„Social Distancing“ wird ein Dauerthema bleiben und das Konzertleben auf unabsehbare Zeit limitieren („Was uns erwartet“, Teil 1)
Was uns erwartet
Inzwischen sollten vielleicht auch die größten Zweifler begriffen haben, dass die Welt es bei Covid-19 nicht mit einer vorübergehenden übertriebenen Panik zu tun hat, sondern dass die Pandemie im Begriff ist, auf unabsehbare Zeit zu einem Dauerthema zu werden, das unsere Gesellschaft verändern und auch lange prägen wird. Hier jetzt detailliert vorherzusagen, was genau in den kommenden Jahren deswegen an Veränderungen passieren wird, wäre vermessen – zu groß sind die Ungewissheiten. Aber inzwischen leben wir schon lange genug mit der Situation, dass sich bestimmte Tendenzen absehen lassen. Nach einigen Monaten der Corona-Krise ist es vielleicht Zeit für eine vorsichtige Bestandsaufnahme, was auf Musikschaffende in zum Beispiel Deutschland zukommen könnte. Eine Serie.
- „Social Distancing“ wird ein Dauerthema bleiben und das Konzertleben auf unabsehbare Zeit limitieren
Nach den schon jetzt nachweisbaren Rückschlägen bei zu großen Lockerungen oder neuen „Superspreader“-Events bei Menschenaufläufen ist es unrealistisch zu glauben, dass schon im Herbst „alles wieder beim alten“ sein wird, was den klassischen Konzertbetrieb angeht. Hierzu braucht es auch keine dramatische „Zweite Welle“ (von der man im Moment nicht weiß, wie dramatisch sie sein wird, wenn überhaupt), es reicht der momentane Zustand, um ein großes Fragezeichen hinter größere Aufführungen mit Orchester oder Chor zu setzen. Infektionsraten niedrig zu halten, dabei aber das öffentliche Leben größtenteils wieder in Gang zu bringen, wird wichtiges Aktionskriterium der Politik sein. Hierbei wird Kultur – da muss man sich keine Illusionen machen – nie oberste Priorität haben, auch wenn es sicherlich auch im allgemeinen Interesse sein wird, auch hier die Strukturen möglichst zu erhalten.
Opernhäuser, Konzertsäle und Festivals werden sicherlich ihr bestes geben, um individuelle und praktikable Lösungen zu finden, aber diese werden immer von Ängsten und Unsicherheiten überschattet sein. Wie weit muss ein Chor auseinanderstehen, damit es „sicher“ ist? Brauchen Orchester jetzt vielleicht mindestens die doppelte Sitzfläche und können eigentlich nicht z.B. im Graben (wo die Luft meistens steht) spielen? Wie spiele ich Massenszenen mit Chor und Ballett auf der Opernbühne? Dürfen sich Sänger bei einer Liebesszene küssen?
Bei Open Airs (für klassische Musik nie die ideale Aufführungssituation) wird man diese Probleme gelegentlich umgehen können, aber nur ein kleiner Teil des diesjährigen und ohnehin schon größtenteils verschobenen/abgesagten Festivalprogramms wird als Open Air stattfinden können. Im Herbst/Winter wird dann die Ernüchterung einsetzen, und gerade die einigermaßen lukrativen Ableger der klassischen Musik (die großen Prestigeveranstaltungen) werden weiterhin Probleme bekommen, da genau das, was ihren Reiz ausmacht, unter einem Schatten steht, der das Vergnügen mildert: z.B. großes Publikum und ein gewisser Bombast der Aufführung, gepaart mit der Möglichkeit ungezwungenen Flanierens und eines entspannten Miteinanders größerer Gruppen im Foyer, beim Essen danach, bei Autogrammstunden, etc.
Der Besucherstrom ist dann gleich doppelt eingeschränkt – durch die Hygienemaßnahmen wie auch durch die Ängste. Und diese Ängste werden vor allem den zahlenmäßig größten Anteil des Klassikpublikums betreffen: ältere Menschen.
In variierter Form wird dies auch andere Branchen treffen – ganz sicher den Sport, aber auch Popkonzerte, Musicals, Loveparades, also alle existierenden „Live“-Veranstaltungen, U wie E. Dass es sie treffen wird, ist keineswegs Ausdruck einer „Kulturfeindlichkeit“ (wie von verständlicherweise frustrierten Musikern immer wieder gerne in die Runde geworfen wird) sondern ist ein Resultat der Veränderung des gesellschaftlichen Miteinanders durch das Virus. Eine Veränderung, die ganz sicher niemand wollte, die aber immer noch das geringere Übel ist gegenüber unfassbar vielen Toten oder einem Crash der medizinischen Versorgung oder einem Zusammenbruch der politischen Führung, wie er sich momentan in den am schwersten betroffenen Ländern abzeichnet.
Manche aus der Musikbranche werden sich trotzig wie kleine Bolsonaros dieser Entwicklung entgegenstemmen und die Gefahren kleinzureden versuchen oder gar leichtsinnige Konzepte entwickeln. Das alles wird aber keine Trendwende herbeiführen, weil ein Großteil der Bevölkerung die Lage realistischer einschätzen wird – am Ende wird man niemanden in ein überfülltes Konzert zwingen können, und daher wird es schon deswegen nicht so viele überfüllte Konzerte geben.
Tatsächlich wird sich das kleine Café oder das kleine Restaurant an der Ecke leichter tun als ein Opernhaus oder ein Rockfestival, der Stammkundschaft trotz Mundschutz und Hygieneregeln wieder Geborgenheit zu vermitteln – man kennt sich, ist in kleinerem Kreis, daher entstehen weniger Ängste. Bis auf weiteres werden aber die meisten Menschen größeren unbekannten Menschenansammlungen mit großem Misstrauen begegnen, selbst wenn sie diese Veranstaltungen schätzen und keineswegs als irrelevant ansehen. Das ist keine Absage an die Musik oder an die Kultur, es ist schlicht und einfach Vorsicht. Wenn es eine Gewitterwarnung gibt, schwimmt auch der ambitionierteste Schwimmer nicht in seinem Lieblingssee, was aber natürlich nicht heißt, dass er nie wieder schwimmen will.
Kleinere Unternehmungen wie Kammermusikreihen oder überschaubare Besetzungen werden es leichter haben, hier kreative Lösungen zu finden, aber auch sie werden die Auswirkung einer Grundangst vor der Infektion zu spüren bekommen. Aber gerade kleine Ensembles und insbesondere die freie Szene werden hier vielleicht schneller reagieren und mit praktikableren künstlerischen Ideen punkten können, als es die subventionierten Häuser vermögen. Aber auch bei letzteren werden Phantasie und neue Konzepte ganz sicher eher punkten als Versuche, das Altbekannte in limitierter Form zu präsentieren. Leider werden diese neuen Ideen (die es ganz sicher geben wird) sehr abhängig sein von neuen Finanzierungsideen, und da hat es die freie Szene naturgemäß schon immer eher schwer.
Was wir als KünstlerInnen tun können:
Leider nicht so viel, außer vielleicht zu beten, dass baldmöglichst medizinische Entdeckungen Erleichterung verschaffen. Gerade die größten Coronaleugner (die es nach wie vor auch unter MusikerkollegInnen gibt) sollten dies hoffen, denn es bringt ihnen nichts, allein an eine Nichtexistenz des Virus zu glauben – ihr Publikum wird es ihnen in großer Mehrheit nicht gleich tun.
Mit einem perfekten Impfstoff ist nicht so bald, vielleicht auch gar nicht zu rechnen. Die aktuelle Forschung setzt daher eher auf Medikamente, die Symptome lindern oder den Krankheitsausbruch mildern oder verhindern – wenn hier entscheidende Durchbrüche anstehen, würde sich die psychologische Situation verbessern und Covid-19 würde zum „Dauerproblem“ wie AIDS, vor dem man zwar weiterhin Angst hat, aber nicht mehr so stark. Dass das Konzertleben dann wieder „normal“ wird, wäre zu hoffen, ist aber keineswegs 100% sicher. Bestimmte Verhaltensweisen wie die Distanzregeln und Ängste werden sich – zum Teil auch unbewusst – länger halten, so wie auch heute die meisten Menschen durchaus dem immer noch dem Ratschlag folgen, bei ersten sexuellen Kontakten auf jeden Fall Kondome zu benutzen – was vor 45 Jahren ganz sicher nicht so war.
Die wichtigste Strategie der Kulturszene sollte daher sein: Vertrauen vermitteln. Je vernünftiger und verständiger wir angesichts der Situation agieren, desto mehr wird uns unser Publikum vertrauen und unsere Aufführungen und Veranstaltungen wieder nutzen. Durchdachte und attraktive Sicherheits- und Aufführungskonzepte hinter denen die MacherInnen auch wirklich stehen, weil sie den Sinn der Maßnahmen anerkennen (!) werden wesentlich erfolgreicher sein, als zusammengefrickelte und halbherzige Notlösungen von Virusleugnern oder Verschwörungsgläubigen, so viel kann man schon jetzt sagen.
Schlussendlich ist es sicher so, dass wir nur dann Respekt für unser Schaffen verlangen können, wenn wir denselben Respekt denjenigen gegenüber walten lassen, die unser Schaffen begutachten sollen.
Moritz Eggert
Komponist