Eine Auferstehungsgeschichte

Ostern ist ein Fest der Auferstehung. Hierzu passend ein Text, der vielleicht nicht dem entspricht, was man normalerweise von diesem Blog erwartet. Aber mit Erwartungshaltungen habe ich es noch nie so gehabt, wenn ich ehrlich bin. In diesem Sinne: nachträglich Frohe Ostern!

 

 

Der letzte Prometheus

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Weil die Konsequenz für die Taten, die wir im Moment begehen, in einer Zukunft liegt, die zwar nicht sehr weit entfernt, aber dennoch für die Vorstellungskraft der meisten Menschen zu fern ist, wird es kein Tribunal geben. Es wird keine Angeklagte geben, wenn diese Zukunft Gegenwart ist, und keine Richter, da die, die angeklagt werden könnten, ihre Schuld nicht mehr büßen können. Die, die aber gerne Richter sein würden, werden mit den Folgen dieser Schuld leben müssen. Sie werden an ihnen leiden, und mit ihnen alle Tiere und Pflanzen dieses Planeten, in den Wäldern, in den Steppen, in den Wüsten und in den Ozeanen. Der Tod und das Sterben werden sie täglich begleiten, und immer wieder werden sie sich fragen, wie es dazu kommen konnte, wie es sein konnte, dass man nichts dagegen tat, damals, als man noch etwas hätte tun können.

Eines Tages wird ihnen aber die Frage nach dem Warum so sehr auf der Zunge brennen, dass sie sich wünschen werden, einen ihrer Vorfahren zu befragen, auch wenn diese schon lange tot sind. Und sie werden eine große Anstrengung unternehmen, die klügsten Forscher werden sich zusammentun und aus den vielen digitalen Spuren, die die Menschen im Laufe der Jahrhunderte hinterlassen haben, eine Art Kunstwesen erschaffen, entstanden aus Daten, Zahlen, Trends und Meinungen der Milliarden von Menschen, die in der Vergangenheit die Weichen für die Zukunft, die jetzt die Gegenwart ist, gestellt haben. Und sie werden dieses Wesen als „Prometheus“ bezeichnen, denn anstatt Feuer soll dieser digitale Titan Kunde bringen von einer Zeit, die der Zukunft ihre Antwort schuldig blieb.

Eines Tages wird dieser Prometheus, halb Mann, halb Frau, in einem kahlen Raum aufwachen, in einfache und schlichte Kleider gekleidet, in einem künstlichen Körper der fühlen, sprechen und gehen kann, und man wird ihn abholen und durch einen Tunnel ins Freie zu einem großen Amphitheater bringen, in dem die Menschen der Zukunft ihre Fragen stellen können.

Zuerst werden sie dem erweckten Prometheus zeigen, wie die Welt sich verwandelt hat und was alles seit seiner Zeit geschehen ist. Sie werden ihm zeigen, wie die Meere sich verschoben haben, wie Land verschwand und damit auch ganze Länder untergingen, wie Felder austrockneten und Kontinente hungerten. Prometheus wird diese Vorführung ohne jegliche Regung über sich ergehen lassen, während bei den Anwesenden der Zorn ob seiner Taten zunehmend steigen wird.

Und wenn die Vorführung zu Ende ist, wird ein Mensch sich erheben, mit geballten Fäusten und Tränen in den Augen, und dieser Mensch wird mit zusammengebissenen Zähnen eine einzige Frage stellen:

„Warum habt ihr nichts getan?“

Das Kunstwesen, der neue und letzte Prometheus, wird keinerlei Emotion zeigen, seinen Kopf leicht schief legen und sagen:

„Ich verstehe die Frage nicht. Was hätten wir anderes tun können?“.

Ein anderer, noch zornigerer Mensch der Zukunft wird aufstehen und sagen:

„Nichts tun können? Es hätte so viel gegeben, was ihr hättet tun können! Hätten alle mitgeholfen, hätten alle mitgedacht, dann würden wir jetzt hier nicht stehen in einer Wüste, die früher ein Wald war. Wir würden nicht auf der Insel stehen, die früher ein Kontinent war, bis das Meer ihn überschwemmt hat. Ihr habt all dies kommen sehen, ihr habt es gewusst, und ihr habt nichts, rein gar nichts getan!“

„Das stimmt nicht. Wir haben alles getan, was wir mussten“ sagt dann der letzte Prometheus.

Ein Raunen geht nun durch die Menge der Versammelten, und weil kein Wind weht und die Sonne grell herabscheint ziehen einige ihre Kopfbedeckungen etwas tiefer, um sich vor der tödlichen Strahlung zu schützen.

Das Kunstwesen, der neue und letzte aller Titanen, hält den Blicken stand. In seiner Miene spiegelt sich keinerlei Scham, keinerlei Reue wider, nur eine Art leichtes Staunen über seine Erweckung und das seltsame Tribunal, das ihn befragt.

„Was ihr musstet? Niemand hat euch gezwungen, die Welt zu zerstören. Ihr hättet das alles verhindern können!“ schreit ein weiterer zorniger Mensch, aber der letzte Prometheus bleibt weiter ruhig und spricht mit fester Stimme:

„Was wir taten, war eine Konsequenz der Generationen vor uns. Denn auch wir hätten uns genauso wie ihr beschweren können bei denen, die die ersten Fabriken gebaut und den Wald zum ersten Mal gerodet haben, um Platz für ihre Häuser zu schaffen. Wir hätten fragen können: warum habt ihr das getan? Wir hätten jammern und klagen können über die Erfindung der ersten Dampfmaschine, des ersten jämmerlichen Flugzeugs aus Holz und Leinen, mit dem ein Schneider aus Ulm in die Donau stürzte, denn schon diese Erfindungen setzten eine Entwicklung in Gang, eine endlose Folge von Fortschritten, wegen denen wir heute hier stehen. Doch hätten wir damals einen dieser Pioniere aus dem Grab geholt, so wie ihr mich jetzt aus dem Grab geholt habt, dann hätten auch diese nur gesagt: Wir taten, was wir tun mussten. Wir wurden mit dem Wunsch zum Leben geboren. Wir haben uns die Welt untertan gemacht, weil wir nur die Wahl zwischen dem Tod und dem Leben hatten. Ihr könnt uns nicht vorwerfen, dass wir das Leben gewählt haben! Und wenn wir immer weiter zurückgehen in der Zeit, werden diejenigen, denen wir die Schuld geben, immer weitere nennen, die vor ihnen kamen, und die ihrer Ansicht nach schuldig sind. Bis sie irgendwann bei demjenigen landen werden, der den Menschen das Feuer brachte, in den Mythen verewigt als mein Vorfahr, der erste Prometheus. Und dieser wird sagen, dass einfach nur ein Blitz in einen Baum eingeschlagen ist und einen Zweig zum Brennen brachte, und dass er diesen Zweig zu seinem Stamm brachte, damit die Menschen sich an dem Feuer wärmen konnten, weil sie sonst erfroren wären. Auch dieser Bringer des Feuers wird sich unschuldig fühlen.“

Als der letzte Prometheus dies spricht, wird sich erneut ein Raunen erheben, und die zornigsten der zukünftigen Menschen werden verlangen, dass man ihn sofort abschalten soll, bevor er sie noch mehr beleidigt und verhöhnt.

Aber in diesem Moment am Ende der Zeit wird aus der Menge der Zukünftigen eine Frau hervortreten, die weiser als die anderen ist, und die ihre Gefühle im Zaum hat. Und sie wird zwei Stühle nehmen, einen für sich und einen für den letzten Prometheus, und sie wird sich ihm gegenübersetzen und seine Hand halten und mit sanfter Stimme sprechen:

„Es tut mir leid, dass wir Dich aus dem Vergessen geholt haben und Dir diese Fragen stellen. Aber Du musst verstehen, dass wir eine Antwort haben müssen, denn es sind die letzten Fragen, die uns bleiben, bevor diese Welt untergeht“.

Und der letzte Prometheus wird ruhig wie schon zuvor sagen: „Ich habe euch schon geantwortet. Jede Handlung birgt eine weitere Handlung in sich. Jede Handlung ist die Konsequenz einer vorherigen Handlung. Wenn das Auto einmal gebaut ist, ist das Fahren in der Welt. Wenn das Flugzeug gebaut ist, ist das Fliegen in der Welt. Und was in der Welt ist, kann man nicht auslöschen, denn man kann nicht zurückgehen und die Erfindung ungeschehen machen.“

„Aber hattet ihr nicht Anführer und Politiker, die die Gefahr kommen sahen und die hätten Gesetze erlassen können?“

„Die hatten wir, aber auch Anführer und Politiker sind menschliche Konzepte, genauso wie das Auto und das Flugzeug. Und für einen Anführer ist es viel wichtiger, zu sagen, dass er etwas tun will, als es tatsächlich zu tun. Denn wenn er unablässig wiederholt, dass er etwas tun möchte, ist es ausreichend. Mal abgesehen davon, dass auch die Anführer nie allein entschieden, sondern nur an der Spitze von vielen Entscheidungen standen, die schon längst getroffen waren.“

Die weise Frau wird lächeln und erst einmal nichts sagen. Stattdessen wird sie wie in Gedanken versunken aufstehen und mit langsamen Schritten den sitzenden Prometheus umkreisen, der selbstzufrieden und mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl sitzt. Eine lange Stille wird herrschen, da die weise Frau nicht aufhören wird, immer weiter den sitzenden Prometheus zu umkreisen, geduldig und langsam, ohne Hast. Der letzte Prometheus wird ihr mit seinen Blicken folgen, er wird jede ihrer Bewegungen lesen, während ihre Kreise sie immer näher an ihn heranbringen, ruhig wie unerbittlich.

Und dann wird sie etwas vollkommen Unerwartetes tun: Mit einer plötzlichen und schnellen Bewegung wird sie mit beiden Händen von hinten den Stuhl packen, auf dem Prometheus sitzt, und ihm diesen unter ihm wegziehen. Der letzte Prometheus wird davon vollkommen überrascht sein und mit den Armen kurz in der Luft rudern, nur um dann umso unsanfter auf dem Boden aufzuprallen.  Da der künstliche Körper des letzten Prometheus keinen Schmerz kennt, wird er sich aber sofort wieder aufrappeln und wieder aufstehen. Ohne ein Zeichen von Erregung wird er die weise Frau fragen: „Warum hast Du das getan?“.

Und sie wird antworten: „Ich habe es getan, um dir eine letzte Frage stellen zu können.“

Der Prometheus wird verwundert antworten: „Und welche Frage ist das?“.

„Die Frage ist: Warum bist Du wieder aufgestanden, nachdem ich Dir den Stuhl weggezogen habe?“

Der letzte Prometheus wird laut auflachen und sagen: „Weil ich zu stolz bin, vor Dir zu liegen! Weil ich zu stolz bin, vor Dir im Staub zu kriechen und mir Deine Vorwürfe anzuhören, deswegen!“

Und die weise Frau wird dem Prometheus den Stuhl hinhalten und ihn bitten, sich wieder zu setzen.

Und der letzte Prometheus wird sagen: „Ich denke nicht dran. Du hast mich schon einmal reingelegt, ein zweites Mal falle ich nicht darauf rein, ich werde stehen bleiben.“

„Du entscheidest Dich also zu stehen und nicht sitzenzubleiben? Ist das Dein Wunsch?“

„Ja!“

„Und es war möglich für Dich, diese Entscheidung zu treffen, trotz der vielen Entscheidungen, die vorher kamen? Du wusstest, dass ich Dir etwas antun würde, und daher hast Du Dich so entschieden, dass Du nicht wieder in diese Gefahr kommen würdest?“

Immer verwirrter antwortete der letzte Prometheus „Ja, warum?“

Und weiter wird die weise Frau sprechen: „Und es ist Deine freie Entscheidung? Du wusstest um das, was dich erwartet, wenn Du dich erneut auf diesen Stuhl setzt, und hast Dich entschieden, Dich nicht mehr zu setzen? Sondern stehenzubleiben? Und anders zu handeln? Weil Du um die Gefahr wusstest?“

Der letzte Prometheus wird, immer noch mit Trotz, sagen: „Ja, ja und nochmals ja, ich wäre dumm, wenn ich mich erneut setzen werde!“

In diesem Moment wird eine Träne in die Augen der weisen Frau kommen. Und nach einer langen Pause wird sie, erneut mit sanfter Stimme, sagen: „Wahrlich, dies ist die beste Entscheidung, die Du jemals getroffen hast.“

Und dann wird sie ganz nahe zu ihm hingehen, ihm fest in die Augen schauen und seinem Blick nicht ausweichen. Und dann wird sie sagen:

„Und ich wünschte, Du hättest diese Entscheidung damals getroffen. Als es darauf ankam. Denn Du hast Recht: jede Handlung folgt auf die nächste. Jede Entscheidung ist die Konsequenz einer vorangegangenen Entscheidung. Aber bedenke eines: Welche neuen Entscheidungen man trifft…das war immer und zu jedem Zeitpunkt allein Deine Verantwortung.“

Und mit diesen Worten wird sie sich abwenden und davongehen. Und mit ihr werden sich die zukünftigen Richter und Richterinnen abwenden und das Amphitheater verlassen, während der letzte Prometheus zurückbleibt.

Und wenn der letzte Sandsturm aufzieht, wird der letzte Prometheus dort immer noch stehen, mit wildem und stolzem Blick, unsterblich in seinem Wissen und unbeugsam in seinem Trotz.

 

 

Moritz Eggert

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