Was machst du EIGENTLICH?

Vor ein paar Jahren hat die Regisseurin Ulrike Schwab ein großartiges, ja, wirklich fantastisches Stück abgeliefert: „Wolfskinder“ an der Neuköllner Oper (hier eine der begeisterten Rezensionen von damals). Alle beteiligten Musikerinnen sangen nicht nur, sondern spielten im Verlaufe des Abends (und das ganz unprätentiös, ohne, den Zeigefinger szenisch zu erheben) noch mindestens (!) ein weiteres Instrument. Ein altes Klavier stand in einer abgeschlossenen Box, in der das ganze Geschehen bestaunt werden konnte; ein Klapperkasten, an der Seite postiert. Plötzlich wird es bespielt, von irgendwoher ertönt Humperdincks „Abendsegen“, rührend gesungen von zwei anderen Sängerinnen, die stellenweise noch ein zweites Instrument profund „bedienten“.

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Manchmal frage ich mich, ob wir diese Multitalente in der Musikszene richtig einschätzen. Vor ein paar Tagen traf ich einen Musiktheater-Intendanten. Er begann einen Satz mit „Arno, du bist ja Komponist …“. Seit Monaten habe ich kein Stück mehr komponiert. Denn ich (und um mich geht es hier nicht) bin halt „auch“ Redakteur, Pianist und was ich sonst halt noch so halbgut beherrsche.

Dieses „Problem“ verfolgt mich schon lange: Für die einen bin ich dies, für die anderen jenes. Spiele ich irgendwo Klavier, heißt es: „Eigentlich ist er ja …“. Und dort, wo ich „eigentlich Zuhause“ bin, sagt man: „Er ist ja eigentlich Pianist.“ Ich habe damit überhaupt keine Probleme. Denn ich habe mir das ja zutiefst selbst ausgesucht. Ich bin glücklich, dass ich musikalisch so viel erfahren und machen durfte. Es belebt mich, macht mich glücklich. Was mich nur erstaunt ist, dass ich in den Köpfen von Kolleginnen und Kollegen (Männer neigen meiner Erfahrung nach viel mehr dazu, nach der „Kategorie“ zu fragen!) halt als irgendetwas „gespeichert“ bin. Das finde ich teilweise richtig süß, anrührend. Man spürt manchmal geradezu, wie manche Denkprozesse irgendwo mal „stehengeblieben“ sind. Und dann geht es, vielleicht nach Jahren, plötzlich genau dort weiter, wo der Gedankengang des Kollegen einst endete …

Ich will daraus gar keine „Philosophie“ machen. Aber wäre ich (was ich mir – natürlich – manchmal wünsche) Opernregisseur: Würde ich nicht viel häufiger nach Doppel-, Dreifach-, Vierfach-Talenten innerhalb des Teams von Sängerinnnen und Sängern einer Produktion fragen? Wie wunderschön witzig, überraschend und aufregend könnte man Inszenierungen durch die In-Szene-Setzung solcher (unentdeckter?) Fähigkeiten bereichern? So eben passiert Ende 2021 am Theater Bremen. Wieder war es Ulrike Schwab, die ich in einer Regie erleben durfte – beziehungweise: ihre Inszenierung von Leoncavallos „Pagliacci“. Bevor die „Aufführung im Stück“ beginnt (die, wie wir wissen, blutig endet) ging der Dirigent der Produktion aus dem Orchestergraben herauf auf die Bühne und spielte ein Lied von Robert Schumann an einem alten Klavier, wie es sehr schön in die Zirkustruppenszenerie eingebettet war. Was für ein anrührender Moment!

Es ist nun nicht richtig überraschend, dass ein Dirigent auch Klavier spielen kann. (Fast alle Dirigenten können das.) Aber trotzdem werde ich als Rezipient/Rezensent automatisch wach, wenn so etwas geschieht, wenn jemand heraustritt aus seiner Rolle. Ja, ich finde, da schlummern noch unentdeckte Potentiale. Nicht nur für das Musiktheater …

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.