Blog of Bad Virus: Kultur am Abgrund?

In diesen Zeiten fällt es schwer, über etwas anderes als COVID-19 und dessen Auswirkungen auf unser aller Leben zu sprechen. Daher wird der Bad Blog sich ab jetzt vornehmlich diesem Thema widmen, mit Gedanken zu den aktuellen Entwicklungen, Informationen, Notizen und Erfahrungsberichten. Aber es soll weiterhin auch um Musik gehen: Wir und die NMZ wollen ein Sprachrohr für die Initiativen sein, die sich der schwierigen Situation von Musikern und Kulturschaffenden in diesem Moment annehmen. Kommentare und Diskussionen sind willkommen, Fake News nicht.
“Don’t Panic, but also don’t be an idiot in denial” (frei nach Douglas Adams).

Kultur am Abgrund?

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So wie mir geht es sicherlich vielen – einerseits hat man Zeit wie noch nie, andererseits sitzt man wie gebannt vor Nachrichten, die auf einen einprasseln. Denn das, was man an Produktivität und Kreativität auch sicherlich jetzt als Künstler nützlich einsetzen könnte, wird von einer einzigen Frage überschattet: Wie geht es weiter?

Für uns Musiker sehen die Fragen so aus:  was soll ich üben, wenn ich gar nicht weiß, wann das nächste Konzert überhaupt stattfindet? Was soll ich Komponieren, wenn ich im Moment gar nicht einschätzen kann, ob die nächste Uraufführung – die jetzt noch relativ weit entfernt im Kalender steht – überhaupt stattfindet? Wann darf ich wieder Schüler unterrichten? Wann öffnen die Hochschulen wieder?

Bei allen Selbstständigen geht es schnell um das Überleben an sich – manche wissen schon jetzt nicht, wie sie die nächste Miete zahlen sollen. Soll man sich so schnell wie möglich arbeitslos melden? Was ist, wenn ich wegen Hartz IV plötzlich zu Jobs gezwungen werde, die ich gar nicht will?

Man sagt, dass in Krisensituationen der wahre Kern der Menschen zutage kommt. Ich erlebe im persönlichen Bekanntenkreis erstaunliche Verwandlungen – viele entwickeln bewundernswertes Verantwortungsbewusstsein und Courage, andere wiederum entfalten erstaunlichen Überaktionismus. Schon jetzt wird man geradezu überflutet mit Wohnzimmerkonzerten, Igor Levit – Recitals quasi rund um die Uhr, Live-Streams aus der Küche, aus dem Garten, aus der Toilette. All dies ist verständlich, zeigt aber vor allem eins: uns alle plagt eine tiefe Angst davor, als KünstlerInnen nicht mehr gebraucht zu sein. Wir müssen es uns daher vor allem uns selbst beweisen, dass wir noch da sind – die Wohnzimmerkonzerte sind mehr Therapie für die Ausführenden als Entertainment für die Zuschauer fürchte ich, aber natürlich ist es dennoch schön, technologisch diese Möglichkeit zu haben. Sie wird uns nur auf Dauer nicht zufriedenstellen, genauso wenig wie man vom reinen Anschauen eines Gerichts nicht dauerhaft satt werden kann.

Viele KollegInnen sind besessen von der Angst, dass die Gesellschaft die Gelegenheit nutzen wird, nun die Kunst endgültig abzuschaffen. Sie fürchten, dass all die großartigen Ensembles, Orchester, Theater und Opernhäuser, die Tänzer, Musiklehrer und Pädagogen nach Corona als komplett überflüssig empfunden werden. Ich kann diese Angst verstehen, sie hat aber auch narzisstisch-ängstliche Züge, als hätte die Kunst eine Art Sonderstatus, der sie vom Rest der Welt abtrennt. Haben wir wirklich so wenig Selbstbewusstsein als Künstler, das wir ernsthaft fürchten, dass man uns abschafft? Denn wir Selbstständigen und Künstler sind mit dieser Angst keineswegs alleine – quasi bei allen Menschen in diesem Land geht es um das grundsätzliche Überleben, man muss nur durch die immer leerer werdenden Städte spazieren um zu sehen, wer jetzt alles vor dem Ruin steht, weil man schließen muss: die Kneipe an der Ecke, das Fitnessstudio, der Kramladen, der Tanzclub,  das Café – ja, auch die werden nicht dringend zum Überleben gebraucht, und deswegen kann man sie jetzt auch zusperren, aber muss man wirklich Angst davor haben, dass es diese in der Zukunft nicht mehr geben wird? Das wir plötzlich alle zu asketischen Miesepetern werden? Das scheint selbst in Deutschland (dem Land der Pessimisten und Schwarzmaler) unvorstellbar.

Was wir erleben ist keine Abschaffung der Demokratie oder der EU. Es ist kein chinesisches Geheimkomplott, keine Verschwörung, die uns versklaven soll. Es ist nicht der Versuch, uns alle zu seelenlosen Robotern zu machen, die keinerlei Freude mehr empfinden, nie wieder Musik erleben, nie wieder tanzen, lachen und feiern wollen.

Was wir erleben ist schlicht und einfach eines: eine Naturkatastrophe.

Die kann keiner vorhersehen, keiner will sie, keiner kann sie steuern. Man kann sie sich auch nicht wegwünschen, in dem man so tut, als gäbe es sie nicht. Niemand käme auf den Gedanken, auf einem aktiven Vulkan kurz vor dem Ausbruch herumzutanzen und sich in Sicherheit zu wiegen, die Anzahl der (mit Verlaub) Idioten, die aber nun immer noch von einer „kleine Grippe“ reden und die Konsequenzen nicht begreifen oder begreifen wollen, ist aber immer noch erschreckend hoch. Und genauso wenig wie ein Hurrikan danach fragt, ob er gerade das Haus eines armen Fabrikarbeiters oder eines berühmten zeitgenössischen Komponisten verwüstet, fragt auch dieses Virus nicht danach, ob es nun den einen oder anderen Berufsstand besonders betrifft, denn am Ende betrifft es uns alle.

Und es ist auch tatsächlich (auch wenn es schwerfällt) noch zu früh, schon jetzt über die besten und notwendigen Strategien für den Wiederaufbau der Kulturlandschaft zu spekulieren, den es irgendwann einmal geben wird. Auch die Politiker sind im Moment nicht viel weiser als wir – gemeinsam mit den Experten und Wissenschaftlern (die jederzeit aufgrund ihrer Erfahrung bereit sind zuzugeben, dass man die Entwicklungen nicht genau vorhersehen kann) beobachten sie diese Lawine, ohne exakt zu wissen, wohin sie genau rollen und welchen Schaden sie exakt auslösen wird. Nachdem man den Schaden absehen kann, kann man über den Wiederaufbau reden, vorher nicht. Im Moment sind wir alle gemeinsam und solidarisch in unserer Ratlosigkeit. Wir müssen flexibel sein.

So löblich und sinnvoll die vielen Initiativen im Moment sind – es bringt nichts, die Politiker mit endlosen Einzelpetitionen zu überwältigen und unterschiedlichste Maßnahmen zu fordern, bei denen sich jede Lobby selbst am nächsten ist. In der Konkurrenz der vielen kleinen Vogelschnäbel, die im Moment schnappend aufgehen, stehen wir mit klassischer und neuer Musik nämlich tatsächlich relativ schlecht da, aber das geht auch anderen Lobbys so. Die Lösungen für uns alle brauchen tatsächlich ein bisschen Zeit, sonst wird ihre Ausführung nicht gerecht. Und was wir gerade überhaupt nicht brauchen, sind unbedachte schnelle Gießkannenlösungen, über die sich dann alle ewig zanken. Ich gehe mal davon aus, dass ein so großer Teil der deutschen Bevölkerung vor dem absoluten Ruin steht (nicht nur wir Musiker), dass es im Interesse einer jeden Regierung sein MUSS, hier baldmöglichst Abhilfe zu schaffen, da ansonsten absolutes Chaos ausbricht.

Bevor wir panisch werden (was ja verständlich ist) erst einmal tief durchatmen und einen Reality Check machen. Wir müssen uns alle jetzt ganz nüchtern fragen: sind wir gerade am Verhungern? Geht uns das Toilettenpapier aus? Werden wir zugrunde gehen, wenn uns das Toilettenpapier doch ausgeht? Das kann schon Mal sicher mit „nein“ beantwortet werden. Dann der nächste Schritt: wie viel Geld ist noch auf dem Konto, wie lange kann man die Miete zahlen? Es gibt sicher viele unter uns, denen sich die existenzielle Frage sehr schnell stellt, und für diese muss es schnell Maßnahmen geben. Kein Vermieter wird aber selbst diese KollegInnen so schnell auf die Straße setzen, sie dürften es übrigens auch gar nicht unter diesen Umständen, da Notstandsgesetze gelten, die genau dies verhindern. Stundungen müssen jetzt überall möglich sein, sonst kann man in einem Monat halb Berlin auf die Straße schicken, was man wegen der vorhersehbaren Ausgangssperre dann aber gar nicht darf. Und bevor man wirklich auf die Straße müsste oder sich kein Brot mehr leisten kann, wird es ganz sicher Lösungen geben, darauf müssen wir jetzt einfach mal vertrauen.

Die meisten von uns werden vermutlich ein paar Monate Reserven haben – kein starker Trost, wenn man Erspartes aufbraucht, aber genau deswegen hat man ja auch gespart. Und was dann kommt? Das weiß niemand. Hart wird es für alle. Wir müssen uns alle damit abfinden, dass es nicht dann einfach hoppladihopp wieder weitergeht, nicht alle verschobenen Konzerte und Uraufführungen nachgeholt werden können zu denselben Konditionen. Es ist unrealistisch zu denken, dass dies gelingen kann, und man darf auch nicht ewig damit hadern, sonst bleibt man unglücklich. Der Kulturbetrieb wird mühsam seinen Motor wieder hochfahren, und es wird gleichzeitig anstrengend wie beglückend sein, die Kiste wieder fahren zu sehen. Die Karten werden auf jeden Fall leicht neu gemischt sein, der eine oder andere Exzess wird wieder heruntergefahren. Es wird neue Chancen geben, und alte verhindernde Mächte werden vielleicht Macht verloren haben. Wird man beim Wiederaufbau der Bundesliga gleich wieder sorglos Millionen an parasitäre Spieleragenten verschleudern? Ich bezweifle es. Ähnliches wird in der Klassik passieren, und vielleicht betrifft es sogar einige der Dinge, die der „Lamenting Conductor“ noch vor kurzem hier kritisiert hat. In dieser Situation wird es ganz sicher die erfolgreichere Strategie sein, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, als ewig darüber zu lamentieren, was man alles verloren hat. Ich wünsche uns allen die Kraft dazu.

Aber bei einem bin ich sicher: die Menschen werden sehr froh sein, wenn es wieder Konzerte gibt, egal ob da Mozart, Andrew Lloyd Webber oder Lachenmann gespielt wird. Sie waren es ganz sicher nach der doppelten Katastrophe des Ersten Weltkrieges und der Spanischen Grippe – aus diesen unglaublichen Trümmern entstand künstlerisch in den 20er Jahren erstaunliches, wie wir alle wissen. Es waren harte Zeiten für alle, aber die Kunst überlebte. Ebenso nach dem Zweiten Weltkrieg – die Sehnsucht nach Kultur war gerade in den Nachkriegsjahren unglaublich groß, fast alles, von dem wir bis heute profitieren, die Rundfunkorchester, die Festivals, „Jugend Musiziert“, die flächendeckende Musik- und Kulturförderung, um die uns die Welt beneidet – all dies entstand aus den katastrophalen Trümmern von Hitlers Arschlochdiktatur.

Ich wünsche uns allen nicht, dass diese Krise so schlimm wird wie die eben genannten, aber wir müssen uns immer wieder sagen, dass auch, wenn wir im Moment nicht so dringend gebraucht werden, dies nicht heißt, dass wir plötzlich sinnlos sind. Auch Kultur ist etwas dringend Sinnvolles, soviel Selbstbewusstsein muss sein.

Und gemeinsam, gezielt, stolz, möglichst koordiniert und bedacht werden wir erfolgreich um ihren Erhalt kämpfen.

Moritz Eggert

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