„Wir brauchen mehr Marketing!“ – Gerald Mertens – seriously?
Gerald Mertens von der Deutschen Orchestervereinigung sagt in einem heute veröffentlichten Artikel zur Lage der Klassik-Ticket-Verkaufseinbrüche „nach“ Corona: „In der Tat kann man an den Auslastungszahlen manch großer Sommerfestivals sehen, dass das Publikum zur klassischen Musik zurückgekehrt ist. Und auch die Zahlen für Abonnements sind nicht so schlecht, wie man es vermuten könnte: Die Tonhalle Düsseldorf ist mit ihren Abo-Zahlen auf Vor-Corona-Niveau angekommen, die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz konnte bei den Abonnentenzahlen ein Plus von 51% einfahren.“
Das verwundert mich sehr, schrieb doch die „Süddeutsche Zeitung“ (klar: zahlenmäßig auf das Opernpublikum bezogen) am 15. Juni 2022: „Das Publikum zögert, die Ränge bleiben lückenhaft besetzt. An einigen Häusern kann man von einer dramatischen Entwicklung sprechen. Die Deutsche Oper am Rhein mit den Spielstätten Duisburg und Düsseldorf teilt auf SZ-Anfrage mit, sie habe die Hälfte ihres Publikums eingebüßt. Die Deutsche Oper Berlin meldet bis zu 30 Prozent Schwund, [das Staatstheater] Nürnberg immerhin noch 25 Prozent. Alle hoffen, dass der Trend bis Ende des Jahres aufgehalten oder gar wieder umgekehrt werden könne, aber wirklich sicher ist sich niemand.“
„Niemand!“ Außer, so könnte man sagen: Gerald Mertens (DOV)! Oder gibt es einen so himmelweiten Unterschied zwischen Konzert- und Opernpublikum? Quatsch!
Aber schauen wir uns an, was Gerald Mertens als „Lösungsvorschlag“ in der (Sakko-)Tasche hat: „Mehr ins Marketing investieren! Klassikaffine Menschen – immerhin zehn bis zwanzig Prozent der Bewohner in Deutschland – müssen gezielt angesprochen werden. Man kann nicht dort weitermachen, wo man vor Corona aufgehört hat.“
Äh, wo hat man denn „vor Corona“ bitte „aufgehört“? Und wer genau?
Abschließend soll Gerald Mertens (DOV) dann – tolle Idee – den folgenden Satz ergänzen: „Es wird eine für alle erfolgreiche und gewinnbringende Spielzeit, wenn …“
AOV) Die Programme besser/diverser/mutiger werden.
BOV) Wir IntendantInnen haben, die nicht nur ihre nächste Intendanz bereits vorbereiten, indem KünstlerInnen engagiert werden, die vor lauter Engagements total überlastet (und vielleicht auch künstlerisch gar nicht so spannend) sind!
COV) Wir endlich das Bildungsproblem angehen, denn, wenn wir unseren Kindern und Jugendlichen nur Fatshaming auf Instagram beibringen (uns gleichzeitig aber in der woken Filterbubble wähnen), dann wird das „Publikum von morgen“ (das es mit „Yo! Mozart ist cool!“-Projekten so nicht geben wird) nicht offen für kulturelle Vielfalt sein, die es mit sich bringt, dass wir möglichst alle Facetten gesellschaftlichen/religiösen/sexuellen Lebens beispielsweise auf den Musiktheaterbühnen abgebildet sehen.
oder
DOV) Sich die Veranstalter auf ihre inneren Werte besinnen und das Marketing dafür erheblich hochfahren.
Richtig: Gerald Mertens (DOV) hat sich für die Antwort „DOV“ entschieden.
Marketing! Endlich!
Doch: Was soll das überhaupt sein? An welchem subventionierten Opern- oder Konzerthaus besteht denn bitte ein Mangel an Marketing(maßnahmen)? Und warum werden die SkeptikerInnen von Mertens in dem besagten Artikel als „Unkenrufer“ bezeichnet? Wir sprechen von Fakten – und haben vielleicht einfach kein Bock auf scheinheilige Klassik-Galas mit anschließendem Fleischbällchen-Overkill-Konsum am Büfett. Und auf verdrängerisches Dauergrinsen auch nicht.
Doch zuvor sagt Mertens noch: „Kluge Großeltern erkennen den Wert einer gemeinsamen Vorstellung von „Hänsel und Gretel“ und verzichten lieber auf ein rein materielles Weihnachtsgeschenk.“
Woher weiß er das? Und: An Vorstellungen von „Hänsel und Gretel“ (ich darf hier bereits jetzt die Dezember-Ausgabe des Magazins meines Haupt-Arbeitgebers – der „Opernwelt“ – empfehlen!) mangelt es, oder was? #marketing
Nein. Absolut nicht. Nie gab es so viele Vorstellungen von „Hänsel und Gretel“ wie dieses Jahr!
Beweise? Denn ich habe mal geschaut …
Im deutschsprachigen Raum wird es an folgenden Tagen im Dezember 2022 „Hänsel und Gretel“ geben …
Annaberg-Buchholz
Winterstein-Theater
www.winterstein-theater.de
17. (Aue), 25., 27.
Chemnitz
Theater Chemnitz
www.theater-chemnitz.de
13., 26.
Düsseldorf
Deutsche Oper am Rhein
www.operamrhein.de
7., 9., 12, 20., 27.
Duisburg
Deutsche Oper am Rhein
www.operamrhein.de
18., 23., 29.
Flensburg
Schleswig-Holsteinische Landestheater
www.sh-landestheater.de
10., 14., 26. (Flensburg), 29. (Rendsburg)
Frankfurt/Main
Oper Frankfurt
www.oper-frankfurt.de
1., 8., 15., 19., 22., 26.
Hagen
Theater Hagen
www.theaterhagen.de
9., 25.
Halberstadt/Quedlinburg
Nordharzer Städtebundtheater
www.harztheater.de
3. (Quedlinburg), 8. (Salzwedel), 11., 17. (Güstrow), 25. (Halberstadt),
Halle
Oper Halle
www.buehnen-halle.de
2., 4., 5., 18., 19., 26.
Hamburg
Staatsoper
www.hamburgische-staatsoper.de
1., 6., 11.
Hannover
Staatstheater Hannover
www.oper-hannover.de
1., 3., 11., 12., 15., 20., 25.
Karlsruhe
Badisches Staatstheater
2., 14., 15., 25.
Leipzig
www.oper-leipzig.de
Opernhaus
4., 18., 19., 20., 26.,
Lübeck
Theater Lübeck
www.theaterluebeck.de
10., 22., 30.
München
Bayerische Staatsoper
www.staatsoper.de
9., 10., 12., 18.
München
Gärtnerplatztheater
www.gaertnerplatztheater.de
15., 16., 18., 19., 22., 23., 27.
Nürnberg
Staatstheater Nürnberg
www.staatstheater-nuernberg.de
3., 9., 12., 23., 25.
Oldenburg
Oldenburgisches Staatstheater
www.staatstheater.de
18.
Pforzheim
Theater Pforzheim
www.theater-pforzheim.de
1., 13., 20., 25.
Radebeul (Premiere)
Landesbühnen Sachsen
www.landesbuehnen-sachsen.de
1., 4., 9., 15., 16., 18., 23. (Landesbühne), 13. (Großenhain Schloss) (Adaption)
Stuttgart
Oper Stuttgart
www.oper-stuttgart.de
11., 17., 20.
Wien
Volksoper
www.volksoper.at
10., 11., 15., 23., 25., 29.
Wiesbaden
Hessisches Staatstheater
www.staatstheater-wiesbaden.de
4., 11., 17., 23., 26.
Nein! Die Krise ist längst da. (Auch an der Flut von „Hänsel und Gretel“-Inszenierungen abzulesen.) Im Grunde hört man aus allen Häusern, die nicht gerade Netrebko, Kaufmann oder „mutige und couragierte Star-Pianisten“ (die dann aber doch mit Currentzis und Gergiev auftreten/aufgetreten sind) am Start haben, von größten Sorgen, von fast leeren Sälen. Erstmals seit Jahrzehnten gab es selbst in der Staatsoper Wien nicht ausverkaufte Premieren. Ich wiederhole: Staatsoper Wien, nicht ausverkaufte Premieren. Es tut mir leid, aber ich finde die Äußerungen von Gerald Mertens naiv, wenn nicht gefährlich, wenn nicht völlig inkompetent. Sorry (no sorry).
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.