, das Feedback bekomme ich von überall, auch aus dem Ausland. Riesenevents mit Stars sind weniger betroffen, eher der ganz normale Betrieb, das ganz normale Abo. Aber das gibt zu denken: wie wird es Stars in der Zukunft geben können, wenn der normale Klassikbetrieb es nur noch mit einem Bruchteil der gewohnten Auslastung zu tun hat? Der unspektakuläre aber unglaublich wichtige Grundpfeiler unserer Musikwelt ist das ganz normale Symphoniekonzert, die ganz normale Opernaufführung, nicht die Premiere in Bayreuth oder der rote Teppich in Salzburg. Ist Klassik vielleicht nicht mehr zeitgemäß? Ist klassische Musik nicht mehr das gewohnte Trostmittel, mit dem man den zunehmenden Krisen und Herausforderungen unserer Zeit begegnen kann? Oder braucht es vielleicht noch ein bisschen Zeit, bis wieder Leben in die Bude einkehrt?
All diese Fragen kann man im Moment schwer beantworten. Die große Frage „wird es so werden wie früher?“ hängt unbeantwortet im Raum, und man ist nicht so sicher, ob man diese Frage wirklich mit „Ja“ beantworten will. Oder ob es nicht doch eine Art Umdenken im Klassikbetrieb geben könnte – eine größere Hinwendung zur Jugend, zu Musik von Heute, zu Themen, die einem heutigen Publikum mehr sagen als die immer gleichen romantischen 19. Jahrhundert-Themen, die immer anachronistischer wirken in unserer Zeit? Das ganz bestimmt. Oder auch zu einer neuen Vermittlung der ebenso wichtigen Tradition, die auf gewohntem Weg anscheinend nicht mehr so gut funktionierte in den letzten Jahren, vielleicht auch aus Konkurrenz zu anderen, schnelleren Medien?
Wir werden sehen, was passiert. Ich bin auf jeden Fall sicher, dass die Corona-Krise die bis dahin eher schleichenden aber dennoch stetigen Veränderungsprozesse in der Musikszene dramatisch beschleunigt hat. Und dass die klassische Musik im Jahre 2030 nicht mehr dieselbe sein wird wie im Jahre 2020.
München, 23.9.2021
Die Rückenschmerzen sind nun einer leichten Erkältung gewichen, etwas mühsam schleppe ich mich gerade durch die im Grunde harmlosen Lauftrainingseinheiten, die ich in Vorbereitung auf den doppelten Halbmarathon dieses Wochenende absolviere. Na, das kann ja was werden. Herr Murakami würde mich trotz höherem Alter immer noch locker überholen, fürchte ich (nichtsdestotrotz würde ich gerne mal mit ihm laufen). Mein lieber Coach Doug Stewart verbringt viel Zeit damit, meine Auswertungen zu studieren, die ihm teilweise Rätsel aufgeben. Anscheinend bin ich nicht so leicht zu lesen.
Immerhin macht es wieder sehr viel Spaß, Klavier zu üben – kann man auch mal wieder machen.
Komponist