Der Verlust der Wahrheit

Der Verlust der Wahrheit

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Es gehört zur Lebenserfahrung, dass Informationen nicht immer verlässlich sind. Ein Gerücht ist zuerst einmal ein Gerücht. Ein Zeitungsartikel kann tendenziös sein, ein Text Unwahrheiten enthalten. Bilder haben in unserer Wahrnehmung eine größere Überzeugungskraft, aber natürlich können Bilder ebenso lügen. Werden all diese Mittel kombiniert – zum Beispiel in einem Video, in dem etwas gesagt, gezeigt und hörbar gemacht wird – nimmt aber unsere Manipulierbarkeit dramatisch zu.

Daher überrascht es nicht, dass so viele Menschen auf Unwahrheiten im Netz hereinfallen, welches uns mit ständig wachsender Reizüberflutung an den Bildschirm bannt. Verschwörungserzähler sind inzwischen hochgewieft darin, ihre Videos mit Bildern und Filmschnipseln zu versehen, die „Echtheit“ suggerieren. Hierbei werden bewusst Methoden verwendet, die die Wahrheit verzerren – Politikerreden werden so geschnitten, dass ein ganz anderer Inhalt entsteht als der ursprünglich beabsichtigte, Musik und emotionales „Storytelling“ werden eingesetzt, um Glaubwürdigkeit zu suggerieren. Themen werden künstlich durch Präsentation aufgeblasen, um ihnen eine Scheinwichtigkeit zu geben. Der berüchtigte österreichische Verschwörungssender „Auf1“ benutzt z.B. eine den öffentlich rechtlichen Medien abgekupferte Präsentation, um seine Inhalte zu verbreiten – der Moderator Stefan Magnet tritt auf, als sei er bei den „Tagesthemen“ (er wäre es vermutlich gerne) und die aufgemotzte Studiokulisse (hier zum Beispiel exemplarisch in einer „Sondersendung“ zum „Bauernaufstand“ zu sehen) kann inzwischen ohne großen Aufwand am Computer auch von wenig talentierten Kräften hingefrickelt werden.

Ein Bekannter von mir fiel daher neulich auf eine Meldung herein, die besagte, dass in Amerika jetzt die Beteiligten an einer angeblichen „Impfverschwörung“ ganz offiziell vor Gericht kämen – in Wirklichkeit waren es aber nur ein paar abgedrehte republikanische Senatoren, die dies vor einer Handykamera forderten, im Video war es aufbereitet, als sei es eine politische Entscheidung von ganz oben.

Man traut also den ganzen Bildern schon lange nicht mehr, fällt aber dennoch immer wieder darauf herein. Das kann sogar umgekehrt funktionieren – so war ich zum Beispiel felsenfest davon überzeugt, dass die fehlgeleitete Palästina-Unterstützung von Greta Thunberg ein russischer Fake sei, gerade weil so viele darauf „hereinfielen“. Ausgerechnet das stimmte aber.

Wenn dann noch Satire hinzukommt, wird es noch komplizierter, vor allem, weil sie in einem Umfeld von zunehmend digitalisierten menschlichen Interaktionen immer weniger verstanden wird. Der Bad Blog brachte vor kurzem eine kaum verschlüsselte Parodie einer „gegenderten Zauberflöte“, auf die sich sofort rechte Influencer stürzten, die die Satire als solche nicht verstanden und für Wahrheit hielten. Nun wird es aber – und das ist kein Witz – tatsächlich eine neue Version der „Zauberflöte“ geben, die nicht mehr mit Zeilen wie „Weil ein Schwarzer hässlich ist“ provoziert.

Über KI wird im Moment viel geschrieben – nach dem ersten Enthusiasmus oder der übertriebenen Angst setzt allmählich auch Ernüchterung ein, wie sie z.B. Johannes Kreidler in seinem Kulturtechno-Blog anschaulich beschreibt. Was aber KI inzwischen immer unheimlicher und besser kann, ist die Manipulation von Bildern, auch bewegten. Vladimir Putin mag seine eigene Kopie noch als unwahr erkennen (wie jüngst bei dieser Propagandashow), aber im Grunde kann inzwischen jeder einigermaßen Computerbegabte solche Kopien herstellen. Noch unheimlicher sind inzwischen die Möglichkeiten des Sprachclonings, bei dem Tonfall und Sprechweise einer Person perfekt imitiert, aber ihr andere Inhalte in den Mund gelegt werden. Schon nutzen Verbrecher diese Technik, um sich am Telefon als Verwandte und Freunde auszugeben. Das mag alles im Einzelfall noch hölzern und wenig überzeugend wirken, die Technik schreitet aber rasant voran. Synchronsprecher:innen fürchten um ihren Job, da es schon jetzt theoretisch möglich ist, Leonardo di Caprio mit seiner eigenen Stimme und dem originalen Tonfall deutsch sprechen zu lassen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Technik überall für Liveübersetzungen eingesetzt werden wird. In der auf schon existierender Technologie basierender hervorragenden „Black Mirror“-Folge „Joan is Awful“ leihen Hollywood-Stars ihre ganze computergeclonte Persönlichkeit einem Netflix-artigen Konzern aus, der dann damit Serien und Filme produziert. Der „uncanny valley“ bei dieser Technik wird nicht mehr lange „uncanny“, sondern vollkommen „ordinary“ sein, schon jetzt wird sie auch von Laien für TikTok-Videos genutzt, bei denen die Grenzen von Realität und Virtualität immer schwerer zu trennen sind.

Das Resultat dieser ganzen Entwicklungen ist noch nicht absehbar, wird aber ganz sicher zu einer weiteren Erosion dessen beitragen, was früher als faktische Wahrheit empfunden wurde. Vielleicht ist es sogar so, dass unsere Epoche in die Geschichte eingehen wird als diejenige, in der das Postfaktische endgültig triumphierte.

Nun kann man endlos darüber spekulieren, ob es so etwas wie eine objektive „Wahrheit“ im philosophischen Sinne überhaupt gibt. Aber wir kennen sehr wohl die schädlichen Auswirkungen eines zunehmenden Realitätsverlusts, bei dem man keiner Quelle mehr traut und sich seine eigene Wahrheit zusammenbastelt.

Eine Meinung ist inzwischen kein Produkt eines analytischen Denkprozesses mehr, sondern ist schon vorhanden, bevor man überhaupt über etwas nachdenkt. Das Ei wird so zur Henne: Ich habe zuerst eine Meinung (meistens eher ein „Gefühl“ oder eine „Ahnung“), erst danach lasse ich mir diese Meinung durch Medien bestätigen, die mir von Algorithmen eilfertig zusammengestellt werden, um mich möglichst lange an den Computer zu fesseln. Meinung ist zum Lifestyle geworden, zu der sich Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie verpflichtet fühlen, das ist die fatale Attraktion der überall verfügbaren Kommunikationskanäle. In jeder google-Bewertung versichern sich User täglich ihrer eigenen Wichtigkeit – vorher erzählte man nur seinen persönlichen Freunden, wie man das Restaurant X fand, nun erfährt es die ganze Welt, ob es sie interessiert oder nicht. Es ist auch der Triumph des Individuums über die Vernunft – wie kleine Kinder ignorieren Flatearther zum Beispiel alle klar belegbaren wissenschaftlichen Argumente, stattdessen konstruieren sie ihre eigenen Fantasien mit vollkommen abstrusen Theorien, die sie sich gegenseitig bestätigen. Die Unwahrheit wird zu einer Art Kult, und eine zunehmende Anzahl von Menschen glaubt, dass auch das, was wir als Wirklichkeit erleben, ohnehin schon lange eine Computersimulation ist. Dafür gibt es sogar wissenschaftliche Argumente, zum Beispiel die Existenz der Lichtgeschwindigkeit.

Diese Wahrheitsverweigerung nimmt obszöne Züge an, wenn reale schreckliche Ereignisse zur Inszenierung umgedeutet werden, wie zum Beispiel die Erstürmung des Kapitols oder die Angriffe auf Israel oder die Ukraine. Da ist der Schritt zur Holocaustleugnung nicht mehr weit. Viele Menschen glauben auch schon lange nicht mehr daran, dass man je im All war, oder dass es einen Weltraum und Sterne überhaupt gibt.

Der Untergang der Wahrheit erzeugt also einen neuen Aberglauben, der fataler ist als jeder Irrglaube, dem wir dem Mittelalter aus der heutigen Perspektive andichten. Und er greift die Grundfesten einer Gesellschaft an, die eine gemeinsame ethische „Wahrheit“ benötigt, um überhaupt zu funktionieren, eine Wahrheit, auf die man sich in irgendeiner Form gemeinsam einigen muss.

Jeder, der auch nur ein bisschen nachdenkt, versteht, dass ein Staat Steuergelder braucht, um für das Wohl seiner Bürger zu sorgen. In der wirren Fantasie der „Reichsbürger“ wird dies aber in eine Art Raubrittertum umgedeutet, das die Bevölkerung „berauben“ soll. Die Reichsbürger leben also in einer „alternativen Wahrheit“, in der die Gesetze unseres Landes keinerlei Gültigkeit haben. Wie in einem steuer- und gesetzlosen Staat Bildung, Schulwesen und medizinische Grundversorgung garantiert werden können und wie man ohne Gesetze die Sicherheit der Bürger gewährleisten kann, wissen die Reichsbürger nicht, planen aber dennoch den Umsturz.

Auch in der Musik gibt es eine Art „Wahrheitsverlust“. Bis in die späten 80er Jahre hinein gab es zum Beispiel einen gewissen Konsens darüber, was „Neue Musik“ sei, es gab gewisse Leitbilder und sehr konkrete Vorstellungen davon. Aus heutiger Perspektive empfindet man diesen einstigen Konsens als dogmatisch.

Zufälligerweise zeitgleich mit dem Aufkommen von CGI in Filmen (auch der Beginn einer Wahrheitsverfremdung, auch wenn die ersten Versuche aus heutiger Sicht banal wirken) begann eine grundlegende Veränderung der „Szene“, die sich heute als aufgespaltene Landschaft von individuellen Ansichten und Stilen präsentiert, die kaum noch auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Selbst wenn gewisse Konzepte wie Spektralmusik oder New Complexity durch ihre Protagonisten eine gewisse Strahlkraft entwickelt haben, kann man von keinem dieser Stile behaupten, dass er als so allgemeingültig empfunden wird, wie es einst der Serialismus war, mit dem man sich gezwungenermaßen in irgendeiner Form auseinandersetzen musste. Es gibt heute hunderte, tausende Arten zu komponieren, und jede genügt sich irgendwie selbst.

Wenn heute Komponistinnen oder Komponisten einen Meisterkurs für Studierende geben, ist es immer weniger der Fall, dass hier eine allgemeingültige ästhetische Diskussion versucht wird, deren Ergebnisse auf die zeitgenössische Musik im Allgemeinen anwendbar sind. Stattdessen gibt es eher eine spezifische Vermittlung der Ideen eben dieser lehrenden Komponisten, die ihre eigene Sichtweise wie eine Art Produkt auf dem Markt anbieten. Die Folge dieser Entwicklung ist eine große Freiheit für die junge Generation, denen ein riesiges Angebot ästhetischer Enklaven zur Verfügung steht. Der große Nachteil ist aber, dass jede dieser Enklaven auch ein bisschen ihr eigenes Süppchen kocht.

Nun war es früher sicher auch so, dass um bestimmte kompositorische Strömungen eine Art Gruppenbildung entstand. Man rang aber immer um eine allgemeingültige „Wahrheit“, die auch dezidierte Gegenpositionen hervorbrachte. Für jeden Stockhausen gab es einen Britten oder Schostakowitsch. Heute ist es eher so, dass gar nicht mehr so getan wird, als gäbe es so etwas wie eine einheitliche Diskussion, man komponiert entweder auf eine bestimmte Weise oder nicht, und wenn nicht, zuckt der Lehrer die Achseln und fühlt sich dafür nicht zuständig. Eher so, als hätte man den falschen Handwerker zum Termin bestellt.

In dieser Entwicklung zu immer kleiner werdenden Gruppen mit ihrer jeweiligen eigenen „Wahrheit“ sind Parallelen zur Filterblasenentwicklung im Netz zu finden. Diese Filterblasen sind vollkommen austauschbar, weil sie sich in ihrer eigenen Interpretation der Welt selbst genügen.

Es ist zu spüren, dass der Verlust von gemeinsamen Werten massive Ängste auslöst. Unsere Gesellschaft reibt sich immer mehr an hitzigen und meistens vollkommen unnötigen Debatten über alle möglichen Themen auf, weil alle sich für Experten zu diesen Themen halten und jeweils die Deutungshoheit beanspruchen. Die gemeinsame Suche nach einem gesellschaftlichen wie auch künstlerischen Konsens ist aber nur möglich, wenn wir auch bereit sind, eine Deutung zu akzeptieren, die nicht nur auf uns persönlich zugeschnitten ist.

Aber um das möglich zu machen, müssen wir wieder an die Wichtigkeit einer gemeinsamen Deutung glauben. Und vielleicht auch wieder lernen, dass die Suche nach Wahrheit kein anpassbarer individueller Lifestyle ist, sondern Anstrengung benötigt und eigene Verunsicherung beinhalten kann. Wenn man im Strudel der Lügen verloren ist, wird die Wahrheit zum schockierenden Ereignis. Es gibt Fakten (wie zum Beispiel den menschengemachten Klimawandel oder die Kugelform der Erde) an denen man auch im Postfaktischen nicht vorbeikommt.

Oder anders gesagt: An den vielen kleinen „Wahrheiten“ lässt sich gehörig rütteln, an den großen und endgültigen nicht.

 

Moritz Eggert, 12.1.2024

 

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