Die „Gereiztheit unserer Zeit“. Oder: Vom Umgang mit Kritik.
Die „Gereiztheit unserer Zeit“. Oder: Vom Umgang mit Kritik.
Eine der ersten Tugenden, die man als Schüler oder Student lernt, ist Kritik annehmen zu können. Man lernt, dass kritische Anmerkungen nicht persönliche Beleidigungen sind, sondern ein wichtiges konstruktives Feedback darstellen. Man lernt, sich nicht gleich vorauseilend zu verteidigen oder zu wehren, sondern erst einmal zuzuhören, was als Kritik vorgebracht wird. Mit steigendem Selbstbewusstsein entwickelt man dann im Idealfall einerseits eine eigene Selbstkritik wie auch die Fähigkeit, mit Kritik von außen richtig umzugehen – diese anzunehmen, wo sie gerechtfertigt ist, und im Gegenzug auch die eigenen Argumente zu schärfen, wo man sich gegen diese Kritik behaupten will.
Auf diesen grundsätzlichen Prinzipien gründet unsere gesamte Bildung sowie alle wissenschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte. Ein aufgeschlossener akademischer Diskurs besteht aus Kritik und Gegenkritik. Die Möglichkeit, sich stets hinterfragen zu können, ist ein essenzieller Teil von Bildung und Kultur.
In dieser großen und wichtigen Tradition gilt es nicht als schwach, sich Kritik auszusetzen, sondern nur, wenn man Kritik gar nicht erst zulässt.
Man möge mir diese belehrende Einleitung verzeihen, denn im Grunde wissen wir das ja alle. Nur scheinen diese grundsätzlichen Tugenden zunehmend in Vergessenheit zu geraten, vielleicht der „Gereiztheit dieser Zeit“ (wie es Patrick Bahners vor kurzem in einer Mail trefflich ausdrückte) geschuldet.
Diese „Gereiztheit“ könnte der Grund dafür sein, dass der Bad Blog zunehmend mit Menschen zu tun hat, die Kritik nicht vertragen können. Das an sich wäre kein Problem. Wenn aber dann in Folge dieser Empfindlichkeit mit Anwälten, Schadensersatzklagen, Maulkörben, Übertreibungen und Streitwerten operiert wird, hört der Spaß auf. Dass die Pressefreiheit in Deutschland in der letzten Zeit Schaden genommen hat, liegt nicht etwa daran, dass z.B. „Querdenkern“ der Mund verboten wird (ganz im Gegenteil – diese bekommen eher extra viel Aufmerksamkeit), sondern dass die Angriffe auf Journalist: innen zugenommen haben. In dieses Bild passen auch die anonymen antisemitischen Hasskommentare, die der Bad Blog seit einiger Zeit bekommt.
Wie die grundsätzliche „Gereiztheit“ zugenommen hat, mögen die vier folgenden Geschichten illustrieren, die sich inzwischen auffällig häufen, drei davon betreffen den Bad Blog, eine nur indirekt. Zumindest eine davon hat sogar eine Art Happy End. Immerhin.
EINS
Die Bassistin XYZ* (inzwischen auftretend als WYZ*) war nicht glücklich, wie der Bad Blog in einem 10 Jahre alten Artikel über sie berichtete. Sie war auch nicht glücklich mit anderen, die über sie berichteten. Sie war wahrscheinlich generell nicht glücklich mit vielen Dingen, denn wie auf ihrer Seite der „XYZ Künstler:innen“ zu lesen ist: „Die XYZ Künstler:innen werden nach langjährigen, aber erfolgreichen Gerichtsprozessen beim xxxxx Handelsgericht und Landesgericht für Zivilrechtssachen ab Winter 2019 ihre künstlerischen Tätigkeiten fortsetzen.“
Da kann man sich zwischen den Zeilen vieles denken, das wir hier nicht weiter erörtern müssen, denn dann wäre XYZ schon wieder unglücklich, und das will ja keiner.
XYZ* war aber auch nicht glücklich mit Sätzen in dem Bad Blog – Artikel, die sich nur auf ihre Gesangskünste beziehen.
Nun mag XYZ* eine großartige Bassistin und äußerst reizende, zuverlässige und kompetente Person sein, das sei ihr unbenommen. Es ist ihr Recht, gegen z.B. offensichtliche Fehlbehauptungen vorzugehen (wobei man natürlich endlos vor Gericht verhandeln kann, was Fehlbehauptung ist und was nicht). Aber sie hat eben auch ein mit Anwaltsschreiben untermauertes Unbehagen über Kommentare zu ihren sängerischen Fähigkeiten empfunden, und das macht ein ganz unerwartetes Fass auf, zumindest juristisch. Denn eigentlich bedeutet das nun, dass ab jetzt alle Musizierenden genau wie Frau XYZ gegen alle schlechten Kritiken klagen könnten, die sie je bekommen haben. Was die Gerichte dann alles zu tun hätten, es wäre der Wahnsinn! Es wäre eine Welt, in der sich kein Kritiker mehr traut, auch nur ein einziges kritisches Wort über irgendeine Interpretation zu verlieren, eine Welt, in der alle immer nur bewundert werden müssen, quasi das Nordkorea der Klassik. Wem würde das Spaß machen? Gehören nicht gerade die unterschiedlichen Meinungen zum Musikbetrieb dazu? Muss man alles gleich gut finden, darf es keine abweichenden Meinungen geben?
Menschen sind in der Lage, persönliche Einschätzungen von apodiktischen Behauptungen zu trennen. Wenn ich also äußere, dass mir der Gesangsstil von Frau XYZ nicht sehr gefällt (und das tut er auch wirklich nicht), dann ist das allein meine Perspektive, meine persönliche Meinung. Jemand anderes könnte sie aber mit gleichem Recht als die neue Callas loben.
Ob man sich dauerhaft Freunde macht, wenn man nur das letztere genehm findet, mag dahingestellt sein.
*Namen von der Redaktion verändert
ZWEI
Auch die Initiative „Aufstehen für die Kunst“ schreibt gerne erzürnte Briefe, in denen sie uns vorwirft, wir wollten sie mit Bad Blog – Artikeln „diffamieren“ und uns damit „persönlich profilieren“. Nein, wollen wir nicht. Wir haben nur einige kritische Dinge angemerkt. Interessant am Fall „Aufstehen für die Kunst“ ist, dass unsere Kritik an dieser Initiative eigentlich eine Erfolgsgeschichte ist – denn tatsächlich wurden daraufhin viele Dinge bei der Initiative verändert (was ja im Umkehrschluss bedeutet, dass es tatsächlich etwas gab, was man verbessern konnte).
Waren nämlich anfangs die Unterstützer: innen der Initiative etwas zu vereinnahmend und nicht immer ganz korrekt aufgelistet (so hatte sich zum Beispiel keineswegs die gesamte Bayerische Akademie der Schönen Künste hinter die Initiative gestellt, was missverständlich dargestellt wurde), so wurde dies nach unserer Kritik korrigiert und deutlich sorgfältiger gehandhabt. Auch, dass auffällig viele rechtslastige Coronaschwurbler die Initiative von außen für ihre Zwecke kapern wollten, sahen wir kritisch, dies räumt die Initiative inzwischen auch selbst ein und handelte umgehend:
„Wir haben eventuell einen Fehler begangen, den Artikel „Kulturtod ohne Trauernde“ von Johanna und Frank Wahlig auf unserer Website zu posten, ohne Hintergrundinformationen über die Plattform einzuholen, auf der er veröffentlicht wurde. Diese Plattform ist tatsächlich umstritten. Nachdem wir davon Kenntnis erhalten haben, haben wir umgehend eine Stellungnahme gepostet und auch den Artikel von unserem Facebook-thread entfernt.“ (Zitat aus einer Mail vom 7.5.2021 an die NMZ, unterzeichnet von Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Hansjörg Albrecht, Kevin Conners und Christian Gerhaher)
Man kann also feststellen, dass die Initiative „Aufstehen für die Kunst“ in der Lage war, auf Kritik einzugehen und sie umzusetzen, das sehe ich als ein positives Zeichen. Warum dann aber diejenigen, die diese Kritik geübt haben (Alexander Strauch und ich), nun von eben dieser Initiative als „infam“ (Zitat aus obiger Mail) dargestellt werden, kann man nicht wirklich verstehen, vielleicht ist aber auch das der „Gereiztheit dieser Zeit“ geschuldet.
Ich gebe gerne zu: ich werde persönlich mit der Grundidee von „Aufstehen“ nicht warm, denn anders als sie glaube ich nicht daran, dass es eine böswillige Aussetzung der Kunstfreiheit darstellt, wenn man pandemiebedingte Maßnahmen durchzuführen gezwungen ist, die mehr oder weniger fast alle betreffen, nicht nur die Künstler. Aber das ist eine inhaltliche Kritik und nicht der Versuch, „Aufstehen für die Kunst“ oder die agierenden Personen zu „diffamieren“. Wie sinnvoll es ist, jetzt noch – wo die Opernhäuser eh schon wieder beginnen, vor Publikum zu spielen – Popularklagen weiterzuverfolgen, die sich darüber beschweren, dass man keine Opern spielen darf, könnte man auch diskutieren. Und wenn AfdK dann tatsächlich die Genugtuung erhält, dass sie im Nachhinein „Recht“ bekommen, was bringt das dann? Und wie Martin Hufner richtig im letzten NMZ-Newsletter feststellte, hat das Ganze vielleicht sogar der Musik einen Bärendienst erwiesen, denn nun wurde gerichtlich festgestellt, dass u.a. Streaming der Kunstfreiheit genügt – und so richtig glücklich bin ich damit nun auch nicht. Nun gut, inzwischen will man nun wohl vor den Europäischen Gerichtshof, nachdem die bisherigen Klagen gescheitert sind.
Andererseits muss ich selbstkritisch sagen, dass ich unterschätzt habe, für wie viele Künstler: innen allein schon der Akt des Protestierens auch etwas Therapeutisches hat in diesen schwierigen Zeiten. Es geht nicht immer darum, wie praktisch sinnvoll der Protest ist, allein die Geste hilft, gegen die durch die Situation erzwungene Lethargie anzukämpfen. Das kann ich verstehen und respektiere es auch, deswegen nehme ich das den Unterstützern von „Aufstehen“ auch nicht übel. Ich verstehe, warum sie etwas tun und nicht Herumsitzen wollen.
Vielleicht kann man irgendwann gemeinsam bei einem Bier mal nett über die ganze Geschichte reden, wenn der Zorn sich gelegt hat.
DREI
Julia Neigel. Und nochmal: Julia Neigel. Oder auch Julia Neigel.
Julia Neigel ist eine quirlige und lebendige Kämpferin für die Rechte von Musikerinnen und Musikern. Sie ist „eine der 4 Initiatoren des offenen Briefes zum Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt“, hat „dieses Jahr mehrere Gespräche im Justizministerium in Berlin wegen unserer Branche mit der Ministerin geführt“ und führt „monatlich Zoom-Konferenzen mit dem BMAS und Wirtschaftsministerium“. Sagt sie selbst, und es stimmt alles.
Sie verbreitet auch Posts von Stefan Hockertz, in denen er behauptet, dass das Impfen „millionenfach vorsätzliche Körperverletzung“ ist, tritt mit Kilian „Ich bin ein absoluter Verfechter der Verschwörungstheorie“ (Minute 50:30 in diesem Video) Forster beim Fake-News Sender Nuoviso auf, bei dem u.a. Holocaustleugner wie Nikolai Nerling gefeaturet werden und man die schlimmsten Verschwörungstheorien en masse verbreitet. Dort äußert sie u.a. großes Verständnis für den Mythos, dass Corona von Bill Gates „vorgeplant“ worden sei („Ich glaube nicht, dass das alles ein Zufall ist“, Julia Neigel 50:24). Sagt sie, aber dieser Bill Gates – Mythos stimmt halt leider nicht.
Das sind verschiedene Facetten ein und derselben Person. Man mag die eine Facette schätzen, die andere kritisch sehen. Nein halt, letzteres darf man nicht, denn Julia Neigel mag nicht, wenn sie für bestimmte Äußerungen kritisiert wird.
Liebe Julia Neigel, wenn Sie dies lesen: Sie sind sicher eine tolle Frau und eine wunderbare Sängerin. Keineswegs sind Sie nahe irgendeinem „Extremismus“ (haben wir übrigens auch nie gesagt, wenn sie Alexander Strauchs Artikel genau gelesen hätten), das Gegenteil ist der Fall: Sie suchen nur die kritische Diskussion und lassen sich nicht den Mund verbieten. Finden wir vollkommen ok.
Gestatten Sie mir aber eine Frage: Sie teilen ja sehr mit Kritik gegen z.B. unsere „von Steuergeldern bezahlten“ Politiker aus, gehen hart und mit Verve mit allen möglichen Menschen ins Gericht, ja, sind selbst auch politisch tätig. Wie fänden Sie es, wenn jeder einzelner dieser von Ihnen so kritisierten Menschen drohen würde, Sie abzumahnen deswegen? Vielleicht kommt einer auf die Idee und sagt „hey, ich mache keine verbrecherische Politik, das ist Verleumdung, Frau Neigel!“. Oder Bill Gates persönlich kommt und sagt: „Hey, das mit Corona war nicht von mir vorausgeplant, daher setzt jetzt mein Anwalt eine Abmahnung gegen Sie auf!“. Könnte ja sein. Was würden Sie dann machen? Schweigen? Nicht mehr kritisieren? Doch?
Eben, habe ich mir schon gedacht. Und so sehen wir es halt auch.
Denn genauso wie Sie in diesem freien Land ihre Meinung sagen dürfen, darf ich mich auch dafür entscheiden, meine ganz eigene persönliche Meinung über Sie zu haben. Und die – pssst – verrate ich hier einfach mal nicht, versprochen!
VIER
Die Bayerische Akademie der Schönen Künste…
Die vielen Kontroversen der Bayerischen Akademie der Schönen Künste aufzuzählen, würde ganze Bücher füllen (und die gibt es sogar schon, z.B. dieses exzellente von Petra Morsbach). Bisher war das Muster immer ähnlich: wird Kritik geübt, werden die kritischen Stimmen ausgegrenzt, es wird auf Formalien herumgeritten, es wird den Kritikern vorgeworfen, sich nur „profilieren“ zu wollen und ähnliches. Ich habe hier zuhause einen ganzen Aktenordner mit erzürnten Briefen der Akademieleitung, in denen sie sich über alle möglichen Dinge in Bad Blog – Artikeln aufregen, aber bisher keinen einzigen, in dem man sich inhaltlich mit den ganz sicher nicht nur von mir kritisierten eigenen Handlungen und Äußerungen der Akademie ernsthaft auseinandersetzt. Mit einer erstaunlichen Vehemenz wird eisern an einem erhabenen Selbstbild dieser Institution festgehalten, die sich für fair und offen gegenüber einem Diskurs hält, es aber in letzter Konsequenz dann sichtlich nicht ist, denn sonst würde sie ja das Gespräch suchen.
Einen neuen Höhepunkt hat diese Diskussion mit der öffentlichen Entgegnung auf ein Interview mit Akademiepräsidenten Winfried Nerdinger in einem offenen Brief in der FAZ erreicht, den zahlreiche Akademiemitglieder unterschrieben, darunter auch ich (obwohl ich den Brief tatsächlich nicht initiiert habe). Grund für diesen Brief waren bestimmte Aussagen Nerdingers zu umstrittenen Corona-Aktionen wie #allesdichtmachen (von der sich inzwischen viele der Mitwirkenden relativ schnell distanziert haben) und sein Projekt, eine Publikation mit „Stellungnahmen“ von Akademiemitgliedern zu veröffentlichen unter dem Titel „Es ist Zeit, dass es Zeit wird“, die ähnlich kritisch gegenüber der Coronapolitik sein will. Der offene Brief ist kritisch mit Nerdinger, aber der Ton ist sachlich und argumentativ untermauert. Kritisiert wird keineswegs, dass Nerdinger zur Coronapolitik eine persönliche und kritische Meinung hat, sondern nur, dass man sich weniger Vereinnahmung als Akademiemitglied gewünscht hätte für derlei Äußerungen und Aktionen. Klar: ein Präsident spricht in einem Interview über die Situation der Künste als Akademiepräsident nie als Privatperson, sondern als Repräsentant der gesamten Akademie. Sonst hätte man das Interview mit Nerdinger gar nicht gemacht. Hierbei private Meinungen nicht der gesamten Akademie aufzustülpen ist zwar eine anspruchsvolle Aufgabe, aber sicher nicht unmöglich.
Dass eine solche Kritik in der FAZ in einem offenen Brief vorgetragen wird, heißt nicht, dass die Urheber dieses Briefs böswillig handeln, sondern eher, dass die bisherige interne Kritik anscheinend nicht genügend wahrgenommen wurde. Wenn die interne Kritik abgeblockt wird, gibt es irgendwann keinen anderen Weg mehr. Ich weiß, wovon ich spreche – ich selbst habe zahlreiche Gesprächsversuche mit Nerdinger unternommen, und bisher noch keine einzige Gelegenheit zu einem Gespräch bekommen. Und in Petra Morsbachs Buch kann man nachlesen, dass es ihr mit Nerdingers Vorgängern sehr ähnlich ging.
Nun könnte es alle möglichen Reaktionen auf so einen Brief geben, die beste wäre vermutlich eine Diskussion, aber da wir nach wie vor die Akademie der meistens älteren weißen Männer sind, läuft es anders: Seit Tagen werden alle Mitglieder sowie auch die FAZ mit höchst erzürnten Briefen verschiedener Akademiemitglieder bombardiert, in denen der offene Brief nach Art der „stillen Post“ in der Beschreibung jedes Mal NOCH schrecklicher und unverschämter und als eine immer größere Ungeheuerlichkeit empfunden wird, dass man sich schon fast wie bei einem der größten Skandale der Nachkriegszeit fühlt. Einer nach dem anderen stellen sich die Nerdinger-Getreuen hinter ihren Präsidenten und verurteilen die Kritik zutiefst, aus dem offenen Brief wird nun angeblich eine „Demontage“, es wurde gar die „Grenze zur Perfidie“ überschritten, die Zeilen waren „hasserfüllt“, „verleumderisch“, man will Nerdinger „zu Fall bringen“ und vieles mehr (alles Originalzitate aus diesen Briefen). Recht unverhohlen wird sogar gefordert, dass „die Gemeinschaft der Mitglieder“ das Entsetzen über diesen „skandalösen“ Vorgang „in angemessener Weise zum Ausdruck bringen solle“. Wie „zum Ausdruck“ bringen? Rauswurf? Womöglich Erschießungskommando?
Man fragt sich beim Lesen dieser gigantischen Parade von Briefen, die inzwischen schon 10x so viel Druckerschwärze verschlungen haben wie sowohl Interview als auch Replik, ob der Text in der FAZ überhaupt gelesen und verstanden oder ob stattdessen irgendein Horrorroman gelesen wurde, denn es kann sich nicht um denselben Text handeln, über den man sich hier aufregt. Auffällig ist: unter den Unterzeichnern des Briefes sind viele Frauen, die sich Aufregenden in der Akademie sind aber allesamt Männer. Woran das wohl liegen mag? Auch interessant – es gab Stimmen, die das Anliegen des offenen Briefes verteidigten, als man darum bat, diese Briefe doch bitte auch zu veröffentlichen, wurde diese Bitte ausgeschlagen, ganz im Stil einer Gedankenpolizei, die nur die eine Wahrheit duldet. Kein Wunder, dass man inzwischen zur FAZ gehen muss, wenn man etwas sagen möchte in der Akademie.
Wie passt das also zusammen? Einerseits sagt Nerdinger wörtlich im Zeitungsinterview, dass er gerne „kontroverse Diskussionen“ mit seinen Mitgliedern über diese Themen führen will, aber wenn diese Diskussion tatsächlich kontrovers geführt wird (was Diskussionen gelegentlich an sich haben), darf das wohl nicht sein. Das Bild nach außen ist: Anscheinend werden „kontroverse Diskussionen“ nur dann geduldet, wenn man exakt derselben Meinung ist wie der Akademiepräsident. Ansonsten hat man sich – wie Dieter Borchmeyer tatsächlich forderte – gefälligst zu entschuldigen.
Wie auch immer diese neue Geschichte ausgeht, sie ist ganz sicher auch größtenteils der „Gereiztheit dieser Zeit“ geschuldet. Und man kann nur hoffen, dass sie ein Happy End hat. Wäre das nicht schön?
Versuchen wir es mal: Lieber Winfried Nerdinger, wir Unterzeichner dieses Briefes verachten und hassen Sie nicht, wir finden Sie auch nicht schrecklich und wollen Ihnen garantiert nichts Böses. Reden Sie einfach mit uns. Vielleicht auch mal vor so einem Interview, denn dann wüssten Sie, wie die Stimmung in der Akademie ist und dass es vielleicht auch andere Meinungen über die Coronapolitik gibt als die ihre. Viele Mitglieder nehmen die Thematik vielleicht auch aus persönlicher leidvoller Erfahrung etwas ernster, oder haben Freunde und Verwandte verloren. Es müssen nicht alle der gleichen Meinung sein, klar. Aber Kritik und kontroverse Diskussion sind Basis einer Akademie, nicht etwa Missachtung derselben. Akademien sind keine Institutionen allein für Bestätigung und Affirmation, sie blühen auf im Zulassen unterschiedlicher Meinungen. Und sie können sich auch verändern. Wenn Sie eine „kontroverse Diskussion“ fordern, dann stellen Sie sich bitte dieser auch, sonst wirkt das tatsächlich schwach.
In ihrem vorletzten Interview haben Sie z.B. beklagt, dass es zu wenige Frauen in der Akademie gibt, diese Situation aber auch damit begründet, dass die Zuwahl von Frauen einfach zu lange dauert. Aber wissen Sie was? Man kann die Regeln jederzeit ändern. Regeln sind dazu da, diskutiert, adaptiert und überdacht zu werden. Man kann jederzeit die mögliche Maximalzahl der Mitglieder vergrößern, um in einem Schwung z.B. mal nur Frauen aufnehmen zu können. Wir Mitglieder könnten das jederzeit gemeinsam entscheiden. Und Sie, als Präsident, könnten noch so vieles mehr: Sie können jederzeit anregen, zuhören und Dinge in Bewegung bringen. Das würde mich persönlich freuen.
Und schauen Sie, das ist jetzt noch nicht einmal eine Kritik, sondern einfach nur ein Ausdruck der Hoffnung.
Moritz Eggert
Komponist