Ultra in Schweden – Ein Reisetagebuch in 3 Teilen (1)

Ultra in Schweden – Ein Reisetagebuch

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Viele haben sich sicherlich gefragt, warum ich hier in letzter Zeit so still war. Nun – zuerst einmal mache ich wenigstens einmal im Jahr Blogpause, was man mir gnädig nachsehen möge. Aber dieses Mal hatte es auch den Grund, dass ich vor lauter Trainieren zu nichts mehr kam. Schuld war…ein schwedischer Ultra.

 

Nein, kein blonder Nazi-Hooligan bedrohte mich, keine Angst. „Ultra“ bezeichnet eine Form des Extremmarathons, also alle Distanzen über 42 Kilometer, nach oben hin offen. Alle, die mich kennen, wissen, dass ich in den letzten Jahren immer mehr von Sport und Laufen begeistert bin und schon an einigen Wettbewerben teilnahm. Alle, die mich kennen, wissen auch, dass ich einen gewissen Hang zum Exzessiven habe. Ich mag keine oberflächlichen Beschäftigungen mit Sachen, schaue Filme und lese Bücher immer zu Ende, auch wenn es quälend ist (ja, ich habe auch die berüchtigte Langfassung von „La Belle Noiseuse“ geschaut, bei der über viele Stunden nichts anderes zu sehen ist als ein gelangweilter Michel Piccoli, der langsam ein Porträt zeichnet, und noch nicht einmal ein besonders gutes!). Das geht bis hin zu einem gewissen Fanatismus – wenn mich etwas begeistert, dann möchte ich komplett eintauchen darin und keine halben Sachen machen.

 

Leider kam ich sehr spät zum Laufen – als junger Mensch wäre mir nie eingefallen, freiwillig auf eine Rennbahn zu gehen, sodass ich heute sehr schnell an meine Grenzen stoße, wenn es um schnelle kürzere Distanzen geht. Je länger die Distanzen werden, desto mehr beiße ich mich aber gerne durch. Es ist kein Zufall, dass viele ältere Läufer von Ultras angezogen werden, denn tatsächlich ist eine Extremdistanz auch eine Relativierung des Altersunterschieds. Es gibt 60jährige Ultraläufer, die 20jährigen über eine 100km Distanz zeigen, wo der Hammer hängt. Geschwindigkeit ist eine Sache, aber Ausdauer und Hartnäckigkeit spielen bei Ultras eine größere Rolle, und da hat ein 60jähriger mit einer gewissen Lauffitness einen großen Erfahrungsvorteil gegenüber dem 20jährigen.

 

Ich wollte also schon immer Mal ausprobieren, wie sich ein Ultra anfühlt und ob ich das überhaupt kann. Ausdauer trainiere ich sehr viel, aber man kann nicht wirklich trainieren, wie es sich anfühlt, einen ganzen Tag zu laufen, da man das im Training nie machen kann. Man muss es also in einem Wettkampf ausprobieren, es gibt auch keine Garantie darauf, dass man es schafft. Selbst Profis brechen bei einem so langen Lauf auch mal vorm Ziel ein – sie haben vielleicht ein zu hohes Anfangstempo gewählt, das Falsche gegessen, Kreislaufprobleme – alles kann auf so einem Lauf passieren. Aber das ist auch das Spannende!

 

Leichtsinnig meldete ich mich daher für meinen ersten Ultra an, die 80km Icebug Challenge in Bohuslän, Schweden. Immerhin ist Marathonlaufen ein wenig wie Opernkomponieren – stellt man sich die ganze Arbeit auf einmal vor, muss man verzweifeln. Am Ende teilt man es sich aber in einzelne Schritte ein, einer nach dem anderen. Und wenn man dabeibleibt, kommt man irgendwann an, das ist das Schöne. Musiker dürfen also ruhig weiterlesen.

Der schwedische „Sonderweg“

Corona in Schweden

 

Viele Deutsche Corona-Geschädigte schauen neidisch auf Schweden. Immer wieder ist vom „schwedischen Sonderweg“ die Rede, und Covidioten halten Schweden gerne als Beispiel aufrecht, um die angebliche Ungefährlichkeit von Covid-19 zu „beweisen“. „Da müssten ja Tote die Straße säumen, tun sie aber nicht, obwohl die Schweden nichts machen!“ sagen sie triumphierend. Viele Deutsche stellen sich Schweden als heiteres Partyland vor, mit entspannten Menschen, die sich fröhlich umarmen, bei jeder Gelegenheit abknutschen und „Corona, what’s that?“ rufen.

 

Als jemand der gerade in Schweden war und mit vielen Schweden über die Thematik gesprochen hat, möchte ich hier einmal klar und deutlich sagen: zu behaupten, dass Schweden so wäre ist Quatsch, Fake News, Bullshit.

 

Im März, April – als in Deutschland Lockdowns begannen – blickte die Welt auf Schweden, das angeblich eher auf „Herdenimmunität“ setzte und angeblich „nichts“ machte. Schon das ist falsch. Im April hätte ich nämlich ein Konzert und einen Meisterkurs in Schweden gehabt, dieser wurde sofort von der schwedischen Universität abgesagt, weil die Universitäten komplett (!) dichtmachten und öffentliche Veranstaltungen streng limitiert wurden. Und wie ist es jetzt? Die Antwort ist: anders, aber letztlich genauso streng, wenn nicht sogar strenger als bei uns. Und das, was man anders machte, hat in einer höheren Todesrate resultiert, das geben die Schweden selber jederzeit ohne Umschweife selbstkritisch zu.

 

Im öffentlichen Raum herrscht keine Maskenpflicht, dafür stehen aber wirklich überall hunderte von Schildern herum, die dringend darauf hinweisen, dass man Abstand halten solle. Und da die Schweden ein höfliches und wohlerzogenes Volk sind, halten sie sich daran, was auch nicht so schwer ist, denn selbst in Schweden begegnet man den Schweden fast nie, die bleiben schon im Spätsommer lieber in ihren Häusern als draußen herumzulaufen. Es gab Momente in meiner Reise, bei denen ich sicher war, letzter Überlebender eine Zombieakopalypse zu sein, denn selbst bei Spaziergängen durch bewohnte Gebiete konnte es vorkommen, dass man ewig keinen einzigen Menschen zu Gesicht bekommt. Die Leute halten sich außer im Hochsommer nicht sehr viel draußen auf, so viel ist sicher.

Flughafen Göteborg: die Massen stürmen rücksichtslos aufs Gepäckband

Schon als ich am Flughafen Göteborg ankam, herrschte gähnende Leere. Der Flug aus Amsterdam war der einzige, der in diesem Zeitraum ankam. Wenige Dutzend Menschen verteilten sich brav und mit großem Abstand in einer riesigen Gepäckhalle. Im Bus isolieren sich die Fahrer mit Absperrungen so sehr, dass Fort Knox dagegen ein Witz ist. Da ich 5 Mal den Bus wechselte (auf dem Weg nach Hunnebostrand, wo der Ultra stattfand) konnte ich jedes Mal erleben, wie sich wenige bis gar keine Menschen an weitestgehend leeren Bus-und Bahnstationen höflich jeweils so weit wie möglich auseinandersetzten, einige davon freiwillig Masken tragend. Überall sind Hygienespender und Aufforderungen, diese dringend zu benutzen, in jedem Geschäft ist alles mit Schutzglas abgeriegelt, wesentlich extremer als bei uns. Als ich einen Busfahrer nach dem Weg fragte, bekam dieser fast einen Herzinfarkt, denn ich war näher als 3 Meter an ihn herangekommen (obwohl ich draußen vorm Bus stand, im Freien!). Als ich einen recht großen Laden betreten wollte, der sogar nach außen hin bei schönem Wetter offen war, scheuchte mich der Besitzer wieder hinaus, denn ein einziger (!) Kunde hielt sich schon darin auf. Ich musste warten, bis dieser gegangen war, danach wurde erst einmal desinfiziert, obwohl der Ladenbesitzer den Besucher persönlich zu kennen schien.

In Restaurants wird man wie bei uns an die Tische geführt, es herrschen strenge Regeln für Maximalkapazitäten. An die Bar darf man sich nicht setzen. Veranstaltungen und Zusammenkünfte sind streng begrenzt auf 50 Teilnehmer (also weniger als bei uns!), Menschen, die diese anscheinend nicht das „Grundrecht“ ankratzende Regeln heimlich umgehen, müssen hohe Strafen zahlen, werden öffentlich geächtet und heftig kritisiert. So erzählte mir ein Läufer, dass er eine Hochzeit eines Freundes nicht besuchen würde, da dieser vielleicht mehr als 50 Leute eingeladen hätte.  In Göteborg sind Theater, Konzertsäle und auch der große Freiluftvergnügungspark komplett geschlossen, Kleinkunst ist das einzige, was geht.

Man kann in Göteborg Zentrum jederzeit Fotos machen, auf denen kaum Menschen zu sehen sind. Hier: Hotel Eggers (!) am Bahnhof

Auch der Ultra war fast abgesagt worden, man begrenzte aber dann die Teilnehmerzahl auf unter 50 (am Ende waren es nur 37), entzerrte die Termine der weiteren an dem Wochenende stattfindenden Läufe so, dass niemals mehr als 50 Läufer gleichzeitig laufen, die sich dann auch noch über 80 Kilometer (!) verteilen. Im Vorfeld des Laufs wurden alle Teilnehmer über die sehr strengen Maßnahmen informiert – an allen Versorgungsstationen musste man sich selbst alles in einen eigenen Becher füllen und Abstand halten, Informationsveranstaltungen und Siegerzeremonie wurden schon im Vorfeld abgesagt, es gab auch keinerlei Feier oder Zusammenkunft der Läufer.

 

Alle Schweden, mit denen ich sprach, nahmen Corona sehr, sehr ernst. Sie meinten, dass die schwedischen Experten einige Fehler am Anfang der Pandemie gemacht haben, für die sie sich inzwischen öffentlich entschuldigt haben.  Sie machten sich Sorgen vor allem um leichtsinnige Jugendliche, die gerade neue Infektionswellen auslösen, ganz wie woanders auch. Und sie wunderten sich über die Anti-Coronademonstrationen in Deutschland, einem Land, dass sie von außen als eines derjenigen empfinden, die relativ besonnen gehandelt haben, und das sie deswegen auch beneiden.

Einer von vielen menschenleeren Busbahnhöfen auf der Strecke

Insgesamt kann ich also sagen, dass das Thema Corona im Alltag wesentlich dominanter war als bei uns, Achtsamkeit und Abstand waren ständig präsent, auch ohne Maskenpflicht. Dass Schweden keine Maskenpflicht hat, geht aber eben auch nur in diesem Land, da sich relativ wenige Menschen über eine riesige Fläche verteilen und es kaum Ballungszentren oder Durchgangsreiseverkehr gibt. Wenn es nicht so wäre, würden die höflichen Schweden ganz sicher auch Masken benutzen (was viele ohnehin schon freiwillig tun, ohne dass sie ein schwedischer fucking Vegankoch deswegen verhöhnt oder beschimpft).

 

Kurzum: ich habe mich noch nie so sicher vor Corona gefühlt, wie in Schweden. „Schwedischer Sonderweg MY ASS“, wie der Ami sagen würde. Wie so vieles bei uns speisen sich die „Theorien“ über das angeblich Corona-relaxte Schweden vor allem aus Ignoranz, Tunnelblick und schlichter Unkenntnis der Tatsachen.

 

Fortsetzung in Teil 2: „Der Lauf“

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2 Antworten

  1. Wolfgang sagt:

    Lieber Moritz, ich bin Dir sehr dankbar für das schöne und beruhigende Bild, das Du von „meinem“ Schweden zeichnest! :) Ich kann aus mehrfacher eigener Erfahrung nur bestätigen, dass die Schweden sehr höflich und rücksichtsvoll sind – manchmal schon fast zu viel, obwohl das gerade in diesen Zeiten ja sehr hilfreich ist. Allein der Winterurlaub mit dem geduldigen Schlange-Stehen am Lift ohne Drängelei wie in den Alpen ist eine Wohltat.
    In einer Hinsicht muss ich Dir allerdings vehement widersprechen – wobei Deine Beobachtung sicher stimmt, aber ganz klar Corona geschuldet ist: Die Schweden gehen raus, sobald es nur etwas wärmer ist. Wenn wir hier über das Wetter meckern, holen die Schweden den Grill raus (im März an der Skipiste gesehen, bei 10°C). Ich habe drei Wochen in Göteborg gelebt, zugegeben bei schönem Wetter, wo auf den Straßen der Bär los war, und zwar nicht nur von Touristen. Ich hatte aber schon vorher gelesen, dass zu den offiziellen Empfehlungen bei der Abwehr der Pandemie gehörte, dass man doch bitte die „Ausgänge“ auf das Nötigste beschränken solle. Und da sind wir wieder bei der Disziplin der Schweden – die halten sich dran! Normalerweise wirst Du dort gerade im Sommer ein Volk erleben, dass sich liebend gern im Freien aufhält. Nur: außerhalb der Städte verteilt sich das ja auch ganz schnell, angesichts der geringen Bevölkerungsdichte. :)
    Aber nochmal: Danke! Du hast mir Mut gemacht, bald wieder meine zweite Heimat zu besuchen!