Überkommene Strategien der Neuen Musik, Teil 2: „Komplexes Partiturbild“

Überkommene Strategien der Neuen Musik

Kunst braucht niemand, aber ohne Kunst ist das Leben sinnlos. Wie Frederik die Maus haben sich Künstler daher zu allen Epochen Strategien angeeignet, die ihrem Wirken eine gewisse Anbindung an gesellschaftliche Strukturen und Strömungen ermöglichte. Damit gelang es ihnen ihre Ideen und Kunstwerke überlebensfähig zu machen.
In der Geschichte der Musik gab es zahllose solcher Strategien. So waren die frühen Polyphoniker eng an die Liturgie und die kirchliche Gesangstradition angebunden, denn nur diese Bindung an eine mächtige und im Ritus dauerhafte Institution konnte ein Überleben ihrer Kunst in gesellschaftlich unsteten Zeiten sichern, ebenso wie das Wissen Europas die Klöster brauchte, um Seuchen und Kriege zu überdauern. Später wurde dagegen eine Anbindung der Musik an den Adel immer wichtiger, um die Synergien konkurrierender Fürstenhäuser zu nützen (die das Wirken von Künstlern brauchten, um sich zu schmücken und zu profilieren).
Jede Zeit braucht neue Strategien, und was einmal gewnnbringend und richtig war, muss es 100 Jahre später nicht sein.
In der folgenden Artikelserie untersuche ich 5 Strategien der Neuen Musik, die vor 100 Jahren absolut richtig waren, heute aber nicht mehr funktionieren. Dennoch entschließen sich nach wie vor viele, alleine die alten Strategien weiter zu befolgen, was sehr kurzsichtig ist. Ein Umdenken ist notwendig.

Komplexes Partiturbild

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Notenschrift und zunehmende Komplexität von Musik bedingten sich historisch gegenseitig. Ohne die Verfeinerung der Notenschrift wäre zum Beispiel auch keine Verfeinerung von kontrapunktischen Techniken möglich gewesen, da zum Erfassen der Gleichzeitigkeit von Verläufen auch eine visuelle Hilfe notwendig war, sowohl für den Komponisten als auch für die Ausführenden. Ähnlich wie bei der Kalligraphie in der Schrift begann auch die Art der Verschriftlichung von Musik einen ästhetischen Eigenwert zu entwickeln.

In der Musikgeschichte sind deutliche Phasen der Zunahme wie auch Abnahme der Verfeinerung und Komplexitätszunahme der Notenschrift zu beobachten. So sind Partituren des Barock mit ihren komplexen Verzierungsnotationen und dichtem Kontrapunkt deutlich visuell komplexer als eine typische Partitur der Klassik, in der der vormalige Manierismus eher klaren und verschlankten, architektonisch gedachten Partituren weicht.

In der Romantik wird das Partiturbild wieder komplexer, weil immer extremere Gefühlszustände mit der Notation eingefangen werden müssen, und daher auch die Notation der Dynamik ausführlicher wird. In der Spätromantik steigert sich dies – Besetzungen werden größer und Partituren damit noch dichter und reichhaltiger.

Mit dem Übergang zur von der Zweiten Wiener Schule geprägten Moderne findet nicht der zyklisch erwartbare Wechsel zu einer Verklarung und Vereinfachung der Notation statt, stattdessen wird die Notation noch komplexer, um den neuen Intervallreihungen z.B. der 12-Ton-Technik gerecht zu werden: Jeder einzelne Ton muss nun mit einem Vorzeichen versehen werden, da die Intervalle nicht mehr mit tonalen Erwartungshaltungen erschließbar sind und man Fehler vermeiden möchte. Komponisten wie Webern oder Berg schreiben zwar eher kürzere Sätze oder Stücke, doch in diesen ist absolut jeder einzelne Ton komplex bezeichnet und es wird auch damit experimentiert, vormals gegensätzliche Anweisungen miteinander zu kombinieren, um extreme Affekte wie z.B. in „Wozzeck“ oder „Lulu“ darzustellen.

Doch auch die „Vereinfachung“ der Notenschrift erfolgt, als parallele Bewegung die von Komponisten wie zum Beispiel Hindemith, Weill oder Stravinsky geprägt wird, und in der das ästhetische Ideal die Reduktion auf das Notwendigste ist.
Wie im letzten Artikel beschrieben, ist aber wirkungstechnisch die „Neue Musik“ mit akademischer Prägung diejenige, die am meisten die Ausbildung zukünftiger Komponisten prägte, d.h. die Komplexitäts-Topoi der Zweiten Wiener Schule wurden identitätsstiftend für die „Neue Musik“ im Sinne von zum Beispiel Adorno.

Die Entwicklung der Neuen Musik nach dem Krieg ist daher stark von einem zunehmenden Partiturfetisch geprägt, der sich immer mehr verselbstständigt. Komponisten versuchen sich plötzlich weniger mit der Musik als mit der Größe und „Schwärze“ ihrer Partituren zu profilieren. Es beginnt ein Wettbewerb darin, wer einem Dirigenten die größte Partitur aufs Pult wuchten kann. Teilweise ist die Komplexität der Partituren auch tatsächlich einem Ringen um neue ungehörte musikalische Verläufe geschuldet (z.B. „Atmosphères“ von Ligeti), doch spätestens in den 70er Jahren häufen sich Partituren, die meistens nur noch eindrucksvoll aussehen, aber keineswegs eindrucksvoll klingen. Da es zu dieser Zeit noch schwierig ist, an Aufnahmen zu kommen, prägen die Ausschnitte dieser Partituren die damals gängigen Sachbücher und Musikzeitschriften. Neue Musik findet also vornehmlich in der Musikwissenschaft und der Betrachtung von außergewöhnlichen und beeindruckenden Partituren statt, weniger in dem musikalischen Ereignis selbst. Dies ist sicherlich auch teilweise einer Art Überkompensation gegenüber der Popmusik geschuldet, die an musikalischer Ereignishaftigkeit der „Neuen Musik“ überlegen ist. So wäre niemand jemals darauf gekommen, zum Beispiel die Musik der Beatles auf „Sgt. Pepper“ anhand der schriftlichen Partituren zu bewerten (obwohl es diese dank George Martin sogar tatsächlich gab), da die Musik selber als Ereignis hervorragend funktioniert.
Neue Musik dagegen findet auf zweierlei Weise statt – als reine „Kopfmusik“ der schönen Partituren, und als reales und nur in den seltensten Fällen ähnlich faszinierendes Ereignis, wie es das Schriftbild verspricht.

Auch heute – knapp ein halbes Jahrhundert später – hat sich dieser Partiturfetisch kaum verändert. Obwohl durch die Verwendung von Computerprogrammen ein einheitlicherer Look von Partituren entstanden ist, und Kalligraphie nicht mehr die Rolle von früher spielt, ist es dennoch so, dass eine neue Partitur nur als „würdig“ angesehen wird, wenn sie eine bestimmte Komplexität abbildet. Dies ist bei Kompositionswettbewerben bis heute bei Juryentscheidungen zu beobachten. Auch hat sich eine eigene Musikstilistik verselbstständigt (New Complexity), die sich allein anhand der fast schon perversen Überkomplexität ihrer Partituren definiert und sogar mit Topoi spielt, die gar nicht mehr perfekt von Menschen zu realisieren sind, aber in der kompletten Überforderung der Musiker einen neuen ästhetischen Eigenwert sucht.

Das Problem mit diesem „Partiturfetisch“ ist aber, dass er sich dem Hörer nicht mehr mitteilt. Viele Scheinkomplexitätserzeugungen durch zum Beispiel ausführliche Klangnotation von Multiphonics, sinnlose Kleintaktaufteilungen mit vielen Taktwechseln oder pingeligste Mikrotöne sind inzwischen kaum noch von Improvisationen der in den „Standards“ der Neuen Musik versierten Interpreten zu unterscheiden. Und es fehlt auch immer mehr das Zwingende der Komplexität, das im Gegensatz zu berühmten „komplexen“ Werken der Musikgeschichte wie „spem in alium“ (Tallis) keinerlei echte Wirkung mehr entfaltet, sondern nur noch auf dem Papier Grenzen überschreitet. Die zunehmenden Möglichkeiten von elektronischem Sounddesign und von Klangverfremdung stellen auch immer mehr die komplizierten Notationen in Frage, die bisher für „fortgeschrittene Spieltechniken“ notwendig waren. Inzwischen ist schneller ein Sampler aufgebaut, als es dauert, die endlosen Legenden mit aufwändigen Spieltechniken zu studieren, deren Klangresultate meistens nur noch raffinierte Schattierungen von immer ähnlicheren Kleingeräuschen sind. Details wie Klappengeräusche und minimalste Intonationsfärbungen, die allen Instrumentalisten beim normalen Spiel ohnehin ständig unterlaufen, werden plötzlich kompositorisch isoliert und mit großem Brimborium zum Ereignis deklariert, was inzwischen kaum noch künstlerisch Früchte trägt sondern im Manierismus erstarrt ist.

Aber vor allem in einem scheitert die einstmals erfolgreiche Strategie der „Complexity“: zum ersten Mal in der Musikgeschichte gibt es quasi kaum einen nennenswerten „Musikkanon“, der sich auch Laien und Kindern erschließt. Damit hat sich die Neue Musik von dem Lebensquell abgeschnitten, der jeden Musikstil am Leben hält. Eine durchschnittlich komplexe Partitur der Neuen Musik ist inzwischen eine Art Geheimschrift, die sich Anfängern nicht mehr erschließt, im Gegensatz zu selbst komplexeren und höchst anspruchsvollen Werken der Klassik, die auch schon zu Entstehungszeiten von musikalisch interessierten Zeitgenossen jederzeit nachvollzogen und verstanden werden konnten.

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein jugendlicher Musikinteressierter statt mit einer E-Gitarre, einem Turntable oder einem Laptop (alles Instrumente, mit denen er quasi sofort Musik erzeugen kann) lieber mit einer hypertrophen und aufgedunsenen Partitur von z.B. Brian Ferneyhough beschäftigt, geht gen Null, denn für letzteres wäre erst einmal ein mindestens 6-8 Jahre langes akademisches Studium notwendig.

Der Schritt in die „Complexity“ – einstmals erfolgreiches Alleinstellungsmerkmal der Neuen Musik – ist also heute ein Schritt in eine Sackgasse.

ALLE TEILE:

Teil 1 Akademische Anbindung
Teil 2 Komplexe Partiturbilder
Teil 3 Algorithmen
Teil 4 Elitäres Denken
Teil 5 Selbstverständnis

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2 Antworten

  1. Das sind schon ganz viele Worte für „Ich mag kein Ferneyhough“. Ich bin einverstanden dass die Neue Musik der 50er und 60er Jahre viel von ihrer Relevanz verloren hat. Aber es stört mich nicht wenn einige noch so komponieren wollen, besonders im Vereinigten Königreich, wo man so lange die Avant-Garde ignoriert hat. Genauso wie es mich nicht stört, dass Einaudi existiert und dass Millionen seine Musik so gerne hören.

    Das komplexe Musik eines komplexen Notenbild bedarf, halte ich für selbstverständlich. Es ist richtig dass man als Hörer das allermeiste dieser Subtilitäten nicht mitkriegt, aber das gilt auch für die Meister der älteren Avant-Garde. Ferneyhough ist sicherlich kein Meister wie Stockhausen oder Boulez, aber einige seiner Stücke sind doch ganz gut.

  2. @Lieber Wouter Steenbeek: Danke für Ihren Kommentar! Vielleicht liegt hier ein Missverständnis vor: Ich habe überhaupt nichts gegen Ferneyhough und mag viele seiner Stücke! Die Artikelserie ist keine ästhetische Bewertung irgendeines Kompositionsstils, ich untersuche nur das zeitgenössische Musikschaffens auf Vermittlungsstrategien, die nicht mehr funktionieren. „Complexity“ (nicht nur „New Complexity“) war einst eine sehr erfolgbringende Strategie (die Gründe habe ich oben beschrieben), inzwischen ist sie es aber nicht mehr. Nur darum geht es, gar nicht um eine künstlerische Bewertung von Ferneyhough oder anderen „komplexen“ Komponisten.