Wo die wilden Templer wohnen

Wo die wilden Templer wohnen

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In meiner anhaltenden Leidenschaft für Ultramarathons (Laufdistanzen über 42 Kilometer) verschlug es mich damals in die Pyrenäen, genauer: nach Millau, Frankreich, wo einmal im Jahr eine der größten Trailrunveranstaltungen der Welt stattfindet, nämlich das „Festival des Templiers“, das einen in unterschiedlich wählbaren Laufdistanzen über die alten Templerpfade der Region unter anderen zu verlassenen Höhlen, Ruinen und Felsplateaus führt. „Pièce de Resistance“ ist natürlich der „Grand Trail des Templiers“ (80,6k, 3530+ Höhenmeter), der um 5:15 morgens beginnt (Stirnlampen sind Pflicht).

Ich freute mich natürlich besonders darauf, mit anderen tollen Läufern zu laufen – meinem wunderbaren Coach Doug Stewart (Schottland), seiner Frau Alecsa (Rumänien), sowie Corina Sommer (Schweiz). Die kleine Läufer-WG (wir hatten uns bei Airbnb ein ganzes Haus gemietet) wurde komplettiert durch Corinas Mann Simon, tatsächlich ein studierter Musikologe, mit dem man auch über Ferneyhough reden kann und den ich hier gnadenlos hervorhebe, um eine Veröffentlichung im Bad Blog zu rechtfertigen (dass Ultralaufen viel mit Komponieren zu tun hat, habe ich hier ohnehin schon oft erklärt).

Ich will hier niemanden mit Fachsimpelei langweilen, aber in einer solchen Crew fühlt man sich einfach gut aufgehoben, wenn man über den tieferen Sinn von „Tapering“, „Recovery“ oder die neuesten Trailrunningschuhe redet.

Rennstart um 5:15 heißt aufstehen um 2:45, schnell etwas essen (nicht zu spät vor dem Start), Equipment noch einmal checken und dann ca. 30x mal aufs Klo gehen (was man dann auf der Strecke natürlich auch muss, und zwar old school). In der ersten Startwelle („Elite“) konnte ich Corina und Doug anfeuern (Alecsa war am Vortag gelaufen), 15 Minuten später war ich dran.

Über die Startzeremonie (die in Frankreich, der Nation der Trailrunner so etwas wie Kultstatus hat) will ich nicht viele Worte verlieren, es läuft dieses schreckliche „Ameno“-Lied, oder wie auch immer das heißt, dieses pseudomittelalterliche Rumgesinge mit elektronischem Drumbeat das jeden Musikstudenten mit auch nur einer Unze Geschmack in die Verzweiflung treibt. Lieber konzentrierte ich mich auf meinen direkten Nachbarn, einen schon älteren Herren, der vor Rührung (oder Angst?) anfing zu weinen und den Kopf in seinen Händen vergrub. Ich konnte nicht anders als ihn zu umarmen und ein schönes Rennen zu wünschen.

Wie bei Rennen mit großen Teilnehmerzahlen üblich begann man erst sehr langsam zu laufen, bis sich das Startfeld lichtete und etwas mehr Platz war. Die ersten Kilometer gingen recht easy dahin, die sanften Steigungen und Gefälle, das Licht der Sternlampen und die regelmäßig links und rechts auf die Straße pinkelnden Läufer erzeugten schnell eine entspannte Stimmung. Auch der erste „Uphill“ war geschmeidig.

Im Reglement stand, dass ab Kilometer 7 Stöcke erlaubt wären, aber gleichzeitig auch bis Kilometer 10 auf jeden Fall verboten. Dieses unlösbare Paradox verleitete viele Läufer dazu, schon ab Kilometer 3 die Stöcke auszupacken (die helfen beim Aufstieg, den man bei hohem Gefälle meist schnell wandert, wie jeder Trailrunner weiß – denn Rennen ist dann nicht mehr energieeffizient).

Danach rannten wir erst einmal durch endlosen Wald und das erste Hochplateau. Mir wurde erzählt, dass hier ab und zu Menschen in Templerkostümen (= Ritterrüstungen) auftauchen sollen, aber ich sah nur einen gruseligen obdachlosen Eremiten, der wie ein Catweazle aus dem Gebüsch hupfte.

Rund um mehrere Berge führt der „Grande Trail“, das heißt man muss sich immer wieder gefühlsmäßig darauf einstellen, dass einem harten Anstieg (die auch im Verlauf immer härter und länger wurden) dann auch ein Abstieg folgt, meistens direkt danach. Aufstiege sind bekanntermaßen schmerzfreier, brauchen aber viel Durchhaltevermögen, bei den Downhills brillieren die jungen Draufgänger:innen, die sich nicht davor fürchten, in einen Abgrund zu fallen oder den Fuß zwischen zwei Steinen zu verklemmen.

Immer wieder ist man bei solchen Läufen erstaunt, wie einem ein Gelände unterschiedliche Herausforderungen stellt. Manchmal rennt man durch schmale Trassen, in denen man kaum zwei Füße nebeneinander bekommt, manchmal läuft man auf engem Pfad am Rand eines Abgrunds, dann wieder durch moosiges oder sumpfiges Gelände. Alles hat seine eigenen Gefahren: scharfe Kurven wollen ausgeglichen werden, Wurzeln muss man grundsätzlich meiden (da oft superrutschig vom Tau oder Regen), auch Steine sind trügerisch: einerseits bieten sie stabilen Untergrund (wenn groß genug), wenn man aber auf ihnen rutscht, ist es ganz besonders schlimm. Am schönsten ist es eigentlich, wenn es sanft nach unten geht, möglichst mit Gras und ohne Geröll, aber die Hardcore-Trailrunner werden mir natürlich widersprechen, denn die wollen beständig ans Limit gehen.

Mir persönlich liegen besonders die Uphills, die man eher langsam und stetig angeht, und bei denen es auf Ausdauer und Beharrlichkeit ankommt. Manch Läufer, den man vorher wie eine Gazelle den Weg entlangspringen sah, wird dann mit jedem Höhenmeter immer langsamer, weil die Kraft in den Beinen nachlässt. Aber ich liebe es (auch wegen leider immer wieder auftretenden Problemen mit Plantarfaszitis)!

Man kann Murakami nur verstehen, wenn man (wie er) läuft, vieles, was er in seinem berühmten Buch beschreibt, wird dann ganz anschaulich. Ich ertappte mich dabei, wie ich an bestimmten Momenten sogar daran dachte, eine Art „Maschine“ zu sein, um Motivationslöcher zu überwinden.

Was in Frankreich (wie gesagt, nirgendwo sonst auf der Welt gibt es so viele Trailrunner) auffällt, ist die Umgangsform auf der Strecke. Denn natürlich gibt es gerade bei engen Stellen immer die Frage, wie genau man überholt oder überholen lässt (ich erlebte natürlich eher letzteres – die meisten Läufer sind jünger und schneller und die Gleichaltrigen oft härter als Chuck Norris). In Deutschland oder anderswo hört man meist gar nichts oder nur ein gezischtes „links“ oder „rechts“, wenn man überholt wird. In Frankreich läuft der hintere Läufer erst ein bisschen geduldig im eigenen Tempo mit, um dann höflich zu fragen „Könnte ich bitte links/rechts überholen“, gefolgt von einem „Merci beaucoup“ nach vollzogenem Akt. Das ist tatsächlich irgendwie charmant und liebenswürdig, ebenso wie die Familien an der Strecke, die einem im jeden durchlaufenen Dorf zujubeln und anfeuern.

Toll waren auch die „Aid Stations“ – anderswo bekommt man oft irgendein billiges Zeugs, in Millau gab es Brote mit Roquefort (aus der Region!), leckeren Käse und vieles andere. An manchen Essensstationen hätte man sich sicherlich auch hinsetzen und einen Wein bestellen können, manche Läufer veranstalteten auch spontane Picknicks mit ihren Familien. Man muss allerdings der Versuchung widerstehen – diszipliniert füllte ich schnell meine Wasserflaschen und rannte sofort weiter, denn sonst wird es nichts mit dem PB (Personal Best).

Ohne dass ich es ahnen konnte, hatte es den armen Doug (ungefähr doppelt so schnell wie ich) schon mit Krämpfen erwischt, bei Kilometer 60 gab er auf (DNF = did not finish), da er wusste, dass er seine Bestzeit nicht toppen würde und um sich zu schonen. Bei Corina lief es besser, sie wurde am Ende zweiter ihrer Altersklasse und 18. insgesamt, was bei einem absoluten Elitefeld eine große Leistung ist.

Ich aber war noch unterwegs, die üblichen Höhen und Tiefen eines Ultralaufs durchlaufend, mit zunehmend schmerzenden Füßen, aber doch insgesamt guter Dinge. Auf meiner Uhr sah ich, dass nun der allerletzte Anstieg kommen würde, auf den ich mich sogar freute, denn das tut den Füßen nicht so weh. Es begann recht harmlos und schnell erreichte ich einen Punkt, den ich für den Gipfel hielt, der sich aber als Beginn einer längeren Runde um den Berg entpuppte. Auf dem Weg rief uns ein Helfer zu „ihr habt es fast geschafft“, was natürlich meine Laune hob. Aber ich freute mich zu früh.

Man hätte es ahnen können am Wetterbericht, der auf meinem Handy für den Tag eine kleine Gewitterwolke vorhergesagt hatte. Es hatte am Tag schon mehrmals genieselt, aber inzwischen hatte sich die Situation doch ein wenig verschärft: einerseits wurde es schon langsam wieder dunkel nach 13 Stunden, andererseits verschärfte sich zunehmend ein immer stärkerer Wind.

Der vor uns liegende Weg führte um den Berg herum, auf einem schmalen Rand am Abgrund entlang. Nun ist eine solche Situation auch ohne Wind nicht ganz ohne, was die Gefährlichkeit angeht. Mit dem inzwischen langsam zu einem Orkan anwachsenden Wind war sie es umso mehr, vor allem, wenn man zunehmend nur noch den Bereich direkt vor einem sah im Schein der Kopflampe. Hinzu kam, dass der Wind ständig wechselte. Man ahnt es schon: an der Bergseite weht der Wind meistens nicht vorbei, sondern es gibt Winde, die einen von unten nach oben schieben, oder – was wesentlich schlimmer ist – als Fallwinde von oben nach unten.

Letzteres wurde dem vor mir laufenden und ca. 1,90 großen Läufer fast zum Verhängnis. Wie wir alle benutzte er seine Stöcke, um sich gegen den tückischen Wind wenigstens am Pfad ein wenig abzusichern. Der dem Abgrund zugeneigte Stock stocherte aber in der zunehmend schlechteren Sichtbarkeit (inzwischen flog auch allerlei Zeugs durch die Gegend) neben den Pfad, sprich: ins Leere, und für einen kurzen Moment drohte er, das Gleichgewicht zu verlieren.

Gottseidank fing er sich, aber das war der Moment, in dem mir das Ganze nicht mehr so viel Spaß machte. „Zum Glück sind wir ja schon oben“, dachte ich mir, aber weit gefehlt. Als wir zunehmend nervösen Läufer:innen um die Ecke kamen, sagte man uns „Gratulation, nur noch ein kleiner Anstieg liegt vor euch, dann habt ihr es geschafft“. Nun traute ich den Worten schon nicht mehr ganz, da man uns schon einmal gefoppt hatte, aber nun denn, aufwärts schien immerhin besser als auf dem engen Pfad am Abgrund herumzuturnen! Und ja, es ging aufwärts: steil, dann steiler, und dann noch ein bisschen steiler. Inzwischen war es stockdunkel und man konnte kaum noch etwas erkennen. Ich konzentrierte mich also immer auf den Boden direkt vor mir, ein Schritt nach dem anderen. Der Wind riss einen zunehmend herum, einmal verlor ich fast den Halt und wurde von meinem Hintermann nach oben gedrückt. Nun wurden auch die Stöcke immer unbenutzbarer, denn die Abstände zum nächsten Felsen wurden immer größer, so dass man zunehmend die Hände einsetzen musste, um sich hochzuziehen. Man hatte mir schon erzählt, dass der letzte Teil sehr „technisch“ werden würde, was man mir aber nicht gesagt hatte war, dass ich wie ein Reinhold Messner ungesichert an einer steilen Felswand hochklettern sollte.

Wie ein Sisyphos kämpfte ich mich von Vorsprung zu Vorsprung. Selbst windstill und bei Helligkeit wäre das nicht ganz ohne gewesen, aber mit dem inzwischen orkanartigen Wind und der Dunkelheit war es zunehmend ein einziger Schrecken. Ich merkte, dass die Läufer um mich herum immer stiller wurden (die Franzosen reden ansonsten ohne Unterlass beim Laufen) und eine gewisse existenzielle Angst sich breit machte. Es wurde auch zunehmend unklarer, wo denn nun die Kletterroute weitergehen sollte, da die sonst zuverlässigen Zeichen einfach nicht mehr zu erkennen waren. Über mir waren zwei verschiedene Vorsprünge zum Hochziehen, aber welchen sollte ich nehmen? Wie in einem Abenteuerspielbuch entschied ich mich spontan für „rechts“, wunderte mich allerdings, dass mir niemand folgte. Noch etwas höher kletternd wagte ich einen Blick zurück, um zu schauen, wo die anderen geblieben waren. Der Wind klang noch einmal anders, irgendwie ungefiltert. Alles um mich herum schien sich zu bewegen und zu schwanken, ich selbst auch.

Nach Nietzsche schaut ja der Abgrund zurück, wenn man hineinschaut. Aber in diesem Fall schaute mich gar nichts an. Denn ich sah folgendes:  Ich befand mich einfach plötzlich vollkommen ungesichert und allein an einem hervorstehenden Felsvorsprung, der über den Abgrund hinausragte, unter mir nichts außer tiefer Schwärze. Noch nicht einmal um Hilfe rufen konnte ich, denn niemand hätte mich verstanden. Es war ja auch niemand mehr zu sehen!

Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr genau, wie ich diesem Vorsprung entkam. Ich nehme an ich bin rückwärts wieder hinunter und den anderen Weg hoch, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. In diesem Moment hatte ich mit allem abgeschlossen, es hätte mich auch nicht überrascht, wenn jetzt plötzlich mein Leben an mir vorbeigezogen wäre, wie es immer heißt. Fast mechanisch kletterte ich weiter.

Irgendwann erreichten wir eine Art Plateau und eine vom Wind geschützte Höhle, die man kurz durchquerte. Am Ausgang saß dick vermummt ein Streckenposten und gratulierte uns, dass wir den letzten Anstieg jetzt geschafft hätten. „F*** me right now“, dachte ich, und lief weiter.

Und ja, als wir um die Ecke kamen, lag vor uns ein weiterer Anstieg. Ich schaute nach oben. Ganz weit oben, in der Ferne, waren ein paar Lampen zu erkennen, die sich langsam bewegten, vermutlich Läufer, vom Wind hin-und hergerissen. Das war der Moment wo ich etwas dachte, was man auf Englisch ungefähr als „you gotta be f****** kidding me“ ausdrücken würde.

Wie ich endlich die Bergspitze erreicht habe, kann ich nicht mehr genau beschreiben. Ich erinnere mich nur noch, über ein weitflächiges Plateau ohne irgendeine Vegetation gelaufen zu sein und daran gedacht zu haben, dass ja nun auch Gewitter angesagt war und das vielleicht nicht der ideale Aufenthaltsort wäre.

Die inzwischen kleine verschworene Läufergemeinschaft um mich herum (wir hatten uns alle in der Zwischenzeit mehrfach das Leben gerettet vermutlich, indem wir uns immer wieder gegenseitig hochschoben und festhielten) wirkte stumpf und gebrochen. Der vor uns liegende lange Abstieg hatte jegliche Vorfreude auf das Ziel verloren. Wie alte Greise und Greisinnen hielten wir uns an jedem kleinen Gebüsch oder Ast fest, denn die Trasse nach unten war vom Regen rutschig und anhaltend gefährlich, wenn auch wenigstens nur noch teilweise am Abgrund und gelegentlich von Seilen gesichert (manchmal aber auch nicht). Ich glaube ich brauchte für einen Kilometer eine Stunde, zumindest fühlte es sich so an. Ich muss übrigens nicht erwähnen, dass es dann noch einmal vollkommen unverhofft einen steilen Aufstieg gab, aber das war mir inzwischen egal, ebenso wie meine Zielzeit. Vielleicht gab es auch kein Ziel mehr, sondern nur noch endlose Schwärze, wie im neunten Kreis der Hölle oder so ähnlich.

Normalerweise freue ich mich immer auf den Zieleinlauf, aber dieses Mal fühlte ich mich einfach nur noch zornig. Hätte Alecsa nicht im Ziel auf mich gewartet und mich mit dem Nötigsten versorgt, hätte ich vermutlich einfach nur in irgendeiner Ecke gekauert und an die Wand gestarrt, so wie am Schluss vom „Blair Witch Project“.

Nun denn, es war ein schöner Lauf.

Moritz Eggert, 25.10.22

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