5 dringende Gründe warum es jetzt besser ist zu schweigen

 

Der gerade begonnene „zweite Lockdown“ lastet schwer auf der Seele der Kulturszene. Kein Tag vergeht, an dem es nicht irgendwo eine Menschenkette, eine Schweigeaktion oder einen Aufruf zur Rettung der Kultur gibt. Manche üben differenzierte Kritik an den Maßnahmen der Bundesregierung oder sehen sich zu Unrecht in ihrer Berufsausübung beschränkt. Manche sehen die Rolle der Kultur in der Gesellschaft grundsätzlich gefährdet, andere wiederum wünschen sich gerechtere Verteilung von Hilfsgeldern. Zudem sind sich alle diese Stimmen komplett uneins und kritisieren sich noch gegenseitig in ihren Absichten, was die Verwirrung noch vergrößert. Allein schon die Verwendung eines Begriffs wie „Systemrelevanz“ kann endlose Diskussionen in sozialen Medien verursachen und dauerhaft Freundschaften beenden. Mit Verlaub: es ist ein einziger hysterischer Murks im Moment.

Und nun sitzen wir alle NOCH einen Monat tatenlos herum, haben viel Zeit und viel Frust und posaunen dies auch in die Welt hinaus. Was die Dinge nicht besser macht.

Ich bin in der Sache voll solidarisch – selbstverständlich möchte ich, dass Kunst und Kultur gut durch die Coronakrise kommen, darauf können wir uns alle einigen. Ich will auch nicht wie ein Erbsenzähler Einzelargumente ausdiskutieren. Ich muss Till Brönner für sein emotionales Video keine Vorwürfe machen, ich widerspreche auch denen nicht, die sich endlos darüber aufregen können, dass man nach wie vor mit dem vollen Bus fahren, aber jetzt wieder nicht mehr in die Oper darf, obwohl doch alle sooooo aufpassen. Ich ärgere mich aber über das Teilen von Grafiken und Artikeln, die voller gefälschter und hanebüchener Behauptungen und Statistiken sind, da ich einfach fest davon überzeugt bin, dass uns in einer solchen Situation Ungenauigkeit der Argumentation nicht weiterbringt.

Und ich persönlich habe 5 Gründe, aus denen ich mich nicht an den momentanen „Rettet die Kultur!“ – Aufrufen beteiligen möchte, es sei denn, sie betreffen die Verteilungsgerechtigkeit von monetären Hilfsmaßnahmen für freischaffende KünstlerInnen (wo akut Handlungsbedarf besteht).

Diese sind wie folgt:

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  1. Die Argumente nutzen sich ab und befinden sich im falschen Fahrwasser

Ich gebe zu, dass es für mich ein perverses Entertainment ist, ab und zu Mal den Telegram-Kanal von Adolf Attila Hildmann zu lesen, einfach nur, weil es interessante Einblicke in eine schwere psychische Krankheit gibt (Denn anders kann man es nicht nennen, wenn jemand in einem Atemzug den Genozid an Milliarden von Menschen prophezeit und zwischendrin das hauseigene Hildmann-Matcha anbietet wie sauer Bier – ungefähr so wie wenn Jesus in seiner Bergpredigt zwischendrin Werbung für die Schreinerdienste seines Vaters gemacht hätte). Hildmann ist nicht der einzige, der ständig „Geht auf die Straße und erhebt euch!“ brüllt, das machen viele, viele andere gerade 24 Stunden am Tag mit tausenden von Ausrufezeichen. Aufrufe zu Querdenker- oder sonstwelchen Demos sind inzwischen so inflationär, dass man quasi seine gesamte freie Zeit damit zubringen könnte, gemeinsam mit Reichsbürgern und verwirrten Esoterikern irgendwo herum zu stehen oder angeblich „satanische“ Antikensammlungen zu schänden.

In dieser Kakophonie des ständigen Schreiens ist es nicht unbedingt die klügste Taktik, ständig auch als KünstlerIn zum „Widerstand“ aufzurufen, denn wie will man sich klar gegen die Kräfte absetzen, die dies im Moment mit dem eindeutigen Ziel der Demokratiezersetzung tun? Kritik kann auch anders und klüger geäußert werden, und man kann richtig merken, wie dankbar die Politik jedem Menschen gegenüber ist, der ihnen nicht mit Brüllen und Hysterie sondern mit gut überlegten und fundierten Argumenten gegenüber tritt, ruhig und mit klarem Verstand. Da hilft zum Beispiel das direkte Gespräch mit den lokalen Kulturverantwortlichen und Politikern tausend Mal mehr als der Millionste anklagende Facebookpost, mit dem man einfach nur seinen eigenen Akionismus befriedigt.

2. Man glaubt zu Unrecht, dass man mit Bordellen und Fitnessstudios gleichgesetzt wird

Ein Großteil der momentanen Diskussion hat damit zu tun, dass sich viele KünstlerInnen zutiefst beleidigt fühlen, sich im Kontext von „Freizeit“ angeblich herabgesetzt zu sehen. Aber man verwechselt hier die Zufälligkeit einer Aufzählung von Situationen, bei denen Menschen in Innenräumen zusammenkommen, mit einer bösen Absicht gegenüber der Kultur selber. Auch den Begriff „Freizeitaktivität“ finde ich nicht im Geringsten ehrenrührig – die Anfänge jeder Kultur liegen in „freier Zeit“. Die Höhlenmaler von Lascaux hatten nicht irgendeinen hehren Kulturauftrag, als sie ihre bis heute faszinierenden Gemälde vor 17.000 Jahren  schufen – sie hatten einfach nur „freie Zeit“ dafür, vielleicht sogar einfach nur Langeweile. Daraus entstand große Kunst, und ganz sicher entstand auch so die erste Musik. In der „freien Zeit“ kommen die Menschen zusammen, sind sie eigentlich am meisten Mensch, weil sie von den Zwängen des Alltags befreit sind. In jeder „freien Zeit“ liegen die Grundlagen von Philosophie, Kultur und Wissenschaft. Man muss auch nicht pedantisch darauf hinweisen, dass ein Fitnessstudio „anders“ ist als Kultur. Das eine trainiert den Körper, wir mit Kultur den Geist, das ist jedem doch ohnehin klar. Niemand verwechselt ein Fitnessstudio mit der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (Obwohl ich hier anmerken könnte, dass es gut sein könnte, dass ein Fitnessstudio mehr für das Wohlergehen der Gesellschaft leistet als die Bayerische Akademie, aber das ist eine andere Geschichte). Auch sind unsere Familien jetzt nicht plötzlich mit „Bordellen“ gleichzusetzen, nur weil sowohl für Bordelle als auch für Familienzusammenkünfte jetzt einschränkende Regeln gelten. Wir reiben uns hier an Gedankenkonstrukten auf, die vollkommen künstlich sind, und nur zufällig aus einer Aufzählung entstehen. Das bringt nichts.

3. Im Moment hört niemand zu

Der erneute Lockdown trifft nicht nur die Kultur hart, sondern sehr, sehr viele Menschen in Deutschland, entweder, weil sie indirekt vom Kulturangebot abhängig sind (man denke nur an die innenstädtischen Cafés und Restaurants sowie das Hotelgewerbe) oder auch, weil sie in einer der vielen Branchen arbeiten, die gerade direkt betroffen sind. Wenn wir mal ehrlich sind: uns geht es schlecht, aber es gibt Berufe, denen es noch wesentlich schlechter geht als uns. Menschen die nichts mit Kultur zu tun haben verlieren gerade auch ihre Existenz oder machen Pleite oder fallen in die Depression, ganz zu schweigen von denen, die entweder von Corona direkt gesundheitlich betroffen sind, oder die Verwandte und Freunde an die Krankheit verloren haben.

Sagen wir Mal so: die Stimmung ist gerade nicht die beste. Alle sind sensibel und mit den Nerven am Ende. Und in diese finstere Atmo poltert nun das kleine Blechtrommlerchen Kultur durch die Straßen und schreit „mimimi, uns geht es soooo schlecht, wir dürfen nicht auftreten, ihr wollt uns nicht mehr, buhuuu“. Ich mache mich über das Blechtrommlerchen keineswegs lustig. Natürlich geht es uns schlecht. Natürlich können wir gerade nicht auftreten, und das ist wirklich Shit.

Aber ist es jetzt gerade der beste Moment, so laut wie noch nie zuvor zu jammern? In den Jahren nach der letzten Finanzkrise verloren ebenso zahlreiche MusikerInnen ihren Unterhalt, weil Orchester und Theater fusioniert, Stellen gekürzt und Kulturausgaben eingespart wurden. Auch da schrie man, wesentlich leiser übrigens (und ich schrie mit), aber da war auch eine konkrete Ungerechtigkeit anzuprangern, der Protest machte Sinn und führte auch zum Erhalt der einen oder anderen Kulturinstitution. Doch jetzt zu protestieren, wo es mit wenigen Ausnahmen ABSOLUT ALLEN MENSCHEN in Deutschland sehr schlecht geht, und zwar nur, weil sie z.B. zufällig FlixbusfahrerIn, Lufthansa-MitarbeiterIn oder SchaustellerIn (usw., usw.) sind, ist das wirklich sinnvoll? Ich finde das ungefähr so, wie wenn man eine im Sterben liegende Bekannte im Krankenhaus besucht und ihr die ganze Zeit nur von den eigenen Sorgen erzählt. Oder wenn man bei einer Beerdigung den zutiefst Trauernden die ganze Zeit vorschwadroniert, wie wichtig es doch ist, die Kultur zu fördern, anstatt sie einfach zu umarmen und zu trösten.

Jetzt einfach Mal ein bisschen die Klappe zu halten heißt keineswegs, dass man Kultur aufgegeben hat, ganz im Gegenteil. Wenn man auch nur ein ganz kleines bisschen an Kultur als zutiefst humanistische, den Menschen dienende Verpflichtung begreift (so wie es Ludwig van garantiert tat, wir wissen es aus seinen Briefen), dann ist es gerade jetzt humanistische Pflicht, das Wohl der Menschen in diesem Land als höchste Priorität zu begreifen. Denn ohne Zuhörer macht Kultur keinen Sinn – ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems und viel mehr Tote und Kranke sind nicht gerade das beste Ambiente für Kulturvermittlung, soviel sollte klar sein.

4. Es gibt keinen Lockdown ohne Lockdown

Ja, ich bin auch der Meinung, dass Konzerte und Kulturveranstaltungen jetzt nicht unbedingt Corona-Hotspots sind, aber wie sinnvoll sind in den nächsten 4 Wochen Konzerte in ausgestorbenen Innenstädten, in denen ansonsten nichts offen hat? Schon jetzt war bei den vielen Durchhalteaufführungen vor allem größeren Kalibers eindeutig zu bemerken, dass das Publikum nicht in den Scharen kommt, in denen es kommen könnte (mit Ausnahmen natürlich, aber die bestätigen die Regel). Viele Menschen bleiben vorsichtig – verständlich, auch wenn wirklich der Großteil der Veranstalter hier sehr verantwortliche und kluge Konzepte geliefert hat. Wie toll ist es wirklich, sich „Tristan und Isolde“ in einer gekürzten und auf Kammerorchester reduzierten Fassung anzuschauen, zusammen mit 50 Leuten in einem riesigen Opernhaus? Klar, Sänger wollen singen, Musikerinnen wollen spielen, verstehe ich. Ja, es ist ungerecht, dass sich an bestimmten Orten Menschen in großer Zahl straffrei versammeln (z.B. in der Ubahn), aber Mal ehrlich: wie häufig ist das wirklich im Moment (ich habe schon seit vielen Monaten keinen einzigen vollen Bus, keine einzige volle Bahn und nur einmal einen volleren Flieger erlebt, in dem sich alle mit Masken in ihre Sitze kauerten)? Und vor allem: wie sähe eine „gerechte“ Regelung aus?

Nur mal ein Gedankenspiel: Ginge der Spielbetrieb in der Kultur jetzt weiter, würden die Restaurants zu Recht sagen „warum denn wir nicht auch? In meine Pizzeria können nur 20 Leute rein, das sind weniger als im Theater“. Dann die Fitnessstudios. Dann die „Freizeitstätten“ bis hin zu Kegelbahnen und Bordellen. Jeder und jede hätte mit Fug und Recht Argumente, die für die eigene Öffnung sprechen (ich könnte hier jetzt einen Witz mit Bordellen machen, lasse es aber lieber), aber: Öffnet man einen Ort, muss man konsequenterweise alle öffnen. Und dann gäbe es keinen Lockdown und man könnte sich das Ganze sparen und lieber in die Scheiße rauschen wie in den USA. Und ja, wenn die Intensivärzte Deutschlands warnen, sehe ich keinen Grund, ihnen nicht zu glauben. Denn die nächsten Wochen werden in Europas Krankenhäusern ganz sicher nicht lustig, darauf könnt ihr schon jetzt wetten.

5. Der Moment, die Stimme zu erheben, kommt noch

Die wichtigste politische Phase beginnt meiner Meinung nach genau dann, wenn man Corona – was hoffentlich irgendwann der Fall sein wird – einigermaßen in den Griff bekommen hat. Denn dann wird eine gnadenlose, Jahre dauernde Sparorgie beginnen, die ganz sicher die Kulturszene hart treffen wird. Genau dann brauchen wir die Argumente, die wir jetzt zu früh ins Feld führen, nämlich dass wir selbstverständlich von entscheidender Wichtigkeit für dieses Land sind. Systemisch und – das Wort darf man auch in den Mund nehmen – auch ökonomisch. Bis dahin sollten wir alles, was wir verkünden, sehr gut dosieren, denn sonst werden wir eher als nervige und beleidigte Stimme in einer chaotischen und bedrückenden Situation wahrgenommen, die gerade alle Menschen gleichermaßen betrifft. Wir müssen mit größerem Selbstbewusstsein auftreten – jedem jetzt ständig zu erklären, wie wichtig wir sind, ist vorauseilend defensiv und schwächt uns eher. In den kommenden Jahren wird es aber ganz sicher Kräfte geben, die die Kultur marginalisieren wollen und die dafür zu erwartenden Sparmaßnahmen dafür nutzen werden. In genau diesem Moment müssen wir mit vereinter Kraft mit sehr lauter Stimme sprechen, da bin ich ganz sicher.

Oder anders gesagt: Schweigen ist zwar vielleicht nicht immer Gold. Aber das Reden im richtigen Moment ist es – und vor allem ist es dannn nicht sinnlos.

Moritz Eggert

 

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12 Antworten

  1. Florian Ganslmeier sagt:

    In manchem stimme ich zu, etwa was die kommenden „Verteilungskämpfe“ betrifft. Aber irgendwie reicht es auch nicht, einfach gegen das „Dagegen“ zu sein. Manchmal muss man es aushalten, dass eine Situation ambivalent ist, und dann hilft auch einfach der Versuch, dialektisch zu denken. Wenn wirklich alle geschwiegen hätten letzte Woche, wäre bis heute kein Unterschied gezogen zwischen einem Aufführungsverbot und einem totalen „Betriebsverbot“ im Kulturbetrieb, das auch alle Proben, Live-Streams, Aufnahmen oder den Werkstattbereich an Theatern untersagen würde. Darauf haben sich die Kulturminister nämlich erst nach den Protesten geeinigt. Und der Wortlaut des Beschlusses ist und bleibt höchst fragwürdig. Wir müssen absolut nicht schweigen, und können trotzdem der Meinung sein, dass der Shutdown im Moment die einzige Möglichkeit ist, den Infektionszahlen zu begegnen. Auch im Kulturbetrieb. Wir können sogar die Meinung äußern, dass es nicht darum geht, alle Spielstätten jetzt wieder zu öffnen, sondern die Maßnahmen wesentlich auszuweiten, nämlich auch auf wirtschaftlich „sensible“ Bereiche wie etwa den Personennah- und -fernverkehr. Den nämlich, um nur ein Beispiel zu nennen, fürchten alle Beteiligten an Kulturveranstaltungen viel mehr als das Konzert oder den Museumsbesuch selbst.

  2. k. sagt:

    Ja, die Kulturszene ist gereizt und reagiert auf Trigger-Worte heftig. (Der Hamburger Kultursenator hatte ziemlich früh passende Worte zur Problematik „Freizeit“ und „Kirche“ gefunden, ganz unabhängig davon, dass er zu den Maßnahmen steht, und das war auch gut so. Das NDR Orchester hatte im Übrigen das erste Jubiläumskonzert schon am Freitag vor dem Lockdown ohne Publikum gestreamt, wegen der Vorbildfunktion eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Das zweite Jubiläumskonzert am Sonntag musste dann wegen eines Corona-Falls im Orchester komplett abgesagt werden.)

    Vergleiche wie Bus gegen Theater helfen da eh nicht viel, denn es geht ja gerade darum, dass das Publikum nicht in volle Bussen einsteigt, um ins Theater zu fahren. Und auch, dass Orchester nicht in volle Züge einsteigen oder Solisten ins volle Flugzeug.

    Mit manchen Argumenten diskreditieren sich die Künstler leider selbst, und das ist nicht schön. Merkel verkündet ja auch nicht die Maßnahmen, um die Bürger zu schikanieren.

    (Wenn man ganz ehrlich ist, müsste man dazu auch erwähnen, dass die meisten E-Musik-Leute kein Problem damit hätten, Popmusik, Fernsehserien o.ä. als Unterhaltung und Freizeit zu sehen. Oder selbst in der Klassik Beethoven als höherwertig als Kreisler. Oder aber wird ein Staatstheater als Kulturstätte gesehen aber die Aula der Volkshochschule nicht unbedingt. Es geht also auch um das eigene Ego.)

    Dabei wäre es jetzt im Interesse der Kulturschaffenden, wenn alle die Füße stillhalten würden und die Neuinfektionszahlen runterbringen. Sonst müssten auch noch die Musikschulen bald zu machen, man bräuchte nicht mehr über Weihnachts/Silvesterkonzerte reden. (Wobei ich schon gespannt bin, wie man über den Winter kommt, auch wenn es keine Lockdowns mehr gibt. Wenn in der Schulklasse eines Musikschülers einen Corona-Fall gibt, auch wenn dieser Musikschüler nicht in Quarantäne muss, müsste der Musiklehrer moralisch den Unterricht absagen und evtl. das Geld erstatten.)

    Was die Corona-Kulturhilfe angeht, ist es ein bißchen wie bei der Entwicklungshilfe. Wir sagen z.B. „Deutschland hat so und so viel Euro an Afrika gezahlt“, und diese Hilfe ist bestimmt sinnvoll. Die Corona-Kultur-Hilfen sind auch sinnvoll und Deutschland tut da im Vergleich zu manch anderen Staaten viel. Aber wie man sich bei der Entwicklungshilfe auch fragen muss, bei wem genau in Afrika das Geld ankommt und wie es verwendet wird, muss man auch bei Corona-Hilfen schauen, bei wem genau in der Kultur das Geld ankommt und wie es verwendet wird.

    Nur ist dieses Thema in der Klassik schon immer schwierig gewesen, zumal der Beruf verlangt, dass man nach außen eine heile Welt verkauft. Ein Konzert ist ja für viele Besucher ein Ort, wo man den Alltag vergessen kann, nicht unbedingt ein Ort, wo man sich mit den Sorgen auseinandersetzt. Künstlervitae hören sich meist toll an: er ist erfolgreich, hat in großen Sälen gespielt, Preise gewonnen.

    Es geht also einerseits um eine Außenwirkung – und klar müssen da alle für die Kultur solidarisch sein.

    Andererseits ist ein Theater, welches einen Sängersolisten für eine Opernaufführung für 100 Euro engagiert, genauso Kultur wie dieser Sänger auch. Und dieser Sänger im Beispiel hätte bisher dieses Problem nicht öffentlich thematisieren können, nicht zuletzt weil das quasi als ein Beweis für seine mangelnde Qualität abgetan worden wäre, also kontraproduktiv für den betroffenen Sänger. 

    Also muss man aufpassen, dass man mit Solidarität nicht nur Solidarität von unten nach oben meint. Viele Musiker sind freischaffend, eben weil die Kulturinstitutionen gespart haben. „Aushilfen“ sind nämlich genau das: sie werden nur dann engagiert, wenn sie gebraucht werden. Bisher funktioniert diese 2. Klassengesellschaft einigermaßen, weil die Aushilfen gebraucht wurden, wenn vielleicht zu einem günstigen Tarif als die Festangestellten. Aber gerade jetzt werden sie eben nicht gebraucht. Die Institutionen haben genug zu tun, um ihren Festangestellten was zu tun zu geben.

    Nur war das für mich im Frühjahr schon ein Problem (und das war der Moment, wo ich auch mal ans Aufhören gedacht habe). Da hatte ich z.B. bei einer Institution niederschwellige Musikvermittlungsangebote aufgebaut – es ist Basisarbeit, nicht spekutakulär, das Honorar ist auch entsprechend sehr niedrig, aber immerhin hatte ich es so weit gebracht, dass es dafür ein Honorar gibt. Und dann kommt Corona, und plötzlich gibt es eine Kooperation mit einem Orchester, das kostet nichts und es gibt mehr PR. Bei einem Projekt versuchte eine Kollegin zu erreichen, dass das Projekt gekippt wird, damit sie spielen kann. Solche Maschenschaften hatte ich das letzte Mal vor mehr als 20 Jahren erlebt. Dann sehe ich wie #metoo Täter Aufrtitte bekommen und gefeiert werden.

    Und wenn ich dann lese, dass es ja erschreckend wäre, wie manche Soloselbständige so schnell in Existenznot geraten, dann frage ich mich schon, ob man bisher über die Zustände in der Kulturszene die Augen verschlossen hätte. Wenn was mich fassungslos macht, dann eher das.

    Und dann komme ich schon ins Grübeln, wenn ich Prominente sehe, die über fehlende Auftrittsmöglichkeiten in der Corona-Zeit beklagen. Auch wenn ich die Frustration verstehen kann. Andere haben persönlich und individuell Schlimmes durchgemacht – Krankheit, Verletzung, Krisen usw. – und haben auch mal ein Jahr pausieren müssen. Oder Angehörige pflegen müssen. Da gab es keine Hilfen, und da wurde die eigene Identität auch nicht erschüttert.

    Ich hoffe, wir kommen friedlich durch die Zeit. In diesem Sinne, herzliche Grüße!

    • k. sagt:

      Vielleicht sollte man hier auch erstmal klären, wer „wir“ sind.

      In die Medien kommen eher diejenigen Künstler, die zwar auch massiv von den Schließungen betroffen sind – sowohl emotionell als auch finanziell – aber keine wirklichen finanziellen Sorgen haben.

      Und sicher sind sich die Künstler uneins – manche wollen spielen und treten lautstark für Öffnung ein, manche wollen Schließungen aber mit finanziellen Entschädigungen, für manche ist eine Schließung nur bezahlter Urlaub, manche leben von Erspartem, manche haben zwar kein eigenes Einkommen aber einen gutverdienenden Partner, manche haben sich einen Interimsjob gesucht oder schulen um.

      Letztendlich haben manche auch deshalb Hemmung, ihre Altersvorsorge aufzubrauchen, weil sie nicht wissen, wie die Auftragslage im Kulturbereich sich in den nächsten Jahren entwickelt. Und wenn sie dann in 20 Jahren im Alter Grundsicherung beantragen müssten, weil sie jetzt die Rentenversicherung gekündigt haben, keiner mehr an Corona denkt.

      Grundsätzlich stimme ich dem Artikel zu.

      Aber Punkt 5 betrifft aber letztendlich nur diejenigen, die in 2-4 Jahren immer noch im Beruf sind, und die bisher von geförderten Projekten gelebt haben oder eine Festanstellung bei einer Kulturinstitution haben. Also diejenigen, die jetzt noch einigermaßen über die Runden kommen aber dann viel zu verlieren hätten.

      Es geht aber auch um diejenigen, wo es darum geht, in 2 Jahren überhaupt noch da sein zu können. Und diejenigen, die nicht in geförderten Institutionen und Projekten sind – wo die Politiker schon im Frühjahr/Sommer gesagt hatten „wir können nicht alle retten.“ Die Münchner und die Berliner Philharmoniker gehören freilich nicht dazu.

      • k. sagt:

        P.S. zu 4.: zumindest hier ist die Innenstadt voll, Bus, S-Bahn und U-Bahn ebenfalls. Es ist jetzt zwar nicht mehr so voll wie in den letzten 3 Monaten, und weniger als in den normalen Jahren mit den Touristen, aber Abstand halten ist jedenfalls nicht möglich, selbst wenn man steht. Ich steige aufs Fahrrad um (ca. 40km pro Unterrichtstag).

        Ich will mit meinen Kommentaren keinesfalls Querdenken schönreden, und leider kam die „sangundklanglos“ Aktion bei der Öffentlchkeit fast vor wie eine Querdenken-Kampagne, auch wenn sie nicht so gemeint war. Das war nicht gut.

        Nur habe ich in den letzten Monaten auch viel Ungerechtigkeiten gesehen, wo man als Künstler letztendlich deutlich zu spüren bekommt, dass der einzelne Mensch nicht wirklich zählt, auch wenn von „Kulturrettung“ gesprochen wird. Und dagegen die Stimme zu erheben, auch schon jetzt, fände ich legitim. Es wird z.B. kaum thematisiert, dass so manchen Schauspielerinnen von Produzenten gesagt wurde, dass er über ein Ausfallhonorar nachdenken würde, wenn sie sich dafür erkenntlich zeigen würden. Auch das ist kein Appell, die Kultur zu öffnen. Nur, dass es zu einfach ist, diese Künstler ungehört alleine zu lassen und zu fordern, still zu sein, damit die großen Institutionen (die teilweise solche Praktiken tolerieren) hinterher bessere Überlebenschancen hat und gegen die Autoindustrie behaupten können.

        Es muss auch innerhalb der Kulturbranche und innerhalb der Kulturinstitutionen umgedacht werden, so dass möglichst alle überleben, nicht nur selbst.

  3. Iris Lichtinger sagt:

    Absolut: Bravo! Danke, Moritz!

  4. A D sagt:

    Danke dafür!

  5. Dr. Christoph Dammann sagt:

    Vorweg: im Ziel, infektionsriskante Kontakte zu minimieren, sind wir uns alle einig. Nun mein Widerspruch: er hat Recht, dass all die vielen Worte fehl am Platz sind, dass man jetzt aber mit den verantwortlichen Politikern sprechen muss. Ich glaube allerdings nicht an die zufällige Gleichsetzung von Kultur mit Freizeiteinrichtungen, hier müssen wir jetzt schon aufpassen, auch wegen der auf Corona folgenden Sparwelle. Die Kunst im Theater, Museum, Konzerthaus sind nicht umsonst im Grundgesetz genauso geschützt wie die Religionsausübung, Wissenschaft, Forschung und Lehre. Hier in Lautern sind doch viele Besucherinnen und Besucher dankbar, dass sie wieder ins Theater usw. gehen können. Ich sehe das ganz große Problem der Vermittlung dieser notwendigen Massnahmen, der fehlenden Erklärung und einer daher schwindenden Akzeptanz. Insofern ist es für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt meiner Meinung nach sehr wichtig, das zu artikulieren. Und in Bezug auf die Höhlenmenschen irrt der sonst geschätzte Herr Eggert auch. Die haben nicht gemalt und musiziert, weil sie frei hatten und sich langweilten. Sondern um sich mit dem irrationalen, übernatürlichen, metaphysischen zu verbinden und ihrem Leben einen Sinn zu verleihen.

    • k. sagt:

      Die Argumentation mit dem Grundgesetz leuchtet ein, auch wenn nicht glaube, dass Kunstfreiheit bedeutet, dass ich beliebig Kunst betreiben darf. Ein neues Infektionsschutzgesetz soll diesbezüglich aber bereits in Arbeit sein, um Rechtssicherheit bei Schließungen zu schaffen.

      Wobei ich den Politikern auch keine böse Absicht unterstellen möchte. Sportvereine, Tanzschulen, Ballettschulen sind zu (außer für Kadersportler und als Berufsbildung), Musikschulen sind für alle auf. Da ist die Musik sogar privilegiert (auch wenn diese Öffnung sich ironischerweise bei der November-Kulturhilfe für die Musiker als Boomerang erweisen könnte. So wie es momentan aussieht, fallen diejenigen soloselbständigen Musiker, die z.B. 800 Euro aus Unterrichtstätigkeit und 800 Euro aus Konzerttätigkeit verdienen, aus dem Hilfsprogramm).

      Interessant wäre es gewesen, wenn der Staat den Kultureinrichtungen die Wahl gegeben hätte, gegen 75% des Vorjahres-Novemberumsatzes freiwillig zu schließen oder unter strengen Corona-Maßnahmen weiterhin zu öffnen.

      Heute habe ich in der Stadt ein Plakat gesehen, es ging ums Thema Exil und drauf war ein Zitat von Otto Welsa abbildet: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Das hat mir zu Denken gegeben, vielleicht denken einige Kulturschaffende tatsächlich in die Richtung, dass sie mit allen Mitteln die Kunst verteidigen möchten, auch wenn sie (und auch andere) dafür mit dem Leben bezahlen müssen?

      In manchen Diktatoren würde man ja solche Menschen tatsächlich als Helden sehen. Und auch in Deutschland würde es, ginge es nicht um die Kunstfreiheit sondern z.B. um die Rechtsstaatlichkeit, einen gesellschaftlichen Konsens geben, dass das Prinzip wichtiger sei als der Schutz des Lebens.

      Wenn das Heldentum Märtyrertunm verwechselt wird, wird es aber gefährlich.

      • Sonia G.Y. sagt:

        „… auch in Deutschland würde es, ginge es nicht um die Kunstfreiheit sondern z.B. um die Rechtsstaatlichkeit, einen gesellschaftlichen Konsens geben, dass das Prinzip wichtiger sei als der Schutz des Lebens. “

        Da bin ich absolut Ihrer Meinung.

  6. k. sagt:

    Da es mittlerweile einige Presseartikel zu dem Thema gibt, möchte ich den Punkt 2 erläutern, auch in Hinblick auf Punkt 5. Ich sehe es auch so, dass manche Künstler sich tatsächlich beleidigt gefühlt haben, dass sie auf eine Stufe mit Bordellen und Vergnügungsparks gestellt wurden.

    Unabhängig von diesem Gefühlproblem (es gab im Sommer im Übrigen auch Demos von „Sexarbeiterinnen“, die sich als Expertinnen in Sachen Hygiene sahe und von der Politik marginalisiert gefühlt haben), sind die freien Musiker in der Vergangenheit auch schon immer wieder mit diesem Thema konfrontiert worden, und zwar in Form von Umsatzsteuer.

    Privater Instrumentalunterricht als Berufsvorbereitung ist umsatzsteuerbefreit, derzeit ist glücklicherweise auch Instrumenalunterricht als Hobby umsatzsteuerbefreit, wenn der Unterricht qualitativ ist, zumal man bei Kindern und Jugendlichen nicht weiß, für was der Unterricht später doch gut ist. Auch bei Erwachsenen könnte z.B. eine Grundschullehrerin, die Gitarre zur Entspannung lernt, ihre Fähigkeiten durchaus beruflich einbringen. Aber spätestens bei Rentnern kann man diese Argumente nicht mehr bringen, und es hat in der Tat immer wieder politische Versuche gegeben, Kurse in der Erwachsenenbildung umsatzsteuerpflichtig zu machen, was de facto weniger Netto für den Kursleiter bedeutet hätte, insofern er die Kleinunternehmergrenze überschritten hat.

    Oder aber auch bei Aufführungen – Hochkultur im gehobeneren Rahmen umsatzsteuerbefreit, Hochkultur in nicht so gehobeneren Rahmen zum ermäßigten Umsatzsteuersatz, Musik in der Kneipe, Firmenmuggen, Musikeinlagen bei Hochzeiten zum vollen Umsatzsteuersatz.

    Da wird schon zwischen Freizeit/Unterhaltung und (Hoch)kultur finanziell unterschieden. Aber wie lange diese Privilegien für die Hochkultur noch geben wird (Punkt 5 im Artikel) ist auch eine Frage. (Fahrschulen haben bisher keine Umsatzsteuerfreiheit durchsetzen können, auch mit dem Argument, dass man für viele Berufe einen Führerschein braucht.)

    Daher ist die „Freizeit“ Argumentation schon eine Art Déjà-vu, was die Alarmglocken läuten lässt.

    Im Übrigens wurde hier präzisiert, dass nur Kulturveranstaltungen, die dem Publikum Freude bereiten sollen, verboten sind. D.h. z.B. Schulkulturveranstaltungen, wo die Schüler gequält die Stunde absitzen, wären demnach erlaubt (was wiederum die Akteure in ein Dilemma bringt, denn musikpädagogisch versuchen wir ja, den Schülern die Freude an der Musik zu vermitteln…)

  7. Sonia G.Y. sagt:

    Zu 4: Ob Wagner LiebhaberInnen an „Tristan und Isolde“ in einer gekürzt reduziert Fassung Spaß haben können, da habe ich meine Zweifel. Von Wagner-Opern erwartet man ein Gänsehauterlebnis. Und das macht Wagner einzigartig. Eine kastrierte „Tristan und Isolde“ versetzt wohl kein Publikum in einen Rausch. Da ist es besser zu verzichten.

    50 Leuten in einem großen Opernhaus habe ich im vergangenen September in Berlin erlebt und jeder bemerkte eine differenzierte Stimmung. Es wunderte mich nicht, dass die Mitwirkenden Sänger nicht unbedingt in ihrem Element waren, trotz unserer kräftigen Anfeuerung. Meiner Erfahrung nach bringen die Bühnenkünstler in vollen Sälen eine deutlich bessere Performance. Darüber hinaus sollte man den wirtschaftlichen Aspekt nicht vergessen. Eine Opernproduktion für 50 Besuchern pro Abend ist definitiv eine Minus Geschäft. Wir wissen noch nicht wie hoch der wirtschaftlichen Schaden durch Corona zu beziffern ist. Der Staat muss sparen. Nach der Corona-Krise sollte es ein starkes Bedürfnis nach Kunst geben. Ich persönlich möchte mindestens eine Woche lang jeden Abend Opern und Konzerte besuchen. Also liebe MusikerInnen, habt etwas Geduld und bleib gesund.