Das Ende des Patriarchats in der Klassischen Musik. Und anderswo.
Das Ende des Patriarchats in der Klassischen Musik. Und anderswo.
Bei all den notwendigen Diskussionen über #metoo und der nicht abreißenden Serie von Fällen (meistens) männlichem Machtmissbrauchs in der Klassischen Musik, verliert man manchmal aus dem Blick, dass all dies nur Symptome einer wesentlich grundlegenderen gesellschaftlichen Veränderung sind, die einen ganz neuen Abschnitt der Menschheitsgeschichte einleiten.
Menschheitsgeschichte? Echt jetzt? Aber klar doch…ich empfehle allen Zweiflern die Lektüre der populären, aber auch sehr klugen Bücher von Yuval Noah Harari, zum Beispiel „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Harari legt in diesem Buch überzeugend dar, dass ein Großteil der rasanten menschlichen Entwicklung auf gemeinsamen Fiktionen beruht, die unser Funktionieren in Gruppen über 150 Personen überhaupt erst möglich macht. Geld zum Beispiel erlangt seinen Wert allein dadurch, dass wir uns alle erfolgreich einreden, es hätte einen Wert, ansonsten würden die komplexen Tauschgeschäfte unserer Zivilisation nicht funktionieren. Geld ist also nicht real, es ist ein Mythos, darin gar nicht unähnlich den Göttermythen der antiken Griechen (die für die Zeitgenossen ebenso real waren). Ebenso ist es mit den scheinbar „wertvollen“ Edelmetallen wie z.B. Gold – würden alle Menschen von einem Tag auf den anderen beschließen, dass die Fiktion „Gold“ nicht mehr gültig ist, wäre dieses auch ab diesem Moment nichts mehr wert.
Diese Fiktionen und Mythen prägen absolut alle Aspekte unseres Zusammenlebens Wir wachsen mit ihnen auf und es scheint uns schwer vorstellbar, dass es auch einen anderen genauso gut funktionierenden Mythos geben kann, obwohl uns selbst ein flüchtiger Blick in historische und gegenwärtige Kulturen dies stets aufs Neue beweist. Kulturelle Mythen sind auch stets Veränderungen unterworfen. So war es für einen Menschen in der Antike unvorstellbar, dass Menschen nicht unterschiedliche Werte haben könnten (ein Sklave weniger als ein Bürger zum Beispiel), wogegen es für die meisten Menschen des 21. Jahrhunderts zumindest in der Theorie selbstverständlich ist, dass es so etwas wie allgemeine Menschenrechte gibt (wobei auch unsere heutige Vorstellung von Menschenrechten nichts weiter als ein das einigermaßen friedliche Zusammenleben ermöglichender Mythos ist).
Auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist ein Mythos, von Generation zu Generation weitergegeben. Die Hierarchie zwischen den Geschlechtern ist spätestens seit der Antike von Patriarchaten geprägt, davor gab es vermutlich einen größeren Anteil von Matriarchaten, über die wir aber nur sehr wenig wissen, da die schriftliche Überlieferung erst in der Dominanzphase des Patriarchats beginnt. Wir wissen aber, dass die Menschen vor dieser Zeit Unglaubliches leisteten, sich über den ganzen Planeten und bis an entfernteste Orte ausbreiteten und die Ökologie und Topographie unseres Planeten schon vor der Antike dauerhaft prägten. Es gab und gibt also sowohl unter Menschen als auch unter verwandten Tierarten (z.B. Bonobo-Affen) Matriarchate, die nachweislich ebenso gut funktionieren wie Patriarchate.
Es ist faszinierend, dass sich bis heute Forscher nicht einig sind, worin die verbreitete Dominanz des Patriarchats begründet liegt. Es könnte sein, dass diese Vorherrschaft teilweise zufällig entstanden ist, und sich dann wie ein Mem verbreitet hat. Obwohl sich alle einig sind, dass Frauen und Männer verschieden sind, kann keine einzige Theorie, die sich rein auf die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau bezieht, eine schlüssige Beweisführung für die Notwendigkeit des Patriarchats aufbringen, dies erörtert auch Harari mittels vieler Beispiele, die aufzuzählen hier zu weit führen würde.
Mit Anfang des 20. Jahrhunderts nimmt die auch schon vorher existierende Idee einer möglichen Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern Fahrt auf. Welch mühsamer Prozess all dies war, wird uns klar, wenn wir einfach schauen, was früher nach den gängigen Mythen „normal“ war und was nicht. Ein eher skurriles Beispiel: Noch 1910 gab es zum Beispiel in Dänemark Gaststätten, die nur von Männern besucht werden durften. Heute würde man sich über eine solche Idee im öffentlichen Leben kaputtlachen, als gläubiger Katholik wäre man aber gleichzeitig vielleicht weiterhin der Meinung, dass der Papst nur männlich sein kann, und männlichen Priester eine Sonderstellung gegenüber den Frauen haben. Diese kognitive Dissonanz, also die gleichzeitige Existenz von verschiedenen Mythen zur selben Zeit, ist Teil unseres Alltags, wir können sie in unseren Alltag integrieren, ohne verrückt zu werden.
Sie existiert auch in der klassischen Musik. Die meisten klassischen Musiker und deren Zuhörer stammen aus dem eher gebildeten und „modernen“ Bürgertum. Dennoch war es selbst in der klassischen Musik lange Zeit akzeptierter Mythos, dass Frauen in Orchestern grundsätzlich nichts zu suchen haben, dass sie nicht dirigieren und komponieren und auch keine leitenden Funktionen – zum Beispiel die eines Opernhauses – übernehmen sollten. Dies ändert sich zunehmend und für jedermann sichtbar, und die Argumente der Gegner dieser Entwicklung wirken zunehmend lächerlich.
Ich selber kann mich noch an ganz ernst gemeinte Theorien von Musikerkollegen erinnern, die hanebüchen zu erklären versuchten, warum Frauen angeblich nicht komponieren können, und das war keineswegs 1880 sondern 1980 (!). Heute würden dieselben Argumente schon einen Sturm der Entrüstung erzeugen, würden sie öffentlich geäußert, soviel hat sich alleine in 4 Jahrzehnten schon verändert.
Dass eine solche Entwicklung – die man letztlich nur als „langen“ Abschied vom Patriarchat wahrnehmen kann – nicht ohne Verwerfungen von statten geht, ist selbstverständlich. Es ist typisch für die Kulturgeschichte der Menschheit, dass es nach jedem Schritt nach vorne auch wieder einen Schritt nach hinten gehen kann. Gleichzeitig sind bestimmte Entwicklungen – wenn sie denn einmal in Gang geraten sind, wie zum Beispiel die Erfindung des Mythos „Geld“ – irgendwann nicht mehr aufzuhalten, weil sie sich als praktisch sinnvoll erweisen. #Metoo ist also nicht Auslöser, sondern Anzeichen einer Entwicklung, die viel grundlegender ist.
Viele der Täter im Bereich des Machtmissbrauchs in der klassischen Musik empfinden oder empfanden ihre Aktivitäten als „ganz normal“, das wird in den Argumentationen auch ihrer Verteidiger sehr deutlich. Für sie galt der Mythos, dass zum Beispiel sexuelle Gefälligkeiten aufgrund eines Machtgefälles jederzeit eingefordert werden können, selbst wenn die betreffende Person diesen Tauschhandel nicht will, und dass selbst bei Nichtwollen weiter gefordert werden kann, da das „Zieren“ ja nur Teil eines Spiels zwischen Mann und Frau sein könnte (das aber ebenso fiktiv ist, wie die grundsätzliche Hierarchie zwischen den Geschlechtern).
Von solchen für die Täter sehr bequemen Fiktionen verabschiedet man sich natürlich nicht gerne. Allerorten ist eine große Angst zu spüren, die darin resultiert, dass man vermehrt wieder öffentliche Figuren sucht, die die „alte“ Männlichkeit ausstrahlen, sonst gäbe es weder Trump noch Bolsonaro. Auch das Erstarken des Nationalismus und der Neuen Rechten erklärt sich teilweise aus dieser Angst. Und es gibt sogar Frauen, die die alten Mythen der Geschlechterordnung hartnäckig verteidigen, weil sie die Überwindung derselben als einen Schritt ins Ungewisse empfinden. Viele drücken auch Angst vor einem neuen „Matriarchat“ aus, als ob die Gleichberechtigung von Frauen plötzlich bedeuten würde, dass diese über die Männer herrschen wollen. Manche Kulturen praktizieren daher eine geradezu panische Angst vor Frauen oder ganz offenen Frauenhass, während die Gewalt in diesen Gesellschaften fast ausschließlich von Männern ausgeht. Das bedeutet aber auch, dass diese Gesellschaftsordnung nur mit interner Gewalt aufrechterhalten werden kann, was auf Dauer nicht gut gehen kann, vor allem wenn dass globale Bewusstsein der Menschheit – was aufgrund zunehmender Vernetzung zu erwarten ist – zunimmt. Der Kampf um den Erhalt des sich verabschiedenden Patriarchats kann sich auch in Terroranschlägen von Fundamentalisten ausdrücken, so viel ist klar.
Was wir momentan in seinen Anfängen erleben ist aber nicht das Erstarken eines neuen Matriarchats, sondern etwas ganz anderes. Die moderne Gesellschaft ist auf dem Wege, sich von einer internen Geschlechterhierarchie endgültig zu verabschieden. Warum? Weil wir sie nicht mehr brauchen, weil sie keinen Sinn mehr macht.
Unsere Gesellschaft würde in keiner Weise geschwächt werden, wenn man sich von der Geschlechterhierarchie verabschieden würde. Gleichberechtigung mag eine weitere Fiktion sein auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft, aber sie ist eine Fiktion, die uns hier und jetzt weiterbringt, weil sie die menschlichen Ressourcen maximal nutzt, und nicht nur die Hälfte davon. Unter Tausend Frauen und Männern gibt es statistisch gesehen eine bestimmte Menge von Talent, Kommunikationsgeschick und Erfindungskraft, die absolut gleich zwischen den Geschlechtern verteilt ist. Es macht immer weniger Sinn, nur einen Teil davon zu nutzen, und dem anderen Teil die Nutzung dieser Talente durch künstliche Beschränkungen zu verwehren. Wir werden diese Talente in einer zunehmend gefährdeten Welt immer dringender brauchen. Gleichberechtigung ist nicht nur eine nette Idee, sie könnte sogar entscheidend sein für das Überleben von allen Menschen.
Dass hier ganz grundsätzliche Veränderungen beginnen, zeigt auch der Blick auf unsere kleine Szene. Schon jetzt ist auffällig, dass zum Beispiel in der Neuen Musik hierarchielose Ensembles oder Komponistenkollektive zunehmend in Mode kommen. Es ist sogar vorstellbar, dass selbst der Begriff des „Komponisten“ als autarke Schöpferpersönlichkeit die einsam vor sich hinarbeitet, eines Tages nicht mehr gültiger Mythos, sondern Vergangenheit ist. Geschlechterhierarchien spielen in diesen Kollektiven keine Rolle mehr, aber auch nicht mehr die traditionellen Hierarchien, die wir zum Beispiel in der Organisation von großen Orchestern kennen. Eine Gesellschaft ohne grundsätzliche Hierarchien aufgrund von Geschlecht, sexueller Ausrichtung oder Herkunft ist für uns alle vorstellbar, aber dennoch an den meisten Orten noch unendlich weit entfernt. Aber es reicht, dass wir sie uns vorstellen können, denn dieser neue Mythos scheint immer wichtiger zu werden für die Zukunft.
Das sollten sich die Zweifler und ewig Gestrigen schon jetzt hinter die Ohren schreiben: egal wie sehr sie auch jetzt aufbegehren, diese Entwicklung ist grundsätzlich nicht mehr aufzuhalten, genauso wie der Abschied vom Feudalismus nach der französischen Revolution nicht mehr aufzuhalten war.
Wenn einen die momentanen Diskussionen manchmal nerven und frustrieren, schadet es eben nichts, sich das Ganze aus einer größeren Perspektive anzuschauen. Vieles was uns momentan bewegt, wird einmal sehr lächerlich wirken.
In dem Moment, in dem wir es endgültig überwunden haben.
Moritz Eggert
Komponist
Wunderbar, vielen Dank für diesen tollen Text!
So gern ich dem Text uneingeschränkt zustimmen würde, so wenig realistisch finde ich ihn.
Wenn ich mich umschaue, so gibt es weltweit betrachtet ganz offenbar eine starke Sehnsucht nach Patriarchen, die „bestimmen wo’s lang geht“. Die werden von großen Bevölkerungsgruppen für gut gehalten und gewählt. Auch in Europa.
Soll heißen: „Die moderne Gesellschaft“ ist keine statische Errungenschaft, die wir erreicht haben, und die dann einfach so bestehen bleibt, sondern der Kampf um Gleichberechtigung (damit letztendlich um Demokratie) ist nie zu Ende, sondern muß tagtäglich weiter geführt werden, sonst werden die „alten Kräfte“ jederzeit wieder Oberwasser gewinnen.
Das kann schnell gehen.
@Harald: Selbstverständlich ist es ein Kampf, der Energie fordert, von selbst verändert sich nichts. Es hat sich aber in der Menschheitsgeschichte gezeigt, dass bestimmte Ideen – wenn sie einmal in der Welt sind – eine Eigendynamik entwickeln. Der Prozess der Überwindung des Patriarchats hat vor ca. einem Jahrhundert begonnen, und er kann auch nochmal hundert Jahre oder mehr weitergehen, aber die Idee ist richtig und vernünftig und wird sich daher auch durchsetzen, selbst wenn es Rückschläge gibt. Ich bin hundertprozentig sicher, dass man in der Zukunft auf unsere Zeit zurückblicken wird, und sagen wird „Ach, damals gab es ja noch das Patriarchat“ so wie wir heute auf die Vergangenheit zurückblicken und sagen „Ach, damals gab es noch Sklaverei“. Das heißt aber nicht – und da gebe ich Dir vollkommen Recht – dass man denken muss, es passiere von selber. Wir müssen alle dabei mithelfen, diese Entwicklung positiv zu befördern.
Ich persönlich mag das Wort Patriarchat nicht besonders, weil man bei dem Wort gleich an Geschlechter- oder Genderkampf und an Unterdrückung denkt. Einfachhalber benutze ich das Wort trotzdem in dem Beitrag.
Jedenfalls ist es m.E. wichtig zu verstehen, dass es um das System geht, was von der Mehrheit der Männer und Frauen als unveränderbar („es ist nun mal so“) akzeptiert wurde. In diesem System bedeutete die Emanzipation der Frauen de facto, dass sie danach streben sollten, selber wie die mächtigen Männer zu werden und den Machtmissbrauch mitzutragen oder sogar mitzubetreiben. Das war auch nicht wirklich zielführend, weil das System an sich blieb.
Ein moderner Kampf gegen das Patriarchat ist also kein Kampf der „Frauen“ gegen „Männer“. Sondern es geht darum, gemeinsam für eine respektvollere Welt für alle einzustehen. Und wir sind auf dem guten Weg, auch wenn der Weg lang ist und nicht ohne Rückschläge.
#Metoo ist kein Einzelphänomen. Seit 10 Jahren hat sich im Bereich der sexuellen Gewalt viel getan. Zuerst im Bereich des Kindesmissbrauchs,, was auch zur Einrichtung von offiziellen Kommissionen, Beauftragten und Hilfefonds führte, dann im Bereich der häusliche Gewalt. Es gab eigentlich auch zahlreiche Aktionen: Gewalt kommt nicht in die Tüte, #ichhabnichtangezeigt, hollaback, #ichhabeangezeit, Slutwalk, #aufschrei, NeinheißtNein, NurJaheißtJa, OneBillionRising, usw. Und nicht zu vergessen, die große Diskussion um die Sexualstrafrechtsreform 2016.
Nur war der Kulturbereich, vor allem die Klassik, als Randgruppe bei all diesen Aktionen ziemlich außen vor. Was für die Branche bequem war.
Natürlich ist eine Vergewaltigung an einer Musikhochschule ein Luxusproblem im Vergleich zur Zwangsprostitution im Rotlichtmilieu. Natürlich ist sexuelle Nötigung bei einer Stellenbewerbung ein Luxusproblem im Vergleich zu den Flüchtlingsfrauen, die mit ihren Schleppern Sex haben müssen um nicht irgendwo entsorgt zu werden. Und klar ist auch, dass es mehr Fälle von häuslicher Gewalt gibt als sexuelle Gewalt an Musikhochschulen und in Theatern.
Und wenn es um die Mobilisierung von Massen geht, z.B. für eine Demo gegen sexuelle Gewalt, greift man nicht zu Klassik. Gespielt wird auf solchen Demos eher Rap, Pop, Hip-Hop. Die Klassik wird von vielen, die sich gegen sexuelle Gewalt engagieren, ohnehin als Ganzes als partriarchisch, hierarchisch, „weiß und männlich“ verschrien. Sie würden bei Woody Allen protestieren gehen aber nicht bei Placido Domingo. Man hat das Phänomen beim G20-Konzert in Hamburg symbolisch gesehen – die Staatsoberhäupter in der Elbphilharmonie mit Beethovens 9te, die Protestler und der Mob draußen auf der Straße. Was die Sache für Betroffene in der Klassik nicht einfacher macht.
Die Frauenbewegung in der Klassik hatte sich in erster Linie um Karrierethemen wie die Auftragssituationen von Komponistinnen, Stellenbesetzungen von Dirigentinnen, Orchestermusikerinnen und Professorinnen beschäftigt. Was natürlich wichtig war, denn gerade dieses Thema gehört zur Diskussion um die Gleichstellung. Das hatte allerdings gewaltbetroffenen MusikerInnen wenig geholfen.
Jetzt ist mit #metoo das Thema Machtmissbrauch im Beruf und in der Ausbildung, auch im Kulturbereich, angekommen. Jetzt haben wir die Chance, dass auch in der Klassik sich was bewegt. Es ist interessant: die Klassikbranche präsentiert sich einerseits gerne als eine moralische Instanz (die Suche nach der Wahrheit!) aber anderseits auch gerne als Moralbrecher (künstlerische Freiheit!). Manchmal treibt die Kombination seltsame Blüten.
Die Passagen bezüglich Domingo im Buch von Brigitte Fassbaender wäre noch vor paar Monaten als nette Anekdote mit Schmunzeln gelesen worden. Keiner hätte das als ein Problem empfunden und keiner wäre auf die Idee gekommen, deshalb was zu unternehmen. Das sind doch Künstler!
Jetzt kann man wenigstens darüber reden, ob das Verhalten heute 2019 angemessen wäre.
Im Vorwort zur Festschrift zum 65. Geburtstag von Siegfried Mauser soll es heißen: „und sein bisweilen die Grenzen der ,bienséance‘ überschreitender weltumarmender Eros hat für ihn schwerwiegende rechtliche Folgen gehabt.“
Für dieses Vorwort ist u.a. Prof. Dr. Borchmeyer verantwortlich.
In einem Leserbrief an die SZ schrieb er 2016 aber:
„Den Angeklagten öffentlich als „Grapscher“ zu beschimpfen und ihm höhnisch vorzuhalten, er fühle sich wohl „sexuell so attraktiv wie James Bond: da überschätzen Sie sich aber in Ihrer Wirkung“, ist eine skandalöse, beleidigende Entgleisung, unter der Würde eines Gerichtssaals.“
Der Richter hatte also in der Urteilsbegründung genau das gesagt, was Borchmeyer jetzt im Vorwort schreibt.
Zugegebenermaßen wurden Angeklagten früher gerne mit genau dieser Begründung freigesprochen. Weil man die Situation damit so auslegen konnte, dass der sexuell freizügig lebender, potenter, von seiner Attraktitvität überzeugter Mann halt auch mal die Grenze der Frau fehleinschätzt und daher auch mal überschreitet (z.B. das Nein der Frau als Zieren missinterpretieren). Ein Missverständnis eben, jeder macht mal Fehler.
Die Frage wie Macht und Abhängigkeiten können erst seit #metoo thematisiert werden (früher wurden dieses Themen mit dem Totschlagargument abserviert „Wollen denn die Frauen wieder wie Kinder oder geistig Behinderte behandelt werden?“)
Und dann konnte man gerade in der Kunst sagen, dass eine echte Künstlerin an diese „Avancen“ Gefallen gehabt, weil sie als echte Künstlerin genauso sexuell freizügig und erotisch gelebt hätte (sonst ist sie zu schüchtern, verklemmt oder prüde für einen Künstlerberuf). Und wenn sie wirklich nicht wollte, hätte eine gestandene emanzipierte Frau den Mann eben direkt in den Schranken gewiesen.
Dass die Justiz etwas schneller umgedacht hat als die Kunstszene, das verunsichert dieses Umfeld natürlich.
Und gut für den Richter ist, dass er „James Bond“ als Vergleich genannt hatte. Bei einer realen Person hätte es sein können, dass es sich im Laufe von #metoo herausstellt, dass auch bei „James Bond“ einige Frauen die „Avancen“ nicht so toll gefunden hätten.
(Siehe z.B. Domingo. Wenn man bei ihm schreiben würde: „und sein bisweilen die Grenzen der ,bienséance‘ überschreitender weltumarmender Eros hatte für ihn in USA Konsequenzen gehabt“, würden sogar viele Leute der Aussage zustimmen und dabei auch nichts denken, weil sie ihn und sein Eros immer noch als positiv erleben.)
„Weltumarmender Eros“. Ganz unabhängig von der Person: Jemand, der dauerhaft so dermaßen ent-grenzt ist, dass er zwischen sich und dem Gegenüber nicht trennen kann, hat ein ganz grundsätzliches eigenes Problem. Dass das Umfeld mitmacht, ist ein strukturelles Problem.