Der große Umbruch der Oper

(Diesen Vortrag hielt ich am 27.6. in der Rheingoldbar der Bayerischen Staatsoper. Er richtet sich an ein Opernpublikum und nicht an ein Fachpublikum für zeitgenössisches Musiktheater. Daher möge man mir verzeihen, dass ich einiges ausführe, das Kennern der Materie redundant erscheinen mag.)

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Der große Umbruch der Oper

 

Sie haben es vermutlich noch nicht bemerkt, aber wir stecken mittendrin in einem bedeutenden der Operngeschichte. Er hat schon begonnen, er vollzieht sich in diesem Moment, und dennoch denken Sie vielleicht, dass ja noch alles beim Alten ist.

 

Wenn Sie auf den Spielplan der Bayerischen Staatsoper schauen, so sehen Sie das, was Sie als Opernliebhaber gewohnt sind. Da finden wir Stücke wie Salome, Cosi fan tutte, Boris Godunow. Alles beim Alten. Aber ganz heimlich haben sich auch andere Aufführungen eingeschlichen. Da steht zwar „Hamlet“ und man könnte denken, es ist ein altes Stück, aber es ist ein ganz neues Stück. Vor ausgewählten Abendaufführungen können Sie auch kurze Musiktheaterwerke hören, ganz umsonst, als eine Art Präludium. Auch diese Werke sind neu, und unter anderem von meinen Studierenden komponiert, darunter auch – nach wie vor eine große Seltenheit heute – eine Frau. Und diese junge Frau ist Chinesin, kommt also aus einem Land, in dem man das, was wir „Oper“ nennen, überhaupt erst seit ein paar Jahrzehnten kennt und aufführt.

 

Vielleicht sind einige von Ihnen darüber beunruhigt, was ich allerdings nicht glaube, denn sonst wären Sie nicht zu meinem Vortrag gekommen. Aber Sie wissen sicherlich, dass es viele Menschen gibt, denen diese Entwicklungen unheimlich sind, die am liebsten immer dieselben Stücke auf der Opernbühne sehen wollen, in möglichst traditionellen Aufführungen, mit den großen Stars dieser Welt, die man dann bitte auch auf keinen Fall dafür kritisieren darf, dass sie den Krieg gegen die Ukraine unterstützen oder sich von sanktionierten Geldgebern unterstützen lassen. Aber das ist ein anderes Thema.

 

Salome, Cosi fan tute, Boris Godunow, bis in alle Ewigkeit. Die großen Schlachtrösser der Oper – für viele Opernfans soll es ewig so bleiben, dass diese Stücke den Spielplan (und das ist faktisch momentan so) zu 95% bestreiten. Und am besten – bitte schön – in nicht zu „modernen“ Inszenierungen, oder gar – Gott bewahre – als „Regietheater“. Für viele Opernfans, für allem für die sehr konservativen unter Ihnen, ist das der größte Wunsch, dass ihre zivilisatorische Zuflucht mit Allem, was dazugehört, der Abendgarderobe, der schicken Bar, den Häppchen in der Pause, nicht gestört wird. Dass alles so bleibt, wie es war und ist.

 

Wir leben im Moment in einem Land, in der ein Teil der Bevölkerung allein aus dem Wunsch, dass doch bitte alles so bleiben solle wie früher, zu Protestwählern mutieren. Weil ihnen die Veränderung unheimlich ist. Und die nicht ahnen, dass dieser Protest eher zur Zerstörung von dem führen wird, an dessen Bewahrung ihnen liegt.

 

Aber ich bin gebeten worden, hier über die Zukunft der Oper zu sprechen, und als jemand, der selbst sehr gerne Opern schreibt und die Oper liebt ist das natürlich ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt. Es tut mir sehr leid, Ihnen das sagen zu müssen: wenn ich über die Zukunft der Oper spreche, dann spreche ich selbstverständlich über Veränderung. Diese bittere Pille müssen Sie schlucken, so leid es mir tut. Und dass sich Dinge verändern, ist leider ein Attribut der Zukunft, das wir nicht negieren können. Es wäre sogar schrecklich, wenn alles immer so bleiben würde, wie es ist. Die Oper hat die letzten Jahrhunderte nur deswegen überlebt, weil sie sich immer wieder neu erfunden hat. Daraus folgt logischerweise, dass ein Ende des Sich-Neuerfindens auch ein Ende der Oper bedeuten würde.

 

Wenn wir die Oper als Kunstform begreifen wollen, müssen wir einen Blick auf ihre Entwicklung werfen. Das ist sehr wichtig, denn nur, wenn wir die Geschichte der Oper wirklich verstehen, können wir daraus die gesicherte Erkenntnis ziehen, dass nichts so bleiben wird, wie es ist. Für mich ist das ein beruhigender Gedanke.

 

Ich mache mal einen vereinfachten kurzen Abriss: Am Anfang war die Oper ein blutjunges Genre und es gab keine Regeln, außer, dass man versuchte, etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen. Für mich ist das die unschuldigste und spannendste Zeit der Oper, und ich liebe Renaissance-Opern ganz besonders. Es gab keine Regeln, keine Orchestertarife und – verzeihen Sie mir – keine beleidigten Abonnenten. Es gab auch – und ich glaube, deswegen beneide ich diese Zeit ganz besonders – noch keine Kritiker und kein Feuilleton, wie wir es heute kennen. Ein Monteverdi zum Beispiel konnte wirklich machen, was er wollte. Ich beneide ihn! Seine Musik ist daher so frei, wie es sich selbst ein Busoni nur in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Frei wie ein Vogel, ein fliegendes Kind. Das einzige Problem für ihn war, dass er nicht wusste, welche Musiker bei jeder Aufführung anwesend sein würden, denn es gab keine Probenpläne und keine Handys. Also schrieb man flexible Partituren. Die Oboen waren nicht da? Dann übernahmen die Blockflöten den Job. Die Sängerin war krank? Dann arrangierte man einfach am Abend die Partitur neu. Man spielte bei Kerzenlicht, daher war jedes Konzert ein „Kerzenlichtkonzert“ – heute zahlt man bei einem bestimmten Konzertveranstalter extra Geld dafür.

 

Mit dem großen Erfolg der neuen Gattung begann schon gleich ihre erste große Wandlung. Die Barockoper ist etwas völlig anderes als die Renaissance-Oper. Plötzlich wird sich die Gattung ihrer selbst bewusst. Sie wird repräsentativer und zu einer Art allumfassenden Abendunterhaltung mit Showelementen. In der Barockoper kommt die Da-capo-Arie auf, die eine Art Kommunikation mit dem Publikum ist, vergleichbar vielleicht mit dem Applaus, der einem besonders gelungenen Jazz-Solo folgt. Gleichzeitig festigen sich die Formen, die Oper ist im Dienst der Kirche oder in den Diensten des Hofes, keine Eigeninitiative einer wilden Künstlergemeinschaft wie es die Florentiner Camerata war. Die Opern sind ewig lang – sie erinnern sich sicherlich, wie Sie in der Peter Jonas-Zeit stets die letzte U-Bahn verpasst haben, da die Händel-Oper noch nicht vorbei war – und man verbringt den ganzen Abend bei Speis und Trank und zum Teil auch mit Kurtisanen in einer Loge, ganz so wie es Mörtel Lugner gerne bis heute tun würde.

 

Die Oper der Klassik wiederum öffnet sich dem sogenannten „normalen“ Publikum, dass damals natürlich ein ganz anderes war als heute. Mozart schreibt nicht nur Opern für den Adel, er will auch das sogenannte „Volk“ erreichen. Und wie kein einziger Komponist vor ihm interessiert, er sich plötzlich für Nebenfiguren, fühlt sich in sie hinein und schreibt ihnen wunderschöne Arien. Es ist auch ein politisches Statement, dass die zum Teil schönsten Arien von Mozart von Figuren wie Leporello, Osmin oder Papageno gesungen wurden, keineswegs die Haupthelden der jeweiligen Oper, aber die Figuren, denen Mozart mit der größten Sympathie begegnet. Plötzlich wird die Oper sogar politisch, sie wird Anlass von Kontroversen, man versteckt Codes, die sich über den Adel lustig machen oder beschwört freiheitliche und damals sehr moderne Ideale, wie es Beethoven in „Fidelio“ tut.

 

Dann kommt der große Moment, in dem die Oper wieder eine neue Verwandlung erlebt, und das ist der Aufstieg des Bürgertums. Nach der französischen Revolution entreißt man der Kirche und dem Adel die Macht über die Oper. Die Bürger bauen ihre eigenen Opernhäuser, gründen ihre eigenen Orchester, und Oper wird endgültig zur großen Abendunterhaltung einer Bevölkerungsschicht, die tatsächlich mehr Freizeit hat als vorherige Generationen, und sich daher intelligenten Beschäftigungen wie Hausmusik und Opernbesuchen widmen kann, was tatsächlich wesentlich angenehmer ist, als sich gegenseitig umzubringen. Man kann es heute kaum glauben, aber der Klavierauszug von Wagners „Meistersinger“ hatte physische Verkaufszahlen, die mit einem Harry Potter-Roman gleichzusetzen sind, wenn man sie auf die heutige Bevölkerungszahl hochrechnet.

 

Menschen gingen also nicht nur in die Oper, sie hatten einen gigantischen Informationsbedarf darüber. Sie besorgten sich Partituren und spielten vierhändige Bearbeitungen zuhause. In Zeitschriften wie der von Schumann begründeten „Neuen Zeitschrift für Musik“ wurde leidenschaftlich über Musik diskutiert und die Oper war endgültig mitten in der Gesellschaft angekommen. Und das nicht nur im Bürgertum, sondern auch im Volk. Wie Sie wissen, war Italien damals die führende Nation, was Opern anging. Jedes Dorf hatte ein Opernhaus, und der Bedarf nach neuen Opern war gigantisch. Den berühmtesten Komponisten wurden die Partituren geradezu aus der Hand gerissen, und sie konnten – wie zum Beispiel Verdi und seine Verleger – ein durchaus gutes Leben führen. In diesem Kontext ist ein Richard Wagner sogar fast rückschrittlich, wenn auch musikalisch fortschrittlich, denn er will die Oper wieder zum archaischen Mythos führen, was nur mit der Unterstützung des Adels – also dem Kini – gelingt. Aber der Kini war schon kein Herrscher des alten Stils mehr, sondern selbst eine Art Bürger, allerdings mit großer Sehnsucht nach der Macht der Imagination und einem größeren Bankkonto.

 

Was haben all diese bisherigen Opernepochen gemein, die ich gerade in Kurzform Revue habe passieren lassen? Sie kannten nichts anderes als ihre jeweilige Gegenwart. In den Opernhäusern wurden zu all diesen Zeiten zu 95% zeitgenössische Werke aufgeführt. Im 19. Jahrhundert die größte Anzahl davon. Ein typischer Opernbesucher des 19. Jahrhunderts hörte also nichts anderes als die modernste Musik seiner Zeit und gelegentlich Mozart. Stellen Sie sich vor, ein Opernhaus von heute würde fast ausschließlich Henze, Stockhausen, Lachenmann und Olga Neuwirth spielen. Und nie eine Oper, die älter als 30 Jahre ist. Sie lachen? Im 19. Jahrhundert war das normal.

 

Nun kommen wir zum 20. Jahrhundert, das ein sehr komplizierter Fall ist – allerdings weniger, was die Operngeschichte, sondern die Weltpolitik angeht. Am Anfang des 20. Jahrhunderts machen die Komponierenden eigentlich genauso weiter wie vorher: es fällt ihnen ständig Neues ein und es bleibt künstlerisch spannend. Nur gibt es dann leider zwei Weltkriege, eine über Jahrzehnte andauernde Diktatur, die alles verbietet, was ihr nicht in den Kram passt und einen gigantischen Talentschwund gerade in Europa. Die interessante und zukunftsweisende neue Musik darf nicht mehr gespielt werden. Künstlerinnen und Künstler werden umgebracht und verfolgt. Komponisten wie Schönberg, Kurt Weill oder Hanns Eisler fliehen ins Exil. Kurt Weill erfindet in den USA das Musical, das ist aber eher eine Ausnahmekarriere, denn größtenteils müssen sich die Komponisten nun dafür verstecken, dass sie den Traum der Musik und damit auch der Oper weiterträumen. Manche von Ihnen sterben dafür im KZ, wie zum Beispiel Viktor Ullmann. Sie müssen sich das klar machen: Viktor Ullmann starb, weil er als jüdischer Künstler in Deutschland bleiben und Opern schreiben wollte. Das hatte es noch nie zuvor gegeben.

 

Schönberg z.B. wird zu einem bedeutenden Kompositionslehrer, anstatt dass seine Werke in Europa gespielt werden. Generell ist es eine Flucht der neuesten Musik ins Akademische oder – wie bei Karl Amadeus Hartmann – in die innere Emigration, denn nur dort kann sie überleben. Wenn sie also über „schräge Töne“ bei diesen Komponisten schimpfen, bitte ich Sie eines zu bedenken: Die Musik dieser Komponisten war noch nicht einmal ansatzweise so schräg wie die Welt um sie herum. Es gibt keine musikalische Dissonanz, die den Schrecken der Nazizeit oder den Schrecken Stalins oder den Schrecken der chinesischen Kulturrevolution wiedergeben könnte.

 

In den Nachkriegsjahren dann der mühsame Wiederaufbau. In München findet die Musikhochschule ausgerechnet im ehemaligen Führerbau ihr neues Heim. Man ist froh, dass die Kultur wieder frei ist und die Wirtschaftswunderjahre erzeugen eine erstaunliche Energie, die das Kulturleben in Deutschland wieder festigt und konsolidiert. Die Opernhäuser wandeln sich zu staatlich und städtisch geförderten Institutionen. Man investiert in die Künste und man investiert in freie Bildung für alle. Anders als in zum Beispiel Italien – einst der Ursprung der Oper – überleben daher in Deutschland die meisten Opernhäuser. Man restauriert ihre Ruinen oder – was noch viel unglaublicher ist – baut tatsächlich neue. Zu diesem Zeitpunkt ist Oper schon längst nicht mehr das Geschäft, das sie einst war. Diese Rolle haben inzwischen neue Unterhaltungen übernommen, an allererster Stelle das Kino und später natürlich das Fernsehen, dann das Internet. Einzig Musicals überleben als eine Art Wohlfühlpaket, oft eher ein Familienausflug als ein erhabenes künstlerisches Erlebnis.

 

Nun wird also Oper gespielt, weil man an die Magie der Oper glaubt, an dieses „Kraftwerk der Gefühle“ wie es Alexander Kluge einst genannt hat. Und begierig strömt das Publikum nach Jahrzehnten des Schreckens und der Kriege in die Opernhäuser und auch nach Bayreuth, man will endlich wieder Oper sehen, wie man sie einst kannte.

 

Doch was ist da eigentlich musikalisch in den letzten 40 Jahren passiert, während Panzer durch Europa rollten? Viele wissen es schlicht und einfach nicht, sind verwirrt von den neuen Klängen, die zum Beispiel bei den Darmstädter Ferienkursen erklingen. Dem Publikum fehlt schlicht und einfach der Anschluss – die Musik hat sich weiterentwickelt, zum Beispiel im Kompositionsunterricht von Nadia Boulanger, Schönberg, Messiaen oder Darius Milhaud. Aber dieser fand – zum ersten Mal in der Musikgeschichte übrigens seit der Notre-Dame-Schule – ausschließlich in einem privaten oder akademischen Kontext statt. Und während die Notre-Dame-Schule Werke für die Kirche schuf, die dann auch dort von Menschen täglich gehört wurden, sind die Werke der von u.a. Adorno geprägten „Neuen Musik“ vor allem für ein Fachpublikum geschaffen, das sich in Spezialfestivals trifft. Diese Musik ist keineswegs vollkommen unverständlich oder verrückt, aber sie hat quasi 40 Jahre keinerlei Kontakt mit einem „normalen“ Publikum gehabt, und ist etwas schrullig geworden, so wie auch Computer-Nerds ihre eigene Codesprache entwickeln, die von Außenstehenden nicht mehr verstanden werden kann.

 

Die neue Musik der Avantgarde gibt sich revolutionär und fährt bewusst eine Anti-Ästhetik zu den romantischen Sturm-und-Drang-Wallungen, die Hitler gerne einsetzte, um die Massen zu mobilisieren. Stockhausen zum Beispiel sieht sich nicht als bürgerlicher Künstler, sondern als eine Art Klangforscher, der in neue, bisher unergründete Dimensionen aufbricht. Die Oper ist für diese neuen Komponisten suspekt – man möchte die Opernhäuser einreißen und in die Luft sprengen, man sieht sie als Ort der Reaktion, der Rückwärtsgewandtheit. Daher schreibt man auch kaum neue Opern, die an einem traditionellen Haus leicht aufführbar sind, man denke an Luigi Nono oder Stockhausens „Licht“-Zyklus, später auch „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Lachenmann.

 

Ungefähr zeitgleich kommt das vorhin schon erwähnte „Regietheater“ auf. Da sich nur wenige bedeutende Komponisten in dieser Zeit dezidiert der Oper und nicht dem „Musiktheater“ zuwenden – zu nennen sind zum Beispiel Hans Werner Henze und Bernd Alois Zimmermann – ist man gezwungen, neue Inhalte in den alten Stücken zu finden. Denn natürlich spürt man schon schnell den Widerspruch – die Welt hat sich weitergedreht, hat neue Themen, gleichzeitig werden in den Opernhäusern vor allem Stücke aus dem 18. Und 19. Jahrhunderten gespielt, die dazu nichts erzählen können.

 

Das „Regietheater“ erzeugt dann auch wieder die ersten großen Opernskandale seit den zwanziger Jahren. Damals waren die Skandale der ungewohnten Musik geschuldet, nun ist es umgekehrt: der Skandal entsteht dadurch, dass die Musik gewohnt ist, aber die Bilder ungewohnt.

 

Das „Regietheater“ konnte in dieser Form tatsächlich nur hier entstehen und nicht etwa in Italien. Denn Italien – einst das Wunderreich und Traumland der Oper – erlebt im 20. Jahrhundert einen beispiellosen Niedergang. Von den hunderten von Opernhäusern in Italien sind heute gerade mal eine Handvoll geblieben. Allein in Deutschland konnte sich diese Vielfalt erhalten. Hier werden weltweit die meisten Opern aufgeführt, die meisten Aufführungen inszeniert. Menschen aus aller Welt kommen hierher, selbst an den kleinsten Opernhäusern dieses Landes finden Sie hervorragende Sänger:innen und Musiker:innen aus aller Welt, das Niveau und der Konkurrenzdruck sind irrsinnig hoch.

 

Aber immer noch dreht die Welt sich weiter. Und in den 80er Jahren beginnt langsam ein neues Interesse an der Oper zu erwachen, vor allem bei der jüngeren Komponistengeneration. Es entstehen Werke, die keineswegs am Opernhaus vorbeigeschrieben sind, sondern die durchaus darin funktionieren können, auch wenn sich das Repertoire der Klänge weiterhin erweitert und verändert. Das Problem ist nur: Es ist kein Platz für sie!

 

Das „Regietheater“ hat den Spot des Neuen besetzt, und vielen Intendanten und Dramaturginnen reicht das auch. Man kann nun etwas zu Guantanamo sagen, man lässt einfach die Gluck-Oper in Guantanamo spielen, Problem gelöst. Dann muss man keine zeitgenössischen Komponisten fragen.

 

Aber ganz ohne die geht es natürlich auch nicht. Daher bemüht sich jedes Opernhaus, auch die Bayerische Staatsoper, in regelmäßigen Abständen ein neues Stück in Auftrag zu geben. Meistens läuft das dann so ab: Premiere solala oder Premiere trallala, Skandal oder Langeweile, Erfolg oder Misserfolg – dann 5 Aufführungen, Dankeschön, nächstes Stück.

 

Es hat sich eingebürgert, dass man in den Spielplänen maximal 5%, meistens sogar weniger, Raum für diese „Experimente“ hat. Und eigentlich ist es völlig egal, ob diese Opernuraufführungen scheitern oder Erfolg haben, Hauptsache es ist eine Uraufführung, und es wird darüber geschrieben. Was daher seit der Nachkriegszeit gelitten hat, ist ein Gefühl für die Notwendigkeit der Wiederaufführung einer Oper. Vergessen wir nicht, dass ein Stück wie „Carmen“ bei der Uraufführung ein totaler Flop war und nur deswegen überlebt hat, weil man es wiederaufgeführt hat. Die Wiederaufführung ist sogar wichtiger als die Erstaufführung, denn nur mit der Wiederaufführung beginnt sich ein Stück zu etablieren. Erst dann kann man es interpretieren, neu verstehen und ganz simpel gesagt einfach nochmal hören. Sie kennen das alle: sie hören eine klassische Oper, die sie noch nicht gut kennen, und beim ersten Mal denken sie vielleicht: ist ganz ok, vielleicht ein bisschen langweilig. Beim zweiten Mal wissen sie schon was kommt: da ist doch diese schöne Stelle, auf die freue ich mich jetzt. Ah, beim zweiten Hören klingt das alles ja schon ganz anders.

 

Musik ist leider eine Kunst, die extrem von Wiederholung abhängig ist. Je mehr wir Musik wiederholen, desto vertrauter wird sie uns. Das ist auch nötig, weil Musik wahrscheinlich die komplizierteste und geheimnisvollste aller Künste ist.

 

All diese Erlebnisse könnten Sie aber auch bei neuen Opern haben. Auch bei neuen Opern würden ihnen wohlige Schauer über den Rücken laufen, beim zweiten, dritten, oder vierten Hören. Ich weiß, wovon ich spreche, denn wenn ich großartige neuere Opern wie zum Beispiel „Aniara“ von Karl-Birger Blomdahl oder „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann höre, spüre ich exakt dieselbe Emotionalität wie bei einer Arie von Mozart.

 

Ihnen wird dieses Erlebnis aber vorenthalten, weil 5% in den Spielplänen der Opernhäuser einfach nicht ausreichen, um Wiederaufführungen zu gestatten. Sie hören ständig neue Stücke, unterschiedlichster Stilistik. Sie können sich nie auf etwas einlassen, einen zweiten Blick auf etwas werfen. Es ist wie ein endloser Wanderzirkus mit immer neuen Attraktionen, die man immer weniger versteht.

 

Diese Situation haben wir nun seit gut 103 Jahren, also seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Noch nie in der Geschichte der Musik gab es so lange eine künstliche Blase, in der allein alte Musik dominiert, und das betrifft natürlich nicht nur die Opernhäuser, sondern auch die Konzertsäle. Auch dort wird ihnen das „Stück vor der Pause“ oder „Die Uraufführung“ präsentiert, danach kommt dann die Tschaikowsky-Symphonie.

 

Bin ich glücklich mit dieser Situation? Als Komponist kann ich ihnen sagen: nein. Ich fühle mich schlecht behandelt und in die Ecke gestellt. Ab und zu darf ich hervorkommen und ein kleines Tänzchen aufführen, danach sagen alle: „das hast du brav gemacht, jetzt aber wieder zurück in die Ecke, denn jetzt wird die richtige, die eigentlich schöne Musik gespielt“. Ich weiß nicht, wie Bach, Brahms und Beethoven damit fertiggeworden wären, wenn man zu ihrer Zeit allein Palestrina und Heinrich Schütz gespielt hätte und alles, was sie schrieben, als „ganz nett, aber nicht so gut wie die Musik von früher“ abgetan hätte. Sie wären verzweifelt oder hätten Selbstmord begangen. Und vor allem hätten wir dann ihre wunderbare Musik nicht, die immer und zu jeder Zeit heutig war und mit ihrer jeweiligen Zeit kommunizierte.

 

Doch nun zurück zum großen Umbruch, der schon längst begonnen hat. Denn es ist klar, dass das nicht alles ewig so weitergehen kann. Wenn das Neue weiterhin nur einen winzigen Platz an der Seite der großen Alten bekommt, wird die Oper irgendwann atrophieren, versteinern, ja sterben. Es wird kein neues Publikum geben, da sich junge Menschen zunehmend fragen, was das eigentlich alles mit ihnen zu tun hat. Junge Mädchen werden sich fragen, warum Frauen zwar Bundeskanzlerinnen werden können, aber anscheinend nicht Komponistinnen, denn in den Opernhäusern werden nur bärtige Männer gespielt, die zudem alle schon seit hundertfünfzig Jahren tot sind. Das Publikum der Zukunft wird es zunehmend bemüht finden, wenn alten Opern neue Themen übergestülpt werden. Es ist auch unfair, von einer Oper wie„Figaros Hochzeit“ zu verlangen, dass sie Antworten auf das Aufkommen von KIs hat, auf den Ukrainekrieg, auf Donald Trump. „Figaros Hochzeit“ erzählt aber sehr viel über die Zeit, in der Mozart die Oper schrieb, und das ist auch heute noch spannend, denn Musik macht Geschichte auf eine Weise lebendig, wie es kein Geschichtsbuch vermag. Und wenn wir zukünftigen Generationen eine Flaschenpost über das 21. Jahrhundert hinterlassen wollen, dann werden wir mehr Opern brauchen, die davon erzählen.

 

Der Umbruch ist schon in vollem Gange. Ausgerechnet die eigentlich eher konservative Metropolitan Opera hat im Moment mehr neue Opern im Spielplan als jede andere Oper der Welt. Und die Met ist keineswegs ein subventioniertes Haus, das sich Experimente leisten könnte, ganz im Gegenteil. Die Met muss irgendwie überleben.

 

Warum ist dieser Wandel, dieser große Umbruch, die Hinwendung zum Neuen, die tatsächlich in der Luft liegt, in unseren Opernhäusern noch nicht angekommen? Hier zeigt sich, dass unser subventioniertes System zwar ein Segen war, wenn es um den Erhalt unserer Opernlandschaft ging (um die uns die Welt beneidet), aber in gewisser Weise den notwendigen Wandel verlangsamt. Denn da unsere Opernhäuser nicht unter dem kommerziellen Druck stehen wie die Met, ist die Versuchung groß, einfach so weiterzuwurschteln wie bisher. Aber der Umbruch hat schon längst begonnen, und die meisten wissen das eigentlich. Und diejenigen, die das als erstes begreifen, werden in die Operngeschichte eingehen.

 

Stellen sie sich doch mal vor, wie das wäre. Ein Opernspielplan, der zur Hälfte aus ganz neuen Stücken besteht. Fänden Sie das einen Alptraum? Wenn das so ist, wie wäre es, wenn ich Ihnen sagen würde, dass dafür die älteren Stücke nicht mehr umgekrempelt oder passend gemacht werden müssen? Dass man sie wieder so spielen könnte, wie einmal ursprünglich intendiert? Das wäre auch nicht das schlechteste.

 

Wissen Sie – was Oper angeht, bin ich persönlich sehr konservativ. Aber keineswegs, was die Musik angeht, die soll so neu und verrückt und ungewöhnlich sein, wie sie will. Mit „konservativ“ meine ich, dass ich die Oper bewahren möchte. Ich möchte, dass es in hundert Jahren weiterhin Opernhäuser und ein Opernpublikum gibt. Und weil ich das möchte, muss sich alles ändern. Das ist das große Missverständnis vieler Traditionalisten – sie denken, dass sich nichts ändern darf, damit die Tradition erhalten bleibt. Aber was sich nicht verändert, stirbt.

 

Deswegen bin ich für die Veränderung. Nicht wegen mir, nicht wegen meiner inzwischen 19 Opern, die Sie wahrscheinlich leider nicht kennen – ich habe erklärt warum. Sondern weil ich in die Augen meiner Studierenden schaue. Junge Komponistinnen und Komponisten, die zunehmend wieder für die Oper brennen, die sich austoben möchten, die voller Ideen sind. Und dafür nach wie vor nur einen winzigen Platz bekommen. Vielleicht mal eine Kinderoper hier, eine Kammeroper dort. Sie haben kaum Gelegenheit, das Metier kennenzulernen, mit großem Orchester. zu arbeiten, zu lernen, wie man mit Sänger:innen, Tänzer:innen und Dramaturg:innen zusammenarbeitet oder wie man Texte vertont. Alle schreien nach mehr Diversität und Repräsentation von nicht nur Komponistinnen im Opernbetrieb. Das geht aber nur, wenn man Musik von heute spielt.

 

Und das ist der beste Antrieb und auch der Grund für den Umbruch, den wir im Moment erleben – der Anachronismus der Oper als Museumsbetrieb des 19. Jahrhunderts (worüber man übrigens schon in den 80er Jahren jammerte) ist inzwischen so groß geworden, dass er nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Man kann den Übergang zu einer inklusiveren und gegenwärtigeren Oper des 21. Jahrhunderts vielleicht lange bockig ausdehnen, sich dagegenstellen und schwadronieren, aber all das wird am Ende vergebens sein.

 

Denken Sie daran, wie es in einem Garten ist. Wenn die Pflanzen zu wenig Platz haben, wenn sie kein Licht bekommen oder nur einen kleinen winzigen Teil des Gartens zugewiesen bekommen, gehen sie ein und können sich nicht entwickeln. Was wachsen soll, braucht Platz. Junge Opernkomponistinnen und komponisten brauchen dir Bühne, um aufblühen zu können. Sie werden sehen: ihre Musik wird sich verändern, sie wird wieder beginnen, mehr mit ihnen, dem Publikum, zu kommunizieren. Und Sie werden sich – das verspreche ich Ihnen hoch und heilig – in dieser Musik mehr wiederfinden. Ganz egal ob sie jung oder alt sind. In der Oper hat alles Platz, was auch im Leben Platz hat – das Schöne, das Hässliche, das Abgründige, das Komische. Und dafür gibt es unterschiedlichste musikalische Mittel, die sie verstehen können, weil sie eine Geschichte erzählen.

 

Geben Sie der Oper eine Chance.

Umarmen Sie die Veränderung.

 

Moritz Eggert

 

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Eine Antwort

  1. Warum nur ist es so schwer zu verstehen oder zuzugeben, dass die moderne Oper, als aus der Tradition heraus begründetes musikalisches Theater (und nicht in seiner transformativen Gestalt als musikalisch untermalter Tonfilm im Kino und Streaming), inzwischen nur noch ein röchelnder Kadaver ist? Dass die sogenannte „moderne“ Musik ein Abzweig auf eine einsame, inzwischen entvölkerte Insel weit, weit draußen ist, die als Reiseziel nur noch wenige Nerds interessiert, einfach, weil es bei Tageslicht – und nicht im „romantischen“ Kerzenschein aus der Ferne betrachtet – ein ziemlich ödes Land ist, steinig, unfruchtbar, anstrengend, misanthrop.
    Allen Opernepochen sei, so lese ich im Text, eigen, dass „sie nichts anderes kannten als ihre jeweilige Gegenwart“. Das ist natürlich historisch betrachtet Unfug. Oper war, ein Blick in die Libretti zeigt es, von Anbeginn an (seit 1598) der Versuch, eine mythische, sagenhafte oder Helden verehrende Vergangenheit zu beschwören, mit den damals zur Verfügung stehenden modernen musikalischen Mitteln natürlich. Allein nur auf die Musik bezogen mag diese Einschätzung oberflächlich richtig scheinen, wenn „gegenwärtig“ als stilistischer Begriff missverstanden wird. Und da kann es wiederum nur bedeuten, dass es bislang noch nicht Gehörtes meint. Also musikalische Klänge, die über jeglichen Verdacht des Epigonalen erhabenen sind. Da im funktionsharmonischen Kosmos allerdings spätestens seit Hauer und Schönberg alles an funktionsharmonisch Möglichem bereits ausgereizt scheint, was originell sein könnte, bleibt nur das „Schräge“ als Ausdrucksmittel. Wir ignorieren hier einfach mal die Filmmusik, die Neue Klassik, die Popmusik, eben alles, was aus Sicht der E-Musik-Päpste déclassé ist. In der Wahrnehmung aber ist Musik, egal welchen Genres, welchen Stils, ob alt, ob neu, immer gegenwärtig, oft bis zur Penetranz. Gleichgültig, ob ich nun ein Stück zum ersten oder zweiten Mal höre, oder öfter. Und es gefällt, oder es gefällt nicht. Und dass es nur meine Hörgewohnheiten sind, die mich dieses nicht goutieren lassen, dass ich nur oft genug hören müsste, um Gefallen zu finden, das ist adornitisches Wunschdenken. Wenn nicht IRGENDWAS meine Neugier beim ersten Mal weckt, reizt, das muss mir nicht einmal konkret bewusst sein, habe ich auch keine Lust, es ein zweites Mal zu hören. Basta. Einfach liefern, dann hören wir schon auch ein zweites Mal hin, würde ich sagen. So ging es mir mit Strawinskys „Sacre“ im Alter von 16 Jahren. Ich fand die Musik damals schrecklich, furchtbar dissonant und zunächst „unmusikalisch“. Aber irgendwas faszinierte mich, sodass ich es immer und immer wieder hörte. Es gefiel mir und gefällt mir noch, auf eine eigene Weise. Anders freilich als ein Stück von Mozart. Das Gesamtkunstwerk „Oper“ als welt- und gesellschaftserklärender oder auch verklärender Mythos mit seinen Überwältigungsstrategien aus Bild, Bewegung, Dialog und Musik findet heutigen Tages ins Kino, Fernsehen, auf Streaming-Plattformen und in Videogames ein Zuhause. Die Rolle der Musik ist dort, wie eh und je, die Gefühlsebene. Die „güldenen“ Opernepochen sind Geschichte.
    Zur Jereminade über die Kritiker und das Feuilleton, die einem das, was man mit großer Überzeugung gemacht hat und als wertvolle Kunst deklariert, einfach als solche nicht erkennen wollen: Was als moderne Kunst angeboten wird, ist in den meisten – nicht allen – Fällen einfach nur mittelmäßig, oder schlecht, oder gut gemeint, oder versponnene Privatmythologie, im besten Falle überflüssig oder kurzweiliger Zeitvertreib: Gehört und vergessen. Das zugeben zu müssen, schmerzt. Nicht, dass die Kritiker oder das interessiert sein mögende, aber letztlich dann doch wieder nur „undankbare“ und deshalb als konservativ, rückwärtsgewandt und „ungebildet“ denunzierte Publikum immer „Recht“ haben mag. Das meine ich keineswegs. Recht vor allem in welchem Sinne? Im Sinne des Künstlers? Einer Künstlerclique? Nach Meinung eines akademischen Lehrstuhlinhabers? Einer erzählten Fortschrittslogik des akademischen Musikgeschichtsnarrativs Glauben schenkend, die längst als Ideologie entlarvt ist? Warum nur ist das so schwer in die Köpfe zu kriegen: Was der Künstler oder die Künstlerin als künstlerische Arbeit präsentiert ist zunächst eine höchst subjektive Potentialität von Kunst, eine Behauptung, zunächst reine Hochstapelei. Nur weil ich ein paar Noten zusammenflicke (gerne „kunstvoll“ und nach Lehrbuch), ist dies noch keine Kunst, auch wenn ich persönlich davon überzeugt bin. Die Existenz als Kunstwerk wird erst in dem Moment real, indem der individuell vorgestellten Option ein allgemeiner Kunstcharakter zugesprochen wird. Kunst als solche zu erkennen und anzuerkennen, liegt nun mal im Auge oder Ohr des Betrachters oder Zuhörers. Und zwar ausschließlich. Und bei jedem neuen Werk, das Kunst sein möchte, bedarf es einer neuen grundsätzlichen Entscheidung. Künstler, die ihr Werk selbst verteidigen oder erklären müssen, sind suspekt.
    Und wirklich, lieber M.E.? „Die Musik dieser Komponisten war noch nicht einmal ansatzweise so schräg wie die Welt um sie herum“? Nun, die Musik war niemals so schräg, zu keiner Zeit, wie die Welt um sie herum. Und die Welt vor dem 20. Jahrhundert war ja auch keineswegs idyllischer und friedvoller, wie Ihre Aussage nahelegt, dennoch war die Musik früher nachweislich und heute noch gerne gehört „harmonischer“ und weniger schräg. Wie passt das zusammen? Vielleicht, weil dem Musikmachen immer schon ein eskapistischer Zug innewohnte, vermuteter Weise schon von Urzeiten an, denn zu Singen oder ein Instrument zu spielen diente nicht der Existenzsicherung wie das Erschlagen der Feinde das Mammutjagen oder das zeigen von Nachkommen. Musik hat ihre ursprüngliche Heimat bekanntlich im Ritus, im Kultus. Und die Musik im abendländischen Gottesdienst – die wesentliche Wurzel unserer heutigen Kunstmusik – diente von Anbeginn an der Transzendenz, der Überhöhung, dem Trost, als Hort der Hoffnung, als zeitweilige Flucht aus dem mühsamen und lebensfeindlichen Alltag. Nicht weniger natürlich die Spielmannsmusik, die Volksmusik, das Singen und Spielen in den Wirtshäusern, auch wenn diese nicht verschriftlicht wurde. Es ist verständlich, dass auch Musiker und mit ihnen die Komponisten gerne politisch ernstzunehmende Zeitkritiker wären oder zumindest Protokollanten unserer gegenwärtigen Befindlichkeit. Aber so ist die musikalische Kunst, jedenfalls, das, was in den Noten steht – und nicht im Libretto, nicht im Regiebuch – nicht gestrickt. Es sind nur Noten. Diese sprechen uns an, oder irgendetwas in uns, oder eben nicht. Wenn mich Jemand wortreich und mit polemischem Furor überzeugen muss, dass ich seine Musik oder irgendeine andere gut zu finden habe, ist schon etwas falsch gelaufen. Das ist ja gerade das Phänomen im 19. Jahrhundert: In dem Moment, wo die zeitgenössische Musik das Publikum zu verlieren droht, entsteht die Musikpublizistik und der verzweifelte Versuch einzelner Komponisten, ihr Werk zu erläutern, zu erklären, zu verklären. Bei Wagner hat das funktioniert, indem er z.B. Meyerbeer, dem er vieles zu verdanken hat, verleumdete. Auch von Lachenmann gibt es wohl zumindest ebenso so viele Eigendeutungen seines Werkschaffens wie Werke. Das spricht nicht gegen die Qualität einzelner Werke, ist aber doch als Phänomen zeittypisch.
    „Meistens läuft das dann so ab: Premiere solala oder Premiere trallala, Skandal oder Langeweile, Erfolg oder Misserfolg – dann 5 Aufführungen, Dankeschön, nächstes Stück.“ Das soll neu sein? Das war immer so! Ein Blick in die Geschichte, vor allem ein Studium der Konzert- und Theaterzettel seit dem 18. Jahrhundert – genügt. Am Hof wurde nur das als aufgeführt, was der Herrscher zuließ, was diesem gefiel. Er oder sein Intendant hatte sogar die Macht, zensorisch einzugreifen und tat dies auch. Nachweislich. Und in den bürgerlichen Konzerthallen und bürgerlichen Theatern war es nicht anders. Was ankam, blieb im Repertoire, was nicht, wanderte ins Notenarchiv. Kaum ein Stück, vor allem keine Oper, erlebte mehr als 5 Aufführungen, zumindest vor der zunehmenden Historisierung der Programme im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Mehrzahl der in den Archiven und Bibliotheken lagernden Musikmanuskripte aus unserer Musikgeschichte (gut geschätzt 95%) zeugen von mäßigem, nur kurz- und kürzestzeitigem bis keinem Erfolg. Als Leiter der Musiksammlung der Bayerischen Staatsbibliothek weiß ich, von was ich rede. Das Phänomen der sogenannten „Historischen Konzerte“ (man denke an Mendelssohn in Leipzig, aber auch einen eher Unbekannten, wie Lindpaintner in Stuttgart, der solcherlei Konzerte schon ein gutes Jahrzehnt früher in Stuttgart einführte, sowie der zunehmend historisierenden Repertoirebildung in Konzert und Oper seit dem 2. Drittel des 18. Jahrhundert und dann verstärkt im 19. Jahrhunderts. Dies hatte nachweislich seine Ursachen nicht vordergründig in einer plötzlichen Geschmacksverirrung eines ungebildeten Publikums, sondern erklärt sich auf andere Weise: Gesellschaftliche Veränderung, politische Umstände, Marketingstrategien. Mit Musik hat das zunächst wenig zu tun, viel aber mit nationaler Identitätssuche, bis hin zum kulturellen Chauvinismus. Musik? Eher Nebensache.

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