Die Abschaffung des Kulturradios – Folge 3 (Hanssen vs. Schmidt-Ott – und alles zu Ludovico Einaudi)

Das ist tatsächlich das mehr oder weniger einzige (und völlig unbrauchbare) Foto, das ich in meiner Zeit beim rbb gemacht habe. Es stammt vom 30. September 2008.
Das ist tatsächlich das mehr oder weniger einzige (und völlig unbrauchbare) Foto, das ich in meiner Zeit beim rbb gemacht habe. Es stammt vom 30. September 2008.

Folge 1 (Prolog)
Folge 2 (Das damalige – leise – Verschwinden des ARD-Nachtkonzerts)

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Am 25. Januar 2021 konnten die Hörer:innen von rbbKultur – „meiner“ heimischen öffentlich-rechtlichen Kulturwelle – sich zur Programmreform (seit September 2020 im Gange) äußern. Programmchefin Verena Keysers war zu Gast – und musste sich, korrigiert mich, zu 95 Prozent harte Kritik gefallen lassen. Die Sendung kann nachgehört werden: hier. Tenor des Hörer:innen-Feedbacks (nochmal: korrigiert mich): Die Banalisierung einiger Programmschienen ginge nicht zusammen mit einem gewissen Niveau, die „Musik“ (Anführungszeichen von mir) Einaudis habe eben nur zwei Harmonien – und dies sei nicht genug. Der cleane, tote Sound der Filmmusik sei „schrecklich“ – und zum Abschalten. Gegenstimmen gab es kaum. Verena Keysers konnte einem fast leidtun. Doch dazu an anderer Stelle mehr.

Am 9. Februar 2021 erschien im Tagesspiegel ein Artikel von Frederik Hanssen. Hanssen leitet ein: „Klassik mögen nur wenige Prozent der Gesamtgesellschaft, Keysers aber will mehr Menschen ansprechen, vor allem unterhalb des Renteneintrittalters. Darum erklingen neben Bach, Beethoven, Brahms und Co. jetzt auch Jazz, Chanson, Filmmusik, Pop und New Classics.“ Und fährt fort: „Soundtracks goutieren viele Menschen, die freiwillig nie einen Konzertsaal betreten würden. Dabei plündern Filmmusik-Komponisten wie John Williams auf der Suche nach Inspiration die Partituren von Wagner, Strauss und sämtlichen Spätromantikern, aber auch von den französischen Impressionisten oder dem Rhythmus-Revolutionär Igor Strawinsky. Aus den besten Effekten der Vorbilder montieren sie dann eine Art Glutamat-Klassik.“

Damit bringt Hanssen das denkbar schlechteste Beispiel. Denn John Williams ist ein Genie – eben in der ganz offenen Rezeption seiner (offen genannten) Vorbilder des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Aus rhythmischen Zusammenballungen bei Williams tönt Strawinskys „Sacre“, aus vielen tänzerischen Instrumentationsschnalzzungigkeiten Tschaikowsky, aus blechbläseraufgeladenen Erhaben- und Verwegenheiten Wagners „Ring“. Williams „plündert“ nicht, er bedient sich voller Liebe – und gewissermaßen (ganz im Gegensatz zu bekannten Politiker:innen) mit Quellenangabe.

Aber gut, weiter.

„Glutamat“, nun ja. Hätte er mal nicht den Falschen (Williams) genannt, sondern Kollegen wie Hans Zimmer. Man kann sich eigentlich nicht darüber streiten. Williams Musik ist Musik für ein (fast immer auch tatsächlich) echtes Orchester. Zimmer beschäftigt eine Reihe von Arrangeur:innen und meist wummert ein (noch nicht mal gut sounddesignter) Instrumentalsampler irgendwo dräuig herum. Aber okay, lasst uns darüber nicht streiten.

Hanssen weiter: „Wenn Verena Keysers nun also auch Ausschnitte aus Soundtracks ins Programm von RBB Kulturradio einspeisen lässt, will sie damit Hörerinnen und Hörern entgegenkommen, die sich nicht lange konzentrieren können – oder wollen. Auch auf die Gefahr hin, damit die Stammklientel zu vergraulen, die auf Unterkomplexität oft allergisch reagiert.“

Damit ist ein wichtiges Stichwort genannt: „Unterkomplexität“. Dazu gleich. (Ihr müsst euch jetzt konzentrieren.) Hanssen jedenfalls (fast schon brillant): „Bei der Neoklassik […] [die eben bei rbbKultur neuerdings jeden Tag zwischendurch eingesetzt wird] herrscht immer Harmonie – und zwar „unplugged“. Anders als in Pop und Rock werden die Instrumente nicht elektronisch verstärkt, was ihnen eine irgendwie klassische Aura verleiht. New Classics sind das Äquivalent zum Veggieburger. Was nach Klassik klingt oder sich im Mund wie Fleisch anfühlt, ist weder das eine noch das andere.“

Heute, am 19. Februar 2021 erschien an gleicher Stelle ein Artikel des mir bislang unbekannten Thomas Schmidt-Ott, der „Programm-Direktor von TUI Cruises“ ist, wie es in der Einleitung heißt. „Wow“, denken wir klassischen Musiker:innen umgehend, und sind extrem neidisch! (So denkt vermutlich Thomas Schmidt-Ott.)

Zu Beginn seines Artikels haut Schmidt-Ott zunächst einmal Begriffe wie „Elon Musk“ und „Live-Audio-App Clubhouse“ durch die Gegend. Wieder denken wir (natürlich voller Neid!): „Krass, Christian Lindner Thomas Schmidt-Ott kann Selfies mit Prominenten machen googeln!“

Er „verteidigt“ nämlich die rbbKultur-Programmreform. Schmidt-Ott: „Keysers und ihr Team müssen einer, in ihren Reaktionen schwer zu bestimmenden, Zuhörerklientel inhaltliche und ästhetische Neuerungen des Programms vermitteln. Ihr Auftrag lautet, RBB Kultur attraktiver zu machen, den Hörerschwund zu stoppen. Zugleich soll sie den Altersdurchschnitt unter 60 Jahre senken, neue digitale Formate entwickeln. Im Managementjargon heißt das: Programmentwicklung, Marktdurchdringung und Diversifikation. Kein leichter Job. Doch Keysers nahm die Herausforderung an und verpasste unter anderem dem Musikprofil der guten alten Dame RBB Kultur Frischzellen.“

Ein Textblock wie aus der mit ängstlichen Mäusen besetzten Marketingabteilung eines verstaubten Unternehmens, in dem wirklich jeder schon innerlich aufgegeben hat. Ein Textblock: wie eingekauft. Ein Textblock, wie aus einem Rockyfilm („Doch Keysers nahm die Herausforderung an!“).

Schmidt-Ott weiter: „Wer auf klangliche Geschmacksverstärker setzte [sic], gehe – um Himmels Willen! – das Risiko ein, die Stammklientel zu vergraulen, die auf die Unterkomplexität des neuen Programms allergisch reagiere. Ein Argument, das heute so langweilig klingt, wie die Kritik an der Kulturindustrie von Adorno und Horkheimer in den fünfziger Jahren: Das gebildete Individuum wird zum Kulturwaren-Konsumenten degradiert, weil es die trivialen Nichtigkeiten der New-Classics-Komponisten hören muss.“

Yes, das Adorno-Totschlag-Argument. Dabei rumpelt es in jeder (selbst schon wieder verstaubten) Ecke dieser Schmidt-Ottschen Sätze schon rein vom logischen Aufbau her. Haben sich Adorno und Horkheimer denn zur „New Classic“ (die es damals gar nicht gab) geäußert?

Schmidt-Ott: „Einaudi, Yiruma, Zimmer sind Weltstars, an renommierten Hochschulen ausgebildet, sie haben eigene Klangsprachen entwickelt, die ihre Werke wiedererkennbar machen. Sie nutzen meist einfache, eingängige Harmonien. Und an ihnen haftet ein Stigma: kommerzieller Erfolg. Der macht sie in der Nische der Hardcore-Klassiker verdächtig.“

Wow, die Neid-Unterstellung, really, Mr. Aida 1997 TUI Cruises?

Man kann es eigentlich nicht mehr hören: Durch den Erfolg von Einaudi und Co. werden Türen geöffnet für ein größeres Publikum, das dann auch Bach, Mozart und Rihm hört, oder wie? Lasst uns das mal feststellen: Nein! Das ist Quatsch. Wer Lang Lang für den besten Pianisten hält, der will nur Lang Lang hören (meine Erfahrung). Wer Einaudi hört, der ist nicht nur erstens dumm, sondern zweitens gar nicht empfänglich für mehr als zwei heimelige Harmonien hintereinander.

[Okay, ich habe mich angreifbar gemacht – und virtuell jemanden als „dumm“ beleidigt. Entschuldigung! Ich selber liebe Musical, ich liebe Quatsch, ich lache 14 von 24 Stunden täglich, ich gucke (ab und zu) Trash-TV, mein Leben ist das Geilste ever. Und ich bin nie, niemals neidisch. Nur, ist das Neid-Argument mal im Raum, traut sich keiner mehr weiterzureden. Das ist halt so FDP. Und die FDP ist halt indiskutabel. (Das nur fürs Protokoll.)]

„Banalisierung der Musik in einem öffentlich-rechtlichen Radiosender“. Okay. Lass uns doch drüber reden. Was findet ihr „banal“? Was nicht? Ist Mahler nicht in seinen Sinfonien immer dann am geilsten, wenn es „banal“ wird?

Yoah. Weiß nicht. Mag sein.

Jetzt mal für euch da draußen: ein paar Argumente, die ihr vielleicht noch nicht kennt (ist ja gar nicht schlimm!). Bestimmte Musik (nennt sie „E-Musik“, „Klassik“ oder what ever) lebt davon, dass sie Zeit braucht, dass sie manchmal komplex ist, überemotional, vielleicht sogar intellektuell, vielschichtig, unvorhersehbar. Ein Gespräch mit einer Person, die ich liebe ist auch: anstrengend manchmal, lang, komplex… Auf der Straße zwei Sekunden von jemanden angepöbelt zu werden, weil ich auch außerhalb von Fußgängerzonen und Supermärkten meine Schutzmaske trage: das ist wie Einaudi. Dumm, kurz und unterkomplex.

Wenn also Einaudi mit richtiger (lol) E-Musik gemischt wird, dann ist Einaudi keine „Farbe“, sondern eine Lüge. Wie Meditationsmusik. Kein/e ernstzunehmende/r Freund:in von mir kann ohne Augenrollen (ja, ja, ja, momentan geschlossene) Wellness-Zonen betreten, weil dort „Wohlfühlmusik“ läuft. Diese „Musik“ ist eine Lüge. Als wäre das Leben immer gut. Eine Verdrängung in Musik! Ein bewusstes Aussparen aller Höhen und Tiefen, aller Traurigkeiten und aller Freuden des Lebens.

Über Jahrhunderte war E-Musik mindestens niveauvolle Unterhaltung (Stichwort: Tafelmusik) bis hin zum totalrezeptionsästhetischhermetischgeilen sich-im-Konzert-Einschließen und schlichtweg: gemeinsam die Fresse halten lauschen.

Wer beispielsweise Neue Musik angreift und völlig verständnislos auf sie reagiert, dem sei gesagt: Dissonanzen, räudigsten Klangballungen und scheinlangweiligsten Überlängen sollte man vielleicht erst einmal: zuhören. Einaudis Musik ist dagegen wie Social Media: fast nirgends wird ernsthaft zugehört oder diskutiert. Es geht darum, seinen (verschimmelten) Senf rauszublasen, um sich danach lautstärk-männlich zu verabschieden. Um sich hernach in Billig-Seife einem „Klangbad aus Wohlfühlklängen“ hinzugeben. So funktioniert weder gute Musik, noch das Leben, noch Menschlichkeit. Menschlichkeit fängt da an, wo es zunächst einmal schlichtweg akzeptiert wird, das Musiker:innen im Konzertsaal auf ihren Instrumenten kratzen. So geht Farbe! (Auch grau kann bunt sein.) Wer alles Komplexe, Düstere, Andere (!) aus seinem Leben verbannen will: der ändert nie wieder seine Meinung, hört nur den Leuten zu, die ohnehin seiner Meinung sind – und der, ja, richtig, der hört: Einaudi!

E-Musik lebt von einer gewissen Komplexität. Und ist dabei nicht besser als U-Musik. Einaudi aber ist schlechter als U-Musik. Jeder Popsong der aktuellen Spotify-Charts ist komplexer, cooler und vor allem rhythmisch anspruchsvoller als das erstsemestriguntalentierte Gedödel von Ludovico Einaudi.

Aber klar, ihr lichtet euch halt gerne mit den Erfolgreichen ab. Ein Selfie mit Einaudi? Assoziiert werden mit einer großen Follower:innenschaft? Klar, da macht ihr mit, ihr alten, weißen, unattraktiven Männer! Noch einmal erfolgreich sein! Noch einmal von 25-Jährigen für „cool“ gehalten werden.

Okay, ich bin völlig vom Gleis abgekommen. Haha. Ich „stelle“ das jetzt so ins „Internet“ und gehe Spazieren. Mit einer unfassbar komplexen und liebenswerten Person. Ciao. [Hab‘ euch alle lieb.]

Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

3 Antworten

  1. Jörg Birhance sagt:

    Bravo, vielen Dank.

  2. Lieber Herr Lücker, Sie legen den richtigen Finger in die richtige Wunde. Ich selbst bin/war? ein großer Verfechter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der Finanzierung über den Rundfunkbeitrag. Das Verhalten dreier Mitglieder der CDU-Fraktion des Sachsen-Anhaltinischen Landtages wg. der Erhöhung um 58 ct. hatte mich sehr aufgebracht. Was aber jetzt gerade an kulturellem Kahlschlag in ARD und ZDF passiert – Wegfall des Nachtkonzertes, der Umgang des NDR mit seinem Chor, der Wegfall von Literatursendungen in ARD und ZDF, bringt mich ebenso auf. Die Öffentlich-rechtlichen müssen aufpassen, dass sie damit nicht ihre Existenzberechtigung verspielen. Sport und Unterhaltung können die Privaten auch. Ob sie das merken?

  3. Michael Jenne sagt:

    Mir scheint bei rbb-kultur im neuen Konzept der Maßstab für „gute“ Musik oder Kunst-Musik verlorengegangen zu sein. In der Diskussion mit Verena Keysers war von Anrufern merhfach von „Flachgedudel“ etc. die Rede, ich nenne es belanglose Musik, die jetzt gefühlt dauernd angeboten bzw. unerbeten in die Ohren gepustet wird und das Niveau des Senders deutlich senkt. Ein Hörer hat zudem zutreffend geäußert, dass auch im Bereich der Klassik (im gebräuchlichen Sinn) das Repertoire wesentlich erweitert werden und dadurch farbiger gestaltet werden könnte. Meine Frau und ich wären sehr dankbar für eine Re-Reform des Programms.