Was ist Musikvermittlung? – Teil 1

Ich mag vorgestellte Situationen, in denen man sagt: „Wann war eigentlich dies oder jenes zum ersten Mal da?“ Florentin Will und Stefan Titze haben in ihrem Podcast „Das Podcast Ufo“ immer wieder – mit dem Mittel der Comedy – eben diese Frage gestellt. Fragen wie: „Wann hat sich jemand zum ersten Mal gedacht: Lass getrockneten Mais mit etwas Öl in einen heißen Topf geben? Was war das also für eine Situation, in der jemand Popcorn erfunden hat?“

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Solche Fragen sind legitim. Man sollte sich nicht als Geisteswissenschaftler*in so anstellen und immer voranstellen: „Alles war eine Entwicklung – und alles ist sehr komplex.“ Denn häufig schwingt da mit: „Ihr könnt das so schnell nicht verstehen.“ Wenn wir uns wirklich fragen wollen: „Was ist Musikvermittlung?“, dann möge hiermit ein erstes Gesetz der Musikvermittlung formuliert werden: Ausgrenzung ist schlecht.

Die Frage „Was ist Musikvermittlung?“ historisch zu beantworten, das bedeutet wohl, zu fragen: „Wann ist Musikvermittlung eigentlich entstanden?“ Und hier gibt es tatsächlich – wie immer in den Geisteswissenschaften – zahlreiche Ansatzpunkte, die mit der individuellen Position im Hinblick auf eine persönlich wünschenswerte, gute Musikvermittlung verknüpft sind. Da ich niemanden ausgrenzen will, will ich auch keine musikalische Epoche, ja, sogar keine Phase der Menschwerdung auslassen: Musikvermittlung beginnt für mich da, wo Musik entsteht.

Wann ist also Musik entstanden? Auch auf diese Frage gibt es einige Antworten. Musikarchäolog*innen beschäftigen sich damit ein Leben lang. Relativ deutlich wurde in den letzten Jahren: Das Musikmachen, das nicht mit der menschlichen Stimme, sondern mit Instrumenten erfolgt, ist möglicherweise circa 50.000 Jahre alt. Vieles deutet darauf hin, dass die ersten Instrumente Knochenflöten waren. Einige der frühesten Funde stammen aus dem schwäbischen Raum. Der Erfindergeist der Schwäbinnen und Schwaben: Schon damals war er wirksam (das Unsympathische an Dialekt und keckem Ekel-Kapitalismus der Schwäbinnen und Schwaben mal weggedacht).

Knochen also. Von kleinen Säuger*innen, die sehr wahrscheinlich vorher gegessen und deren Reste verscharrt wurden – und vielleicht irgendwann einmal wieder auftauchten. Beim nächsten Ausheben einer kleinen Grube, die man grub, um Essensreste wieder zu verscharren. Denn das war vielleicht längst klar: Fleischreste riechen nach ein paar Tagen nicht mehr gut. Deshalb vergräbt man besser Essenreste – oder ernährt sich gleich vegetarisch. Aber soweit waren unsere urigen Vorfahren noch nicht. Sad.

Da findet also jemand irgendwo in (oder auf) der Schwäbischen Alb vor ca. 50.000 Jahren, der in seinem Höhlenstamm „Essensrestewegbringdienst“ hat, einen kleinen Knochen. Von einem Tier, so wollen wir Vegetarierinnen wenigstens hoffen! (Also kein Knochen, der auf die Machenschaften ominöser Kannibalistinnen zurückgeht.) Der Knochen ist hohl. Warum auch immer. Nein, nicht „warum auch immer“. Viele Knochen sind hohl, weil zum Beispiel Rückenmark oder anderes Gewebe im Knochen steckt. Und natürlich verwest. Der Knochen nicht. An dem einen Ende (es könnte auch der Anfang sein) spitzt sich der Hohlraum zu. Unsere schwäbische „Essensrestewegbringdienst“-Person jedenfalls – sagen wir ruhig: es handelt sich dabei um einen Mann – hat die Zeit, hat die Freizeit (ohne die Kultur kaum möglich erscheint) und ist auch bescheuert genug, sich zu denken: „Mmh, da sind ja gar keine Fleischreste mehr dran!“ Trotzdem spült er den kleinen hohlen Knochen besser mal an dem Fluss unweit der Stammhöhle ab. „Sicher ist sicher!“ – so lautet das (natürlich in der damaligen, wahrscheinlich sehr archaischen, etwas einsilbigen Sprache formulierte) Motto; neben Feinden (dem Säbelzahntiger und anderen süßen Untieren) ist bereits gelernt worden: Schlecht Riechendes wird nicht gegessen. Und die Pflanzen, die bereits gegessen und als bei einem Großteil (oder sogar der Gesamtheit) des Stammes als Übelkeit auslösend bewertet wurden, auch nicht.

Der Knochen ist sauber. Unser Protagonist, der gleich den Startpunkt meiner bescheuerten Erzählung „Was ist Musikvermittlung, Teil 1“ geben wird, denkt sich: „Ach komm, scheiß drauf!“ Nein, Entschuldigung. Der Satz war noch nicht fertig. Er denkt sich: „Ach komm, scheiß drauf, ich blas mal hinein!“ Ein klares, lautes Pfeifen entsteht. Fast ohne Nebengeräusche. Schon scheinen die vorbeiziehenden Vögel (es ist später Nachmittag) Antwort geben zu wollen. Noch einmal bläst Uwe (ich sagte doch, dass er Uwe heißt, oder?) hinein. Ein spitzer, aber nicht unschöner Ton. Leicht klagend in der Anmutung. Intonatorisch leicht abfallend am Ende. Ein Ruf der Sehnsucht, aber auch ein Stammeszusammengehörigkeitsruf; vielleicht. Doch so weit denkt Uwe noch nicht. Er befindet sich etwa 150 Meter abseits der Haupthöhle. Richtung Flussufer. Die anderen liegen teilweise schon erschöpft vor der Höhle oder knapp im Eingangsbereich (das sie spaßeshalber „Foyer“ nennen). Zwei aus der etwa 20 Urmenschen zählenden Gruppe kommen sofort angelaufen; angerobbt. Was auch immer. Mehr als Quasi-Impuls als aus einem wirklichen Reagieren heraus. Wie ein Reflex des komplett Überrascht-Seins …

Wir müssen kurz unterbrechen: Ist es wirklich glaubhaft, dass ein reiner Ton am Anfang der Musikgeschichte, den Anfang aller Musikvermittlung stand? Wurde nicht bereits längst durch diverse Zahnlücken gepfiffen? Wir kennen das. Also: wir Zahnlückenbesitzer*innen. Ein gezielter Stoß durch den engen Zwischenraum unserer Beißerchen. Auch ein Pfeifen, logisch. Aber seien wir nicht so streng.

[Fortsetzung folgt.]

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.