Mein Schweigen
Mein Schweigen
Vielleicht fange ich diesen Artikel an wie bei einer Selbsthilfegruppe: „Ich heiße M.E. und habe seit einem halben Jahr nichts mehr komponiert.“
Ok, „gar nichts mehr“ ist gelogen. Hie und da kleine Sachen, Stücke für Freunde, Gelegenheitswerke. Aber nichts Großes mehr. Wer mich kennt, wird sich über dieses Geständnis vielleicht wundern, denn normalerweise bin ich bis über beide Ohren beschäftigt, meistens mit mehreren Aufträgen gleichzeitig. Die letzten 25 Jahre habe ich durchgehend komponiert wie ein Wahnsinniger, lebte ständig mit Deadlines und einem gewissen Druck, genoss aber auch die immer wiederkehrende Erfüllung durch Aufführungen und die Arbeit mit Mitwirkenden.
Warum also jetzt dieses plötzliche Verstummen? Dass wir Kreativen alle erst einmal in ein Loch fielen durch Corona ist kein Geheimnis. Klar, wenn Aufführungen abgesagt werden, vielleicht sogar ganz ausfallen, ist nicht nur der Druck weg, sondern auch die Motivation, jetzt dringend mit den Stücken zu einem Ende zu kommen. Zu den ersten Absagen gehörte bei mir z.B. eine Oper für Bonn, UA ursprünglich Januar 2021, jetzt geplant für Januar 2022. Erst fand ich die Verschiebung übertrieben – im April hoffte man noch auf ein baldiges Ende der Krise. Jetzt bin ich ehrlich gesagt froh drum. Ein Akt ist fertig, den zweiten und letzten zu beginnen wäre jederzeit möglich, doch mir fehlt momentan die Kraft dazu.
(Gedicht: Andrea Heuser, Video und Musik: Moritz Eggert)
Ein weiteres Großprojekt war ein riesiges Happening für das Beethovenorchester (zusammen mit Axel Brüggemann), mit hunderten von Mitwirkenden aus der ganzen Stadt, darunter auch Karnevalskapellen und Heavy-Metal-Bands, großer Chor, viele Statisten, geplant für diesen September…man kann sich vorstellen, dass das im Moment nicht möglich ist. Wird es gelingen, das Ganze bis zum verlängerten Beethovenjahr (April 2021) nachzuholen? Das weiß im Moment keiner.
Das sind jetzt alles nur Beispiele, ich weiß, dass es vielen ähnlich geht. Ich bin keineswegs ein Sonderfall und bilde mir auch nichts darauf ein. Vielen glücklichen Kollegen gelingt aber eine Art Zweckaktionismus – sie arbeiten einfach weiter, auch wenn die Aufführungen vor wenigen Leuten oder in reduzierter Form stattfinden. Ich kenne sogar MusikerInnen, die momentan mehr zu tun haben als je zuvor – gerade im Bereich Kammermusik wird momentan fast mehr gemacht als sonst, vieles davon Online oder in besonderen Aufführungsformen, es herrscht allerorten große Kreativität und viele schöne Projekte sind trotz der Widrigkeiten entstanden. Igor Levit bekommt für seine Durchhaltekonzerte aus dem Wohnzimmer Ehrungen – so wie er laufen andere zu künstlerischer Hochform auf unter den momentanen Bedingungen. Dann gibt es auch noch diejenigen, die eh schon immer glücklich waren, im Stillen und ungestört zu schaffen – für sie herrschen geradezu paradiesische Zustände (wenn nicht die Schwierigkeit des finanziellen Überlebens hinzukäme).
Und dennoch – ich selbst fühle ich mich persönlich wie gelähmt. Ich habe keine übertriebene persönliche Angst vor Covid-19, kenne aber genug Betroffene wie auch Verstorbene, verstehe die Gefahr und die Maßnahmen, würde anstelle der Entscheidungsträger auch nicht viel anders handeln und beneide diese nicht um ihre Rolle. Wie viele von uns schlafe ich schon seit vielen Monaten schlecht bis gar nicht, aber selbst das müsste einen nicht hindern.
Ich bin nicht untätig. Ich habe sehr viel mehr Sport gemacht, bin jeden Tag viele Kilometer gelaufen, habe an einigen der wenigen Sportveranstaltungen teilgenommen, die momentan möglich sind. Ich habe mich viel mehr um meine Familie kümmern können, habe mit meinen Kindern gespielt und gelacht, für alle gekocht und war ansprechbar und weniger überfordert als sonst. Meine StudentInnen habe ich betreut, ich habe mir ihre Partituren angeschaut und ihnen Tipps gegeben. Mir ist es wichtig, dass es ihnen gut geht.
Ich selbst aber habe bisher nicht die Energie gefunden, weiterzuarbeiten.
Vor kurzem habe ich einen Facebook-Post gesehen. Er ging ungefähr so: Auf einem Bild brennt der Wald und überall sind Löschfahrzeuge zu sehen. Davor steht ein Komponist und ruft: „Can I help with my experimental music?”. Ich musste sehr lachen – exakt so fühle ich mich im Moment. Die Vorstellung, dass eine Komponistin/ein Komponist bei einem Waldbrand mit ihrer/seiner Musik helfen kann, ist natürlich absurd. Und ja, ich bin mir absolut bewusst, dass dies auch zu anderen Zeiten und bei anderen drängenden Problemen der Fall ist, die die Welt täglich hat. Täglich komponieren tausende KomponistInnen auf aller Welt im Angesicht von Ignoranz und der medialen Überfrachtung weiterhin tapfer ihre Stücke, oft für kleine Spezialistenkonzerte, Insider-Festivals oder akademische Konzerte, daran ist ja nichts Falsches.
Und dennoch: ich kann es nicht anders beschreiben, aber mich beschleicht das untrügliche Gefühl, dass die Ohren momentan nicht offen sind, für das, was wir komponieren. In den Feuilletons ist schon seit vielen Monaten die Berichterstattung über zeitgenössische Musik auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Hie und da tauchen wir auf, aber stattdessen sieht man zunehmend Bilder von Opern- und Theateraufführungen, die aussehen wie aus den 50er Jahren. Musikkritiker zu Coronazeiten sind gerührt über die wenigen Aufführungen klassischer Musik, und ergehen sich in Elogen über Aufführungen von Cosi fan Tutte, im Überschwang einer Nostalgie für das, was man gerade vermisst. Schon jetzt ist klar, dass das Programm der Opernhäuser eher noch traditioneller werden wird in den kommenden Jahren, denn alle fahren momentan Verluste ein, der sie mit einer Besinnung auf das was man schon kennt begegnen wollen. Das ist alles verständlich, aber dennoch nicht wirklich ermutigend für diejenigen, die an einer neuen Musik arbeiten, die sich über die Weiterentwicklung von Ästhetik und musikalischem Tonfall Gedanken machen.
Man stelle sich folgendes in diesem Moment vor: eine Komponistin würde ein bahnbrechendes Werk wie Ligetis „Atmosphéres“ schreiben (dessen UA in Donaueschingen die internationale Karriere dieses großartigen Komponisten begründete) und dieses Werk würde in einem der reduzierten Orchesterkonzerte in diesem Moment uraufgeführt, vielleicht sogar nur gestreamt werden und in einer Flut von solchen Angeboten untergehen. Könnte dieses Stück selbst bei höchstmöglicher Qualität denselben Impact wie Ligetis Stück entwickeln? Ich glaube nicht. In gewisser Weise wäre das Neue an diesem Stück in speziell diesem Moment verschenkt, da man nicht die Offenheit hätte, die für das Neue so wichtig ist.
Nicht alle neue Musik ist „experimentell“ und muss es auch nicht sein. Aber um wirklich „neu“ zu sein, gehört immer ein Moment des Spielerischen und des Unbekümmerten dazu. Es reicht nicht nur, ein gutes Stück zu komponieren. Das Stück muss auch den „richtigen Moment“ erwischen. Im Jahr 1913 – in einem hocherregten aber daher auch künstlerisch sensiblen Klima eines durch viele dramatische Wandlungen geprägtem Europa – war der „perfekte Moment“ für „Sacre“. Zwei Jahre später – mitten im Ersten Weltkrieg – wäre diese Aufführung komplett verpufft und hätte niemals dieselben kreativen Wellen geschlagen.
Die Kunstgeschichte ist voll von Werken, die entweder „zu früh“ oder „zu spät“ kamen. Manche Werke wurden später wiederentdeckt, manche nicht. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Weiß man denn wirklich, wie sich die jetzige Situation in den nächsten Jahren weiterentwickelt? Die Pandemie ist noch kein abgeschlossener Prozess. Es ist kunsthistorisch selten, dass während einer Krise die Werke entstehen, die diese Krise perfekt beschreiben. Ein Bild wie „Guernica“ (1937) von Picasso ist zum Beispiel eine Ausnahme, aber Picasso malte das Bild im Ausland, aus der „Ferne“, und hatte auch das konkrete Ziel, mit den Einnahmen das Bildes die Opfer des spanischen Bürgerkriegs zu unterstützen. Das war eine gute Motivation. Doch das Virus ist abstrakt, wir können nicht dagegen „kämpfen“ und es auch nicht „besiegen“, wir können uns nur wappnen und damit so gut wie möglich umgehen.
Ich habe in einem anderen Artikel geschrieben, dass wir KünstlerInnen als „Chronisten der Gefühle“ jetzt ein offenes Ohr dafür haben müssten, was momentan in den Menschen vorgeht, es aufzeichnen und in Kunst verwandeln müssen. Danach glaube ich auch nach wie vor, und es gibt mir Hoffnung.
Ich denke viel nach über die Musik, die ich schreiben möchte, und die ich dennoch gerade nicht schreibe. Ich höre sie im Kopf. Es ist keine Schande, zu schweigen oder innezuhalten. Vielleicht ist es das, was ich im Moment brauche: innehalten und nach innen hören.
Mein lieber Lehrer Wilhelm Killmayer sagte einmal zu mir „Seien Sie froh, dass sie noch Krisen haben“. Als junger Student litt ich nämlich noch an diesen Krisen, als erfahrenerer Komponist kannte Killmayer dagegen eher die Routine und nicht mehr so sehr das grundsätzliche Zweifeln. Letzteres faszinierte ihn aber sehr, wie jeder weiß, der Killmayers Musik kennt. Er sah im Zweifeln und Zögern kein Versagen, sondern ganz besondere künstlerische Integrität und Stärke. Er liebte die Philosophie, die fragt und lauscht, nicht die, die fertige Antworten rigide präsentiert. Er bewunderte den späten Hölderlin, der seine letzten Lebensjahre vor allem schwieg und nur wenige, rätselhaft schlichte Gedichte schrieb, und das auch nur, wenn ihn Freunde darum baten. Killmayer suchte in diesen Gedichten ein innewohnendes großes Mysterium, die tiefe Weisheit, die sich aus dem Schweigen und Lauschen speist.
Ich muss in diesen Tagen oft an Killmayer denken, und das tröstet mich.
Ich heiße M.E. und ich habe seit einem halben Jahr nichts mehr komponiert.
Ich werde mich dafür weder rechtfertigen noch schämen. Ich muss niemandem etwas beweisen. Ich habe das Recht, innezuhalten und zu lauschen. Und dasselbe gilt für alle, die dies lesen. Ihr seid keine VersagerInnen. Ihr müsst nicht trotz der Krise „funktionieren“ und auf Instagram beweisen, wie wahnsinnig aktiv ihr trotz der Corona-Umstände seid. Es ist keine Schande, nachts wach zu liegen, sich Gedanken zu machen, zu zaudern oder mit sich zu hadern. Im Schweigen liegt auch Kraft, da man das, was irgendwann zu sagen ist, nicht durch Aktionismus unkenntlich macht. Man ist auch Komponist, wenn man nicht komponiert, genauso wie man auch immer Torwart ist, selbst wenn man in einem Spiel kein einziges Mal einen Ball abwehren muss.
Ich heiße M.E. und ich habe seit einem halben Jahr nichts mehr komponiert.
Ich hoffe, ich werde viel zu erzählen haben, wenn der richtige Tag kommt, an dem ich wieder anfange. Schauen wir Mal, wann.
Moritz Eggert
Komponist
Vielen Dank für Ihr Posting. Schön zu erfahren, dass die UA Ihrer neuen Oper nicht komplett gestrichen, sondern verschoben ist. Ich werde versuchen, nach Bonn zu fahren, um sie zu erleben. Zugegebenermaßen habe ich wenig Erfahrung mit Zeitgenössischen Opern. Mir gefällt Wagner am besten und ich bevorzuge „Bluthaus“ als Cosi. Mozart kann ich sowieso nicht ausstechen, was all meine Klavierlehrer auf die Palme brachte.
Am Wochenende habe ich die Deutsche Oper Berlin besucht. Das war mein erster Opernbesuch seit dem Lockdown. Eine Besucherin, die mich ansprach, beschwerte sich über die Reduktion auf 300 Sitzplätze. Ihr Wunsch würde bald erfüllt sein, da im Berliner Theaterbetrieb bereits eine Maskenpflicht auf den Sitzplätzen herrscht und dafür mehr Besucher zugelassen würden. Ein Teil des Opernpublikums verzichtet wohl
aus Sicherheitsgründen auf einen Theaterbesuch. Aber keine Angst. Ein Theatersaal ist meines Erachtens ein sicherer Ort. In den meisten Häusern gibt es moderne Belüftungsanlage und die meisten Opernbesucher sind diszipliniert. Ich persönlich trug eine Doppelmaske. Eine FFP2, darüber eine Virus killende Maske aus Kanada. Atemprobleme hatte ich keine, ist wohl eher eine mentale Sache.
Die Oper an jenem Abend, La Gioconda, war eigentlich nicht meine Sache. Nur um den Tenor Joseph Calleja zu hören, entschied ich mich ausnahmsweise für dieses Stück. Unabhängig von allem, allein die Tatsache, wieder in einem Theatersaal zu sitzen hat mich angemacht. Vielleicht ging es anderen auch so. Es wurde viel mehr applaudiert als sonst. Danke an alle mitwirkenden Musiker.
Übrigens, werde ich in der Corona-Zeit auf Bahnfahren in der 1. Klasse lieber verzichten. In der 1. Klasse wird Essen und Getränke an die Sitzplätze gebracht. Hie und da wurden wechselnd Masken abgezogen, um zu essen und zu trinken. Manche nutzten diese Gelegenheit, indem sie auch noch Maskenlos telefonierten. Jemand in meinem Sitzbereich führte gar lange Telefongespräche. Ich sprach ihn an, darauf reagierte er nichts. Seine Rücksichtslosigkeit machte mich wütend. Gerade hinter ihm saßen ältere Frauen, die aßen. Letztendlich ließ ich den Ignoranten durch einen Bahnmitarbeiter eine Mundbedeckung verpassen. Ich zog in einen anderen Wagen um. Dort herrschte aber die gleiche Szenerie. Irgendwann hatte ich kein Bock mehr, die Maskenlos Telefonierenden anzusprechen. Ehrlich gesagt, kostete es mich zu viel Kraft. Bei der Rückfahrt in der 2. Klasse war es wesentlich besser: Niemand telefonierte Maskenlos.