Verschwörungsmythen in der Musik

Foto: Palffy/ Wiener Volksoper

Verschwörungsmythen in der Musik

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Vielleicht haben einige mitbekommen, dass ich gerade eine Oper(ette) über das Thema „Verschwörungsmythen“ geschrieben habe. Aber keine Angst: ich will gar nicht über mein Stück reden, sondern über einen Aspekt, der mir bei der Recherche für mein Stück aufgefallen ist.

In den letzten Jahren habe ich viel zu viele Webseiten und Telegram-Channels von Verschwörungsgläubigen und Reichsbürgern intensiv studiert. Mich hat vor allem interessiert, was „nach Corona“ passiert, denn die Pandemie hat natürlich einen irrsinnigen Boom von Verschwörungsmythen ausgelöst. Geht diesen nun der Stoff aus, wenn es keine Lockdowns mehr gibt und es nie einen Impfzwang gab oder geben wird? Was ist mit denen, die sicher waren, dass Kultur abgeschafft und unser Land in eine Diktatur verwandelt werden sollte? Beharren sie auf diesen Ideen oder suchen sie sich neue Themenfelder?

Inzwischen wissen wir, dass natürlich beides geschehen ist. Die hysterischsten Protagonisten der Querdenker-Szene steigern sich nach wie vor in abstruse Impftoten-Szenarien hinein, da man das mahnende „bald werden alle nach einer Impfung sterben“ endlos wiederholen kann. Denn klar: wir sterben alle, ob wir nun geimpft wurden oder nicht. Andere wiederum sind problemlos auf den Putinversteher/Reichsbürger-Zug umgestiegen, denn da man ja eh schon gemeinsam mit Neonazis gegen Corona-Maßnahmen demonstriert hat, kann man ja gleich im selben Dunstkreis weitermachen.

Ich dachte lange naiv, dass aufgeklärte und gebildete Kreise relativ immun gegen Filterblasen und gesteuerte Massenhysterie sind, aber die letzten Jahre zeigen, dass dies nicht so ist. Ich war ehrlich geschockt darüber, dass ich plötzlich mit Menschen aus dem Bereich der zeitgenössischen oder klassischen Musik zu tun hatte, die ebenso anfällig für Verschwörungsmythen waren und diese sogar bewusst propagierten und verbreiteten.

Das zeigt natürlich, dass alle Bereiche einer Gesellschaft anfällig dafür sind, an ominöse Machenschaften zu glauben. Das ist verständlich: nichts, was Menschen betreiben, läuft in irgendeiner Form perfekt. Egal wo man hinschaut: es wird immer in Einzelfällen individuelles Versagen und Mauscheleien geben. Der Glaube an Verschwörungen vereinfacht die Komplexität der Welt ungemein – während in Wirklichkeit unendlich viel aus ganz unterschiedlichen Dingen nicht funktioniert oder in den meisten Fällen eben doch funktioniert, vereinfacht ein Verschwörungsmythos das alles ungemein: Schuld sind immer „die Anderen“, und man selbst ist „erwacht“, weil man das erkennt.

Verschwörungsmythen entstehen aber auch aus einem Gefühl der Abgrenzung heraus. Nicht selten sind sie daher zutiefst rassistisch. Schuld ist dann nicht nur eine „Verschwörung der globalen Eliten“, sondern natürlich „jüdische Eliten“. Flüchtlingswellen – die es in der Weltgeschichte immer gegeben hat – werden zu „gezielter Überfremdung“ umgedeutet.

Immer wieder werde ich gefragt, ob zeitgenössische Musik den Anschluss an die Gesellschaft verloren hat. Normalerweise verteidige ich dann auch die sogenannten „Hardliner“ der Neuen Musik, die sich bewusst in der Tradition einer sehr spezifischen Ästhetik sehen, die von Adorno und der „Darmstädter Schule“ geprägt wurde. Gerade weil diese „Hardliner“-Ästhetik an den Hochschulen immer seltener wird und die gängigen Festivals sich schon längst neueren musikalischen Trends geöffnet haben, erstaunt es, dass ein bestimmter Jargon der Neuen Musik nach wie vor existiert und dem Jargon der Verschwörungsgläubigen ähnelt. Wenn zum Beispiel bestimmte apodiktische Behauptungen aufgestellt werden, die in keiner Weise einen Bezug zur Realität haben. Ist also Neue Musik extremer Prägung auch eine Art „Verschwörungstheorie“?

Es gibt nach wie vor Kompositionswettbewerbe in denen Partituren fast abergläubisch nach „tonalen Elementen“ untersucht wurden, als sei das Fehlen solcher schon einmal Grundvoraussetzung dafür, dass es sich überhaupt um ein Stück handelt. Sprich: Es darf zum Beispiel nicht „zu viele Terzen“ geben. Das Argument hierbei ist, dass z.B. die „Terz“ oder „die Oktave“ an sich verbraucht sind, oder dass man dies und das „nicht mehr macht“. Bestimmtes musikalisches Material und bestimmte Techniken sind anscheinend für immer passé, sie sind „suspekt“. Ist das so? Ist das vielleicht ein Verschwörungsmythos? Wer sagt denn, dass musikalische Phänomene wie zum Beispiel Intervalle irgendeine Qualitätsabstufung haben? Steht jetzt irgendwo für immer fest geschrieben, dass Oktaven vermieden werden müssen? Oder dass Partituren eine bestimmte Komplexität haben müssen, um „würdig“ zu sein?

Klänge sind zuallererst einmal vollkommen unschuldige und wertfreie akustische Erscheinungen. Im Rahmen einer Oktave (die ein feststehendes psychoakustisches Phänomen ist, das mit der Art zu tun hat, wie wir hören) gibt es theoretisch unendlich viele Intervalle. Keines davon ist besser oder schlechter, alle sind Teil eines physikalischen Spektrums. Wer sich auch nur oberflächlich mit den vielen musikalischen Kulturen dieses Planeten beschäftigt, stellt schnell fest, dass diese Phänomene ganz unterschiedlich bewertet und auch unterschiedlich eingeordnet und verwendet wurden. Gerade in räumlich voneinander getrennten Kulturen hat sich Musik erstaunlich individuell entwickelt. Dass die aufgrund der Notenschrift inzwischen weltweit verbreitete „abendländische“ Musikästhetik so dominant ist, hat nicht im Geringsten damit etwas zu tun, dass sie „richtiger“ ist, sondern eher mit einer hohen Effizienz der Notation und kolonialer Ausbreitung. Genauso wenig wie es „gute“ und „schlechte“ Farben gibt, gibt es „gute“ und „schlechte“ Intervalle.

Innerhalb einer bestimmten Sprachlichkeit kann es aber – immer zeitlich begrenzt – Regeln eines bestimmten Geschmacks geben. Diese gelten aber nie „für immer“, sondern sind im Fluss, genauso wie auch Sprache und Moden ständig im Fluss sind. Nichts was „in“ ist, ist für immer „in“, und nichts was „out“ ist, ist für immer „out“. Im Wandel der Zeiten gibt es nur immer neue Variationen der Betrachtung akustischer Möglichkeiten.

Mir war beim Musikstudium immer vollkommen klar, warum Schönberg und seine Schüler zum Beispiel Oktavierungen oder modale Phänomene mieden – sie wollten sich direkt von einer herrschenden Ästhetik absetzen, die zunehmend als Sackgasse empfunden wurde. Für eine solche ästhetische Distanzierung gibt es aber auch immer ein Zeitfenster: wenn das, von dem man sich absetzen wollte, nicht mehr dominant ist (=spätromantische Musik), macht es wenig Sinn, die Mechanismen der Distanzierung weiterhin aufrechtzuerhalten. Jetzt – über 100 Jahre später – ist es nicht nur sinnlos, sondern geradezu absurd, dieselben grundsätzlichen Techniken und Intervallbewertungen einzufordern, wie man es in der Wiener Schule tat.

Hardliner der Neuen Musik sind dagegen abergläubisch und reaktionär: sie glauben, dass es tatsächlich eine dauerhafte Bewertbarkeit der Qualität von musikalischem „Material“ gibt und dass man sich neueren Tendenzen der „Aufweichung“ des Materials durch Fremdkörper dringend und strengstens widersetzen muss. Sie argumentieren dabei ähnlich wie Impfskeptiker – ob man nun Angst vor Melodien oder Impfungen hat, beides ist eher emotional als von Fakten begründet. Das Vorhandensein oder die Abwesenheit von Melodien sagt nichts darüber aus, ob ein Stück interessant oder uninteressant ist.

Auch die „Schuld der Anderen“ ist ein Argumentationsmodus, der in der Neuen Musik ebenfalls vorkommt. Wenn darüber diskutiert wird, warum man mit zum Beispiel Neuer Musik extrem akademischer Prägung immer weniger Menschen erreicht, ist dies dann keineswegs die Schuld der Musik selbst (vielleicht inzwischen zu fachspezifisch und zu sehr für „Insider“), sondern natürlich Ausdruck einer „Bildungsverschwörung“, die bewusst den Musikunterricht verwässern und Kinder nicht mehr genügend auf zeitgenössische Musik vorbereiten will. Oder es ist die böse Politik, die nicht genügend Geld für Kultur bereitstellt. Wie auch immer, die „Anderen“ sind schuld.

Obwohl es stimmt, dass die Rolle des Musikunterrichts heruntergewirtschaftet wurde und es auch stimmt, dass immer wieder an Kultur gespart wird – mit „Neuer Musik“ im Speziellen hat dies nicht das Geringste zu tun, es ist sogar Hybris, das zu behaupten.

Aber es ist auch sehr wichtig zu sehen, dass Verschwörungstheorien auch am anderen Ende des Spektrums existieren, nämlich im Lager der Ultrakonservativen und Erzreaktionäre, die an Schönheitsidealen von Musik festhalten, die aus dem 19. Jahrhundert stammen. Wenn zum Beispiel die von ihrem Vater unglücklicherweise zu einer sprechenden Roboterpuppe erzogene Alma Deutscher immer wieder dramatisch schildert, wie arme junge Talente an Musikhochschulen von bösen Professoren dazu „gezwungen“ werden, „hässliche“ Musik zu schreiben, dann ist das exakt so absurd wie zu behaupten, es gäbe Pädophilenringe um Hilary Clinton, die sich im Keller einer New Yorker Pizzeria treffen. Sie bedient sich dabei auch Techniken der Verschwörungspopulisten – indem sie einfach eine Unwahrheit permanent wiederholt, legitimiert sie ihre eigene Arbeit als eigentlich „Erwachte“, während sie diejenigen, die einfach nur die Errungenschaften der Musik des 20. Und 21. Jahrhunderts schätzen und als relevant empfinden, als „böse Elite“ diffamiert, die Talente wie sie angeblich verderben und „canceln“ wollen. Das ist zwar alles frei erfunden, aber die Anhänger ihrer ganz speziellen Sekte glauben das tatsächlich.

Wir sehen also: Verschwörungsmythen existieren nicht nur an den Rändern der Gesellschaft. „Filterblasen“ können überall entstehen, auch in der Hochkultur. Ob erzkonservativ oder reaktionär „modern“ – es macht keinen Unterschied, genauso wie bei der Extremen Linken und der Extremen Rechten.

 

Moritz Eggert

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Eine Antwort

  1. Jan Eustergerling sagt:

    Oh ja … dergleichen im Jazz. Da gibt es die Wahrer des „richtigen“ Jazz, den sie klassisch nennen, die meisten anderen Dixiland. Da gibt es Gestalten, die finden alles, was im Jazz seit den 50ern passiert ist, regelrechten Verrat. Andere wiederum sind die Verfechter des „Modern“, lehnen aber ab, was in deren Augen nicht hinreichend komplex ist.
    Ich weiss nicht, ob man das mit Verschwörungsglauben erklären sollte. Eher so ein Phänomen, das ich „stehen bleiben“ nennen würde. Irgendwann entwickelt man sic h nicht weiter, aber statt sich das ein zu gestehen (man war ja immer vorne mit dabei!), lehnt man alles Folgende dann ab. Mit irgendwelchen Begründungen, die aber garnicht so sehr wichtig sind.

    Und was die Intervalle betrifft … sie kommen und gehen, die Moden. War im Spätmittelalter nicht der Tritonus als „Teufelsintervall“ verboten?