Komponieren und Marathonlaufen


Wenn ich meine Studenten bei der Komposition von längeren Stücken coache, so vergleiche ich das oft mit einem Marathonlauf: man muss sich seine Energie gut einteilen, nie das Ziel aus den Augen verlieren, regelmäßig arbeiten und so weiter…

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Menschen machen alles Mögliche, das eigentlich verrückt ist. Sie besteigen die höchsten Berge, umsegeln die Welt, rennen durch Wüsten, das alles nur, um es „zu schaffen“ und um sich die Glückshormone abzuholen, die das erfolgreiche Überwinden des inneren Schweinehundes mit sich bringt. Opern schreiben ist natürlich auch verrückt – man kann sich kaum vorstellen, wie ein Richard Wagner bei seinem „Ring“ dranbleiben konnte, und noch viel weniger kann man sich vorstellen, wie es sich für ihn nach 28 Jahren Arbeit angefühlt haben musste, als der Vorhang der Uraufführung fiel. War er danach glücklich, erleichtert, zufrieden? Oder plante er insgeheim schon das nächste monumentale Werk?

Stephen King beschreibt das Loskommen von Alkoholismus als einen Prozess, der „one step at a time“ funktioniert. Ein Schritt nach dem Anderen. Es ist unmöglich, alle Schritte auf einmal zu machen. So geht es mir auch beim Opernkomponieren (und nach nunmehr 16 abendfüllenden Opern fühle ich mich inzwischen einigermaßen dazu berufen, darüber sprechen zu können). Eines ist sicher: Routine wird es nie.

Opernkomponieren ist wirklich wie ein Marathonlauf: Erst liegt die Arbeit wie ein riesiger Berg vor einem, und man traut sich kaum, damit anzufangen. Dann läuft man los, und es fühlt sich erst einmal einfacher an, als gedacht. Dann verzweifelt man langsam ob der winzigen Fortschritte, und der Rest des zu vertonenden Librettos wirkt immer länger. Dann denkt man, dass man eigentlich alles falsch gemacht hat, und wieder vorne anfangen müsste, nur hat man keine Zeit mehr dazu. Nicht jeden Tag fühlt man sich inspiriert, aber man lernt, auch ohne dieses Gefühl zu arbeiten, dann, wenn es eben keinen Spaß macht, wenn es keinen „Flow“ gibt.
Ich hasse übrigens den Begriff „Flow“, denn er suggeriert, dass künstlerische Arbeit am besten ist, wenn sie quasi in einem Fluss und ohne Widerstände aus einem herauskommt. Das ist aber für Warmduscher: die wahren Künstler genießen es insgeheim, auch zu arbeiten, wenn sie keinen „Flow“ spüren, wenn sie zweifeln und sich hinterfragen. Nichts ist befriedigender, als einen solchen Tiefpunkt zu überwinden und zu erkennen, dass man doch etwas hinbekommen hat. „One step at a time.“

Irgendwann beschloss ich also spontan, mich bei einem richtigen Marathon anzumelden. Mich interessierte einfach, ob die Erfahrungen analog zum Komponieren sind. Auch dachte ich mir, ich müsste meinen Studenten nun auch wirklich aus erster Hand bestätigen können, dass das Komponieren von langen Stücken einem Marathon gleicht.

Mein erster Marathon (inzwischen ein Jahr her) lief dann so: Kurz vorher wurde ich tatsächlich nervös. Ich zweifelte an meiner Form, wurde nochmal krank, fühlte mich schlapp. Dennoch stand ich dann bereit, zum ersten Mal in einer größeren Gruppe Läufer. Das Startsignal kommt: Erst scheint alles langsam, wie in Zeitlupe, doch dann nimmt der Tausendfüßler Fahrt auf und man erreicht sein Tempo. Die ersten Kilometer fliegen an einem vorbei. 42 Kilometer? Das wird ein Kinderspiel sein! Etwas optimistisch lief ich mit der 3:59 Pacing-Gruppe mit (das sind die, die den Marathon unter 4 Stunden schaffen wollen). Das war auch erst einmal kein Problem, und ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, locker ein wenig vorweg laufen zu können. Doch dann – ungefähr nach der Hälfte der Strecke, beginnt der Mann mit der Pacing-Fahne zu nerven, denn immer wenn man denkt, dass man sein Tempo locker läuft, fängt er an, einen stur zu überholen. Man rafft sich dann wieder auf, immer von Neuem, bis man sich plötzlich denkt: „Lass ihn vorbeilaufen, ich renne mein eigenes Tempo!“. Und plötzlich ziehen Massen von Läufern an einem vorbei. Nach Kilometer 30 versuchte ich es mit Musikdoping und ich fühlte mich wieder hervorragend. Dann plötzlich, nach 33 Kilometern, kam der berüchtigte „Mann mit dem Hammer“. Plötzlich geht gar nichts mehr, um einen herum fallen Läufer einfach um oder bleiben plötzlich stehen. Auch ich ertappte mich dabei, immer wieder in eine Art Spaziergang zurückzufallen, weil alles weh tat. Dann kommt aber der Moment einer erneuten Selbstüberwindung. Man weiß, dass das Ziel nur noch 5 Kilometer entfernt ist und irgendwie mobilisiert man die letzten Kräfte. Man fängt wieder an zu laufen, erst langsam, dann immer schneller, überholt plötzlich wieder. Wenn man im Ziel einläuft, hat man das Gefühl, noch weiter laufen zu können, aber man ist auch sehr froh, es nicht tun zu müssen.

Zwei Tage taten mir die Beine weh. Ich konnte kaum einen Schritt tun, ohne mich wie ein alter Mann irgendwo abstützen zu müssen. Nachts konnte ich nicht schlafen: waren die Beine gestreckt, taten sie weh, waren sie gebeugt, taten sie ebenfalls weh.

Am dritten Tag meldete ich mich für den nächsten Marathon an. Denn das Interessante ist: gerade die negativen Erfahrungen machen die ganze Sache spannend, man braucht die Misserfolge, um erfolgreich zu sein. Eigentlich fast so wie in der Musik.

Moritz Eggert

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