An Markus Berzborn. Warum Abschalten gut ist.

Hunderte von Menschen, hunderte von Meinungen. Aber wem müssen wir eigentlich zuhören. Allen? Nein!

An Markus Berzborn. Warum Abschalten gut ist.

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Hunderte von Menschen, hunderte von Meinungen. Aber wem müssen wir eigentlich zuhören. Allen? Nein!

Im Englischen gibt es den schönen Begriff des “nagging”, was so viel wie “nörgeln” heißt, aber auch ein “nagendes” Gefühl des Unbehagens beschreiben kann, das einen nicht mehr loslässt.
Wenn ich mir die Diskussionen auf sozialen Medien manchmal so anschaue, überkommt mich also ein “nagging” über das allgegenwärtige “nagging”, und da hilft eigentlich irgendwann nur eines: ABSCHALTEN.

Vieles, was uns heute nervt, entsteht aus der Tatsache, dass die sozialen Medien im Grunde nichts anderes tun als jedem Bürger – egal wie klug oder dumm – ein riesiges Megaphon in die Hand zu geben, mit dem er oder sie schreien kann “hier bin ich, und das ist meine Meinung!”, egal ob das jemand hören will oder nicht. Hierbei wird gerne auf Grundrechte der Demokratie gepocht, denn jeder soll ja mitreden dürfen, die Demokratie aber grundsätzlich missverstanden und auf eine Weise interpretiert, die nicht mehr funktionieren kann. Denn wenn jeder befugt ist zu reden, kommt beim Reden nichts mehr heraus.

Jeder, der einmal eine GEMA-Versammlung besucht hat, weiß, was ich meine. Der Antrag ist schon längst durchdiskutiert, alle Argumente wurden besprochen, dann steht aber noch XY auf, geht langsam zum Mikrophon und kaut noch einmal alles durch, ohne irgendwelche neuen Einsichten zu bringen. Und das 10 Minuten lang! Und nach ihm warten noch unzählige weitere, die auch nochmal was sagen wollen. Die einzige Lösung ist dann, irgendwann die Redeliste zu schließen und einen künstlichen Stopp einzuführen. Dieser bewirkt dann, dass dann eben doch nicht jeder was sagen durfte, was ja auch gar nicht möglich wäre bei hunderten von Personen im Saal. Es entsteht dann das, was an demokratischen Diskussionen so frustrierend ist: man muss quasi diktatorisch resolut handeln, um überhaupt zu einem Ergebnis zu kommen. Aber auch dies geschieht demokratisch, denn die Redeliste wird erst dann geschlossen, wenn die Mehrheit dem zugestimmt hat. Wohin endloses Ausdiskutieren jeder auch noch so abstrusen Argumente führt, zeigt die momentane Brexit-Farce, die unsere debattierfreudigen englischen Nachbarn momentan aufführen.

Das Ausdiskutieren jeder privaten uninformierten Stammtischmeinung ist nicht das Ziel von Demokratie. Im besten Sinne ist sie ein gemeinsames Delegieren von Personen, Organen oder Gremien, die dann dadurch die Befugnis erhalten, zu handeln, zu diskutieren oder ihre Expertise einzubringen. Dass das dann nicht immer zu 100% im Sinne der Wählenden geschieht, liegt in der Natur der Sache, dafür gibt es aber dann die nächste Wahlperiode und einen neuen Konsens darüber, was gut und was schlecht funktioniert. Kein perfektes System, aber auf jeden Fall besser als ein System, in dem es diese Möglichkeit nicht gibt, und alles immer nur von ein-und-denselben Personen bestimmt wird.

Diese Art von Demokratie gibt es nicht nur in der Politik, sondern auch in den Medien. Politische Kommentatoren oder Kritiker zum Beispiel werden zwar nicht von einer Mehrheit gewählt, aber durchaus von einer Mehrheit begutachtet in einer Konkurrenz zu anderen Kommentatoren. Wenn sie also fortlaufend schlechte Arbeit machen, wird die Unzufriedenheit der Leser oder Zuhörer irgendwann dazu führen, dass sie ihren Job los sind oder niemand mehr zuhört, und das ist auch gut so. Leider haben inzwischen manche Politiker (wie Trump) gelernt, dass das Verbreiten von unglaublich großem Stuss wiederum dazu führt, dass man eben doch wahrgenommen wird, allein der Sensation wegen, was eine Geißel unserer sensationssüchtigen Zeit ist und leider viele Nachahmer bei vollkommen unwichtigen Personen findet, die sich dann für wichtig halten, nur weil sie irgendeine „kontroverse“ Position vertreten, wie zum Beispiel, dass die Erde eine Scheibe ist. Hierbei wird es dann zum Selbstzweck, „gegen den Strom zu schwimmen“. Daher sind Verschwörungstheoretiker auch nie bereit, ihre Theorien zu hinterfragen, denn gerade ihre scheinbar empfundene „Widerständigkeit gegen den Mainstream“ ist ihre einzige Legitimation.

Nun leben wir aber in einem Zeitalter, in der sich absolut jederfrau und jedermann (meistens allerdings letztere, wie man immer wieder feststellen muss) dazu berufen fühlen, ihre wahnsinnig wichtige Meinung kundzutun. Und hierfür sind dann die sozialen Medien eine wunderbare Spielwiese, denn im Gegensatz zu früher ist das „nagging“ nur einen Mausklick entfernt, man muss nicht mit einer Demo auf die Straße ziehen, Schilder basteln oder ein Megaphon besorgen, riskiert auch nicht die Begegnung mit einem Wasserwerfer oder einer simplen Ohrfeige weil man zu sehr nervt. Man muss auch nicht als Delegierter demokratisch gewählt werden, man braucht keine besondere Rolle dafür, jeder darf mitnaggen, wenn er sich dazu berufen fühlt. Und da die Menschen, die mit ihrem Leben eigentlich ganz zufrieden sind (die Mehrheit in diesem Land) keinen Grund haben, ständig ihr nagging loszuwerden, weil sie keinen riesigen Frust haben, wird das Netz dominiert von profilneurotischen Naggern, die sich dadurch für viel wichtiger halten, als sie eigentlich sind und sich noch gegenseitig in ihrem Frust bestätigen und daher irrigerweise glauben, sie seien auf jeden Fall mit ihrem Frust im Recht.

Foren und soziale Netzwerke können eine wunderbare Sache sein. In Foren können sich Freaks über für sie spannende Themen begeistert austauschen und sich Tipps geben, und in sozialen Netzwerken freut sich jeder über Geburtstagswünsche, Gratulationen zu Erfolgen oder authentische menschliche Wärme. Worüber man sich aber nie freut sind die ewigen Nagger, die, die „auch mal was sagen wollen“, die ihre Kommentare hinterlassen wie Hunde, die irgendwo hin pinkeln um ihr Revier zu markieren.

Jeder von uns kennt den Impuls, einen Menschen grundsätzlich erst einmal als Individuum ernst zu nehmen. Wir hören immer zuerst einmal zu, wenn jemand mit uns kommuniziert, z.B. als Kommentar. Und dann macht man manchmal den Fehler, sich aus reiner Gutmütigkeit auf Diskussionen einzulassen, die man vielleicht eigentlich gar nicht will, weil man die Menschen, die einen zutexten, gar nicht kennt, vielleicht auch gar nicht mag oder sonst nichts von ihnen will.

Die menschliche Zivilisation ist auf Spezialisierung aufgebaut. Menschen erlernen Fachkenntnisse für bestimmte Gebiete und sind dann auch für diese Gebiete die erste Adresse. Wenn Notre Dame brennt, ruft man erfahrene Feuerwehrmänner, nicht etwa eine zufällige Person auf der Straße. Will man Quantenmechanik verstehen, fragt man einen Physiker und nicht den Gemüsehändler, will man Obstsorten kennenlernen, fragt man den Gemüsehändler, nicht den Physiker. In unserem täglichen Leben ist es also selbstverständlich, dass wir uns in jeder Minute Fachkräften anvertrauen – der Zugführer weiß hoffentlich, wie man einen Zug lenkt, der Pilot weiß, wie man ein Flugzeug startet und so weiter. Wir würden nicht in ein Schiff einsteigen, wenn wir wüssten, dass die Crew keine Ahnung von Seefahrt hat und der Kapitän noch nie ein Schiff gelenkt hat.

In unserer Onlinekommunikation dagegen sind wir fahrlässig. Kommt irgendein Thema auf, hören wir plötzlich hin, wenn jemand etwas dazu zu sagen hat, der von der Thematik entweder nicht die geringste Ahnung hat oder sich nur einbildet, davon Ahnung zu haben. Wir lassen uns in endlose Diskussionen mit Menschen verwickeln, die einfach nur über irgendetwas reden wollen, damit sie Aufmerksamkeit bekommen, nicht etwa, weil sie bereit sind, neue Einsichten zu bekommen.

Diskussionen mit richtigen Freunden und guten Bekannten erfüllen vielerlei soziale Funktionen – man regt sich gemeinsam über etwas auf, tröstet sich, tauscht sich aus, all dies erzeugt menschliche Nähe und Wärme und ist positiv. Online-Diskussionen mit vollkommen fremden Menschen dagegen führen nur dann zu etwas, wenn es hier wirklich um fachliches Expertenwissen oder eine Form von freundlicher gegenseitiger Dienstleistung geht, wozu auch konstruktive und höflich vorgetragene Kritik gehören kann. Der Computerfreak, der mir in einem Onlineforum einen guten Tipp zu einem Problem mit meinem Betriebssystem gibt, tut etwas Positives und Soziales, der zufällige Facebookkommentator dagegen, der zu irgendwas irgendeinen Senf dazu gibt und seine persönliche Einstellung zu irgendetwas bekunden will, erzeugt eigentlich nur Datenmüll. Ihm oder ihr ist es eigentlich völlig egal, was ich von so einem Kommentar halte oder wie ich dazu stehe, solche „Verkünder“ haben einfach nur mittels der sozialen Medien ein virtuelles Megaphon in die Hand gedrückt bekommen und laufen nun auf dem großen Marktplatz herum und schreien ihre persönliche Meinung heraus, die nie gefragt oder erwünscht war.

Muss man wirklich wissen, was zum Beispiel irgendein frustrierter mittelalter Mann – der sich irgendwann einmal in die „Freundesliste“ eingeschlichen hat und viel zu viel Zeit hat um vor einem Computer zu sitzen – zu globalen Themen wie Europa, Flüchtlingen oder der Klimakatastrophe zu sagen hat? Obwohl nichts, aber auch rein gar nichts ihn dafür qualifiziert außer seiner eigenen Hybris und Selbstüberschätzung, er weder besonderes Fachwissen noch eine direkte Erfahrung besitzt? Nein, muss man nicht. Es ist noch nicht einmal unhöflich oder „undemokratisch“ da einfach abzuschalten oder ihn zu blockieren – Demokratie beruht auf der Delegierung von Verantwortlichkeiten an Personen, die man dafür wählt und für befähigt hält, und Etikette beruht auf gegenseitigem Respekt, die diese Person schon in dem Moment aufgekündigt hat, indem sie einem ungefragt etwas vollkommen Unwichtiges mitgeteilt hat. Und eine solche Person wiederum „bekehren“ oder überzeugen zu wollen, wäre wiederum eigene Hybris und genau das Futter, dass die naggenden Kommentatoren brauchen, die eigentlich nur mal was sagen wollen, am besten noch mit der Formulierung „das wird man ja doch mal sagen dürfen“, die der gesunden Missachtung ihres Stusses auch noch Zensur unterstellt.

Aber Stuss zu ignorieren ist keine Zensur. Abschalten ist gesund. Denn mit diesem Abschalten hat man sich im Alltag ein Stückchen Freiheit erkämpft, das jedem von uns guttut. Man muss kein schlechtes Gewissen haben, jemanden zu blockieren, der nichts Konstruktives, Freundliches oder Interessantes zum eigenen Alltag beiträgt, sondern einfach nur „naggt“. Menschen mit Kompetenz kann man gerne zuhören, wenn es um eben diese Kompetenz geht, Menschen die einfach nur irgendetwas kundtun wollen, weil es jetzt eine Plattform gibt, die das leicht ermöglicht, muss man dagegen nie zuhören. Das ist weder böse noch ignorant noch demokratiefeindlich. Es ist einfach nur gesunder Menschenverstand.

Dieser Artikel ist dem Hobbymusiker und Neue-Musik-Freak Markus Berzborn gewidmet, von dem ich zwar inzwischen weiß, dass er die AFD stets verteidigt, Frauen vor allem für Hausarbeit befähigt hält und am liebsten „mit der Kneifzange“ anfässt, die gleichgeschlechtliche am liebsten wieder abschaffen würde, Putin, Russland und Trump richtig gut findet, seinem Sohn gerne riesige Plastikpistolen schenkt (oder sind es überhaupt Plastikpistolen?), die identitäre und libertäre Bewegung schätzt, den von Menschen verursachten Klimawandel für eine Lüge hält und die aktuelle Politik der Grünen mit den Progromen der Nazizeit (und damit also auch mit der Ermordung von Millionen von Menschen) vergleicht…aber mich nun frage, WARUM ich das eigentlich weiß, und vor allem, warum ich das alles seiner Meinung nach eigentlich wissen muss. Warum ich ihm je zugehört habe, obwohl er für mein Leben vollkommen unwichtig ist (und für das Leben der meisten die er zusülzt vermutlich auch) und ihm auch nicht die geringste Kompetenz zukommt für die meisten Themen, zu denen er sich äußert, außer es geht um Vintage Synthesizer oder bestimmte Autos. Und auch, warum ich die vielen anderen Dinge wissen muss, die die vielen anderen Berzborns und selbsternannten Hobbyverkünder ohne jegliche Befähigung ungefragt via irgendwelchen Medien uns allen im Sekundentakt ins Ohr brüllen.

Also heißt die Devise Abschalten. Oder anders gesagt: im leeren Raum hört einen niemand, wenn man irgendeinen Scheiß von sich gibt.

Moritz Eggert

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