Überkommene Strategien der Neuen Musik (1): Akademische Anbindung
Überkommene Strategien der Neuen Musik
Kunst braucht niemand, aber ohne Kunst ist das Leben sinnlos. Wie Frederick die Maus haben sich Künstler daher zu allen Epochen Strategien angeeignet, die ihrem Wirken eine gewisse Anbindung an gesellschaftliche Strukturen und Strömungen ermöglichte. Damit gelang es ihnen ihre Ideen und Kunstwerke überlebensfähig zu machen.
In der Geschichte der Musik gab es zahllose solcher Strategien. So waren die frühen Polyphoniker eng an die Liturgie und die kirchliche Gesangstradition angebunden, denn nur diese Bindung an eine mächtige und dauerhafte Institution konnte ein Überleben ihrer Kunst in gesellschaftlich unsteten Zeiten sichern, ebenso wie das Wissen Europas die Klöster brauchte, um Seuchen und Kriege zu überleben. Später wurde dagegen eine Anbindung der Musik an den Adel immer wichtiger, um die Synergien konkurrierender Fürstenhäuser zu nützen (die das Wirken von Künstlern brauchten, um sich zu schmücken und zu profilieren).
Jede Zeit braucht neue Strategien, und was einmal gewinnbringend und richtig war, muss es 100 Jahre später nicht sein.
In der folgenden Artikelserie untersuche ich daher 5 Strategien der Neuen Musik, die vor 100 Jahren absolut richtig waren, heute aber nicht mehr funktionieren. Dennoch entschließen sich nach wie vor viele, die alten Strategien weiter zu befolgen, was kurzsichtig ist. Ein Umdenken ist notwendig.
Zu früheren Zeiten gab es den akademischen Kompositionsunterricht faktisch nicht. Kompositionslehre wurde wie ein geheimes Handwerk von Meister zu Lehrling weitergegeben, eine Art Geheimwissenschaft, die nur Eingeweihten verständlich war. Mit dem Aufkommen des Bürgertums im 19. Jahrhundert verbesserte sich der Bildungsstand der Bevölkerung dramatisch, und die ersten Konservatorien entstanden. Für Komponisten entstand nun eine neue Einkommensmöglichkeit als angestellte Lehrkraft, was schon Johannes Brahms und Clara Schumann dankbar nutzten. Mit der wachsenden Bedeutung der lehrenden Institutionen zu Zeiten der industriellen Revolution stiegen auch die Gehälter der Lehrkräfte. Kompositionsprofessuren wie zum Beispiel in Berlin oder Wien waren nun für namhafte Komponisten ebenso begehrt wie einstmals Anstellungen als Kirchen- oder Hofkomponist. Zudem ermöglichte das neue Unterrichtssystem nun Studenten aus einem größeren Bevölkerungsspektrum das Kompositionsstudium, die Idee einer “Kompositionsklasse” oder einer “Schule” entstand.
Es überrascht daher nicht, dass der permanent unter Geldnot leidende Arnold Schönberg eine solche Anstellung suchte, nachdem er eher erfolglos u.a. auch einen Anschluss an der damals aufkommenden Unterhaltungsmusik gesucht hatte (z.B. mit den “Brettl-Liedern”). Dass er nach einigen durch den Krieg vereitelten Fehlversuchen eine solche Stelle bekam und einen “akademischen Eros” entwickelte, der vor allem nach seiner Auswanderung in die USA weit ausstrahlte, erwies sich für seine Ideen einer neuen Musik als Glücksfall. Denn als die dunkle Zeit der Naziherrschaft anbrach, (während der jegliche künstlerische Entwicklung in Europa eine Art Stillstand erlebte) war eben diese akademische Anbindung Schönbergs genau der Rettungsanker, der ihm ein Überleben im Exil sicherte. In der akademischen Lehre war Schönberg hocherfahren und versiert, vermutlich auch aus einem autodidaktischen Minderwertigkeitskomplex heraus, und er stürzte sich begeistert in die Aufgabe, Scharen von jungen amerikanischen Komponisten mit den Ideen seiner Kompositionslehre vertraut zu machen.
Da amerikanische Universitäten kompetitiv kommerziell ausgerichtet sind, entstand eine Sogwirkung, denn zahlreiche weitere Exilanten mit ähnlichen künstlerischen Ideen wurden mit guten Gehältern an hochwertige Universitäten gelockt und prägen mit ihren Ideen – die sich durch Studenten verbreiteten, die ebenfalls wieder Professoren wurden – den amerikanischen akademischen Betrieb bis heute und mehr, als es sogar in Europa der Fall ist.
In diesem akademischen “Exil” konnten die Ideen Neuer Musik im Sinne Schönbergs die Nazi- und – Kriegszeit perfekt überleben, und vor allem wieder leicht – über Brückentheoretiker und ebenfalls Akademiker wie Adorno – in Europa installiert werden, als die Universitäten wieder langsam mit Nachwuchs bevölkert wurden.
Bis heute prägt daher vor allem die Schönbergsche Ästhetik den Begriff “Neue Musik”, wie er heute an Musikhochschulen unterrichtet wird. Die überaus erfolgreichen anderen Strömungen – vertreten von Künstlern wie z.B. Janacek, Britten oder Stravinsky – blieben daher trotz ihres jeweiligen großen Erfolges im akademischen Diskurs eher unterbelichtet. Janacek, weil man Tschechien von Zentraleuropa aus eher als Provinz empfand, Britten, weil er in der englischen Tradition der genialen Autodidakten ohne akademische Anbindung stand, und Stravinsky, weil er den geregelten Lehrberuf aus einem gewissen Dandytum heraus eher als unattraktiv empfand und nie regelmäßig Kompositionsunterricht gab.
Dass diese Nebenströmungen erst in jüngerer Zeit als wirklich gleichwertige ästhetische Wege erkannt werden (siehe “The Rest is Noise”) ist eine eher neue Entwicklung, was deutlich zeigt, wie überlegen die Schönbergsche Überlebensstrategie war.
Aber ist die Situation – knapp hundert Jahre später – tatsächlich noch dieselbe?
Tatsächlich mehrt sich bei vielen (auch bei mir) das Unbehagen, dass Komponieren oder das Erfinden von interessanter Musik eine rein akademische Angelegenheit sein muss. Immer mehr erfolgreiche Komponistenkarrieren sind “Quereinsteiger”, Studienabbrecher oder weichen den traditionellen Ausbildungswegen komplett aus. Auch hat sich gezeigt, dass sich ein Dünkel gegenüber nichtakademischer Musik als angeblich minderwertige U-Musik nicht mehr aufrechterhalten lässt in einer Zeit, in der z.B. ambitionierte Elektronik-DJs Inspiration in den Werken von Karlheinz Stockhausen und Steve Reich suchen, und keineswegs dem Kommerz oder der Massenanbiederung frönen. Diese beiden Komponisten sind übrigens auch Paradebeispiele für Komponisten, bei denen die Anbindung an akademische Strukturen schon kaum noch eine Rolle für ihren Erfolg spielte.
Das Bürgertum wurde von einer in ihren Interessen zunehmend diffusen Mittelschicht ersetzt, die sich nicht mehr in großen Scharen für z.B. traditionelle Hausmusik – wichtigste Verbreitungsbasis der klassischen Musik im 19. Jahrhundert – begeistern lässt. Andererseits ist die Erzeugung von Musik noch nie so einfach gewesen, wie im 21. Jahrhundert, und jeder Komponist konkurriert mit Legionen von Hobbyenthusiasten, die mit ein paar Mausklicks immer perfektere Orchester- und andere Klänge zur Verfügung haben und sich schnell auch ohne traditionelle Ausbildung für neue Mozarts halten.
Natürlich bleibt die Frage weiterhin: wo entsteht Kunst und nicht Kunsthandwerk. wo wird Neues gedacht und ästhetisch experimentiert?
Welche Strategie für neuartige Kunstmusik im 21. Jahrhundert die erfolgreichste sein wird, wird sich noch erweisen. Ich vermute, dass Oasen von “Craft Music” entstehen werden, die sich um bestimmte Stile und musikalische Vorgehensweisen sammeln werden, bei denen weiterhin fortgeschrittene Kenntnisse wie zum Beispiel Partiturlesen oder Notenschrift eine Rolle spielen werden, nun aber wieder öfters autodidaktisch erlernt, was im Zeitalter des Internets auch leicht möglich ist. Es wird weiterhin Schlüsselfiguren wie Schönberg geben, diese werden sich ihre Schulen aber eher über internationale Netzwerke bilden, die nicht mehr alleine an eine Institution gebunden sind, sondern sich mittels youtube, soundcloud und anderen Plattformen verbreiten werden. Schon jetzt ist ein anständiger wikipedia-Eintrag wesentlich wichtiger für eine Komponistin oder einen Komponisten geworden, als eine anständige Professur.
Eines ist daher sicher: die Rettung wird diesmal nicht in einem sich Verlassen auf allein akademische Strukturen liegen. Musikhochschulen müssen umdenken. aber auch diejenigen, die bisher an diesen studierten müssen umdenken, oder tun dies schon längst. Dass das “draußen” sich verändert hat, ist an jeder Musikhochschule zu spüren, welche Schlüsse daraus gezogen werden, werden die kommenden Jahrzehnte zeigen.
Moritz Eggert
ALLE TEILE:
Teil 1 Akademische Anbindung
Teil 2 Komplexe Partiturbilder
Teil 3 Algorithmen
Teil 4 Elitäres Denken
Teil 5 Selbstverständnis
Komponist