Die unüberwindlichen Grenzen der Diversität

 

Die unüberwindlichen Grenzen der Diversität

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Das Bekenntnis zur Diversität, die unsere Gesellschaft seit einiger Zeit in den Mittelpunkt stellt, hat unser Zusammenleben grundlegend verändert. Achtsamkeit und „wokeness“ sind die Schlagworte unserer Zeit. Wir nehmen Rücksicht auf andere Kulturen und auf Minderheiten und achten darauf, dass alle Chancengleichheit bekommen. Auch wenn die meisten Menschen keine Laktose- oder Glutenallergien haben, nehmen Caterer zunehmend Rücksicht darauf und bieten alternative Gerichte an. Veganer und Vegetarier – früher in der Minderheit – sind inzwischen fast schon Mainstream.  Wir zwingen auch niemandem mehr eine Norm auf, sondern respektieren die eigene Entscheidung von Personen was ihre Sexualität und Geschlechtsidentität betrifft. Apropos Sexualität: auch hier sind wir speziellen Vorlieben gegenüber wesentlich toleranter geworden. Man muss sich schon lange nicht mehr dafür schämen, SM oder BDSM gut zu finden und kann dies ganz offen ausleben. Fetischläden findet man inzwischen direkt neben dem Lidl und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis man bei Rewe Dildos und Cosplay-Utensilien finden kann.

Inzwischen ist es quasi schon schick, nicht der Norm zu entsprechen. Fast niemand den ich kenne definiert sich als „normal“. Man übt Toleranz gegenüber Menschen mit Tourette-Syndrom, bipolaren Störungen oder mit Autismus-Spektrum. Man bewundert Menschen, die offen über ihre Depressionen sprechen. Man macht sich nicht mehr über Menschen mit geistigen Behinderungen lustig. Wir wollen kein Körper-Shaming mehr, jede und jeder kann schön sein, egal wie sie aussehen. Wir bemühen uns, Menschen mit seltenen körperlichen Einschränkungen zu integrieren und auf ihre speziellen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Die meisten von uns haben erkannt, dass es vielleicht nie so etwas wie Normalität gab und wir alle spezielle „Themen“ haben, die uns triggern könnten (worauf natürlich auch Rücksicht genommen wird).

Kurzum: wir wollen eine friedliche Gesellschaft, in der niemand an den Rand gedrängt wird oder gegen seinen Willen dazu gezwungen wird, sich zu verbiegen. Die Idee dahinter ist der Wunsch nach einem möglichst vielfältigen und offenen Miteinander.

Und das ist gut so.  Auch wenn die „wokeness“ manchmal seltsame Blüten schlägt und wir besonders aufpassen müssen, dass wir nicht neue Unfreiheiten schaffen, ist die Idee dahinter – nämlich einen gesellschaftlichen Ausgleich zu schaffen, indem man niemanden ausgrenzt – richtig. Offene Gesellschaften sind kreativ, unfreie Gesellschaften nicht. Wir wollen eine kreative Gesellschaft, da die Probleme unserer Generation Kreativität benötigen.

Aber Moment: sind wir wirklich so tolerant und offen, wie wir immer tun? Geben wir wirklich allem Randständigem eine Chance? Tun wir dies auch in der Musik? Seltsamerweise ist das Gegenteil der Fall.

Mir ist nämlich aufgefallen, dass bei aller neuen Toleranz und Rücksichtnahme gegenüber Menschen und ihren Bedürfnissen eine neue Intoleranz gegenüber künstlerischen Ideen entstanden ist. Oder anders gesagt: Es ist völlig ok, wenn ich mit lackierten Fingernägeln, Perücke und im Tanga auf Rollschuhen durch die Innenstadt düse, aber es ist nicht ok, wenn ich ebenso eigenwillige Musik schreibe.

Denn da hört die Toleranz seltsamerweise auf. Wer musikalisch in irgendeiner Form „schwierig“ ist, eigenwillige Wege geht oder nicht dem Mainstream entspricht, wird wesentlich argwöhnischer beäugt, als wenn er /sie sich zu einer Transidentität bekennt und mit „sie“ angesprochen werden will. Denn anscheinend muss bei dem neuen Fehlen von Spießigkeit im Zusammenleben an anderer Stelle wieder kompensiert werden.

Wie viele meiner Kolleg:innen musste ich in meiner Jugend auf Partys oft erklären, warum ich eigentlich nicht „schöne“ und „normale“ Musik schreiben könnte. Ich dachte damals: redet nur, das hört sicher irgendwann mal auf, wenn die Gesellschaft toleranter wird. Ich schämte mich nicht dafür, besondere musikalische Bedürfnisse zu haben, denn ich nahm ja auch Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse anderer Menschen.

Ist die Situation für uns Komponierende besser geworden? Ich glaube nicht. Der Druck, doch bitte schön „normale“ Musik zu schreiben ist eher gewachsen. Alles, was in der Kunst abseitig ist oder irgendwie nicht der Norm entspricht, wird zunehmend kritisch beäugt oder muss um sein Überleben kämpfen. Die ganze Neoklassik ist nichts anderes als eine Unterwerfung unter diese neue Spießigkeit – Musik, die niemanden aufregen will, niemanden auch nur im Geringsten fordert und nett im Hintergrund dahin plätschert, ohne zu stören.

Wie kann das sein? Wir tolerieren gesellschaftlich zunehmend individuelle und vielfältige Positionen, aber die Kunst verliert zunehmend an Vielfalt? Warum wollen wir Vielfalt an der einen Stelle, an der anderen nicht?

Diese Frage betrifft aktuell die öffentlich-rechtlichen Medien. Dort wird wie selbstverständlich gegendert und Rücksicht auf Minderheiten genommen. Man predigt Weltoffenheit und Toleranz. Aber warum verschwinden dann zunehmend Sendungen, die sich zum Beispiel schräger und „anderer“ Musik annehmen? Oder der Musik von Liebhabern, die zum Beispiel Oper oder Kunstlied mögen? Oder experimentelle elektronische Musik? Warum darf es dafür nicht auch einen Platz geben? Die 60er Jahre waren gesellschaftlich geprägt von Frauen- und Schwulenfeindlichkeit, man beäugte Menschen mit langen Haaren kritisch und verteufelte Formen des Zusammenlebens die heute keinen mehr stören. Wenigstens im Radio war aber sehr viel Platz für verrückteste zeitgenössische Musik aller Genres! Muss es heute umgekehrt sein? Offenheit und Toleranz in der Gesellschaft, aber dann Intoleranz und Ignoranz im Kulturprogramm? Ich breche hier keine Lanze speziell für akademische Musik, sondern für „interessante“ Musik im Allgemeinen, Musik, die uns fordert, schräg und eigenwillig ist.

Warum bekomme ich inzwischen in jedem Supermarkt glutenfreie und vegane Spezialprodukte, die wir uns früher nicht hätten erträumen können, im Radio laufen aber immer nur Songs, die möglichst vielen gefallen müssen? Wäre es nicht sogar Pflicht, dass es auch für Vielfalt in der Musik einen Platz gibt, wenn man den Begriff „Diversität“ ernst nimmt? Das Gegenteil ist der Fall – Kultur- und Musiksendungen weichen zunehmend einer schalen Mainstream-Norm, in der alles immer ähnlicher klingt. Und das ist eben nicht „divers“, das ist das genaue Gegenteil davon. Warum wird im Radio einer Quote der Mehrheit gehuldigt, während man anderswo Quoten speziell einführt, um Minderheiten zu stärken? Könnte man nicht aus denselben Gründen auch musikalische Minderheiten stärken? Warum sollen die eigentlich verschwinden, wenn doch Kultur das Medium ist, in dem sich eine diverse Gesellschaft ureigentlich ausdrückt?

Klar, sagen jetzt einige, das liegt halt daran, dass der Supermarkt ein Geschäft macht und das Radio eben nicht. Falsch, sage ich dann: gerade weil das Radio KEIN Geschäft machen muss, wäre es geradezu verpflichtet, noch mehr Diversität zu bieten als zum Beispiel der Supermarkt. Und der Supermarkt macht gerade deswegen ein Geschäft, weil er ein möglichst breitgefächertes Angebot hat und eben nicht nur den Massengeschmack nach Leberkäs und Wiener Würstchen bedient. Aber beim Radio bräuchte das dieselbe echte Begeisterung für Diversität, die wir heute von der Gesellschaft fordern und die anscheinend nicht überall authentisch ist.

Die Grenzen der Diversität werden jeden Tag neu gezogen und härter verteidigt als je zuvor, im umgekehrten Verhältnis zur Diversität selbst. Wie wir diese Grenzen erfolgreich in den nächsten Jahren überwinden, wird daher die eigentliche Herausforderung sein.

 

Moritz Eggert

 

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Eine Antwort

  1. k. sagt:

    Danke und Zustimmung!!!

    Mir scheint, dass die „Diversität in der Musik“ anders funktioniert als eigentlich gemeint (so weit ich es mitbekomme, meint man mit „Diversität“ eigentlich, je nachdem, aus welcher Ecke man kommt: mehr tote Komponistinnen, mehr lebende Komponisten, mehr experimentelle aktuelle Musik, mehr chinesiche Musik, mehr farbige Musiker*innen o.ä. )

    Aber in der Allgemeinheit bedeutet „Diversität“ eher: nicht nur Klassik (elitäre Bildungsmusik), nicht nur Neue Musik (schräge Akademikermusik), sondern was für „jeden Geschmack“ (der Masse).

    Z.B. man sagt, dass die Musikauswahl diverser wird, wenn zu Weihnachten in der Kirche nicht mehr nur „O du fröhliche“ und „Alle Jahre wieder“ gesungen wird, sondern „Feliz Navidad“ und „White Christmas“. Ist halt nicht deutsch und nicht alt.

    Man sagt, dass ein Liedprogramm diverser wird, wenn in einem Abend nicht nur Schumann sondern auch Leonard Cohen gesungen wird. Ist halt anders als was man normalerweise in einem klassischen Liederabend hört.

    Man sagt, dass der Klavierunterricht divers und modern wird, wenn statt Beethoven Einaudi geübt werden darf. Ist halt keine Musikauswahl von oben herab.

    Ich denke, dass das Problem (Missverständnis? aneinander vorbei reden?) kommt daher, dass das, was z.B. in der Neuen Musik Szene als „Diversität“ gilt – Jörg Widmann vs. multimediale Elektroakustik mit Loopmaschine und Autohupen – von der Allgemeinheit immer noch nur als eine sehr kleine Nische wahrgenommen wird („alles nur schräg“) und unter „Musik für die unterschiedlichen Geschmäcker“ was anderes verstanden wird.

    Also, je mehr Diversität in der Musik gefordert, desto mehr gibt es von Schlager, Pop, Rock, New Age o.ä. (was wiederum von der akademischen Klassiker eher als Einheitsbrei und Volksverdummung wahrgenommen wird.)

    Man müsste vielleicht doch mehr „elitäre Musik“ fordern, um mehr „Diversität in der Musik“ (im Sinne des Artikels) zu bekommen.