Ein Webern-Schrank und Mathias Spahlingers „passage/paysage“ für uns

Die Münchner Konzertreihe „musica viva“ des Bayerischen Rundfunks startete gestern im Prinzregententheater mit dem Ensemble Modern Orchestra unter der Leitung von Enno Poppe in ihre 73. Saison. Nachdem das zum Orchester vergrößerte Ensemble Modern Platz genommen hatte, betraten Enno Poppe und die Sopranistin Carolin Melzer das Podium von links, von rechts erschien zuerst unscheinbar der Pianist Ueli Wiget. Dirigent und Gesangssolistin setzten sich hin, der Spot richtete sich auf den Pianisten. Wie Poppe diverse eigene Kompositionen – vom Solostück bis zur vollen Ensemblebesetzung – zum Kompendium „Schrank“ zusammenstellte, hatten er und das Ensemble Modern sieben Werke Anton Weberns für den ersten Teil ausgesucht und spielten diese Musiken ohne Unterbrechung am Stück.

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Glasklar begann Wiget mit den dreisätzigen Variationen für Klavier op. 27 aus dem Jahr 1936, deren Zwölfton-Palindrome hier unüberhörbar exemplarisch wahrzunehmen waren. Oder lag die erhöhte Aufmerksamkeit an den sorgsam herausgearbeiteten zentraltönigen Dreiklängen, die ihre eigenartige unaufgelöste Vorhaltstonalität voll entfalten konnten? Man wäre nun bestens für die Symphonie op. 21 oder die späten Kantaten präpariert gewesen. Doch mit einen großen Sprung ging es zurück in die sprachlich wie emotional florale Welt des atonalen Jugendstils der 1910er Jahre um den ersten Weltkrieg herum, mit den Zwei Liedern op. 8 nach Rainer Maria Rilke, gefolgt von den Fünf Orchesterstücken op. 10. Gemeinsam teilen sich diese zwei Werken die Reduzierung der mahlerschen Orchesterbesetzung auf wenige Instrumente bzw. Kammerorchester. Tatsächlich wurde es nach dem expressionistischen Geflüster der Lieder in den Orchesterstücken mit Mandoline und Gitarre immer leiser, als hätte Webern geheime Stellen aus der zweiten Nachtmusik der Siebten von Gustav Mahler weiter ausziseliert.

Wie Wiget in den Variationen musizierte all dies das Ensemble Modern förmlich exemplarisch. Beispielhaft zeigte sich in den Vier Liedern für Gesang und Orchester op. 13 Weberns Herangehensweise in der Textvertonung: bei aller Dezenz kann er sich doch nicht nano-strausssche Realismen im ersten Lied nach Karl Kraus „Wiese im Park“ verkneifen. „Glockenblumen“ und „Es muss Sonntag sein und alles läutet blau“ klingt wie besagte Flora und das gemeinte Gebimmel. Brav serviert der Sopran am Ende des Liedes auf „Und alles bleibt so alt“ ein brustiges, „wehe“ meinendes tiefes h. In „Die Einsame“ nach Hans Bethge gibt es zu Beginn noch einen nach Mond klingenden „Mond“ mit tiefer Trompete, Posaune und Solo-Kontrabass. Dann zielt die Stimmung ganz klar trotz gestischer Reduktion auf „ich weine“, „weh mir ist“ und noch mehr „Mond“ im dritten Lied.

Ein wenig lag das auch an Caroline Melzer, die mit Zurückhaltung die Stichworte ausgestaltete, dabei aber doch das Konservative in Weberns Textwahl betonte – wozu Webern eben einlädt, was man erfüllen kann oder doch eher neutralisieren sollte. Im Trakl-Lied „Ein Winterabend“ ist der Ausdruck in der Textvorlage gefasster, wird es automatisch neutraler. Zwar tupft es am Anfang noch wie „Schnee“ und „Abendglocke“. Bei „Golden blüht“ bis „Erde kühlem Saft“ ist der Ambitus der Stimme so zwischen den Registern auf und ab wogend, dass die altbackene Einzelwortvertonung endlich in das Fassen einer übergeordneten Stimmung umkippt. Zuletzt „Auf dem Tische Brot und Wein“ ganz losgelöst, bestens einladend.

Damit wäre ein runder Webern Teil zu Ende gewesen. Es schlossen sich von den Solostreichern des Ensemble Modern wunderbar gespielt die Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 6 an, die akustisch größte Herausforderung des Abends, da der Theatersaal des Prinzregententheaters dafür doch zu wenig intim ist. Haben die Klavier-Variationen Palindrom-Momente, so lief das Programm nun von der Quartett-Mitte her quasi rückwärts: die Drei Orchesterlieder op. posth. auf Weberns eigene Worte und in der Mitte einen Text von Stefan George wirkten wie die etwas konzisere Matrix zu op. 13 und hätten vielleicht eher diese Zahl als das Opus Posthumus verdient: zwar sind die Texte Weberns kein Höhepunkt der expressionistischen Lyrik, aber er machte sich da etwas selbst zu pass, was in den Texten der Autoren nicht immer ganz stimmig zur Musik stehen mag.

Damit knüpfte er an den frühen Mahler an, der seine dichterischen Vorlagen auch sehr frei ergänzte oder eindampfte. Fantastisch gelangen Dirigent und Orchester zum Abschluss des ersten Konzertteils die Variationen für Orchester op. 30 von 1940/41. Quasi-serieller Pointilismus, wieder Palindrom-haftes, befremdeten manchmal die allein dastehenden Flötentöne, nicht gerade ein Ausbund an einfallsreicher Instrumentation Weberns, begeisterten um so mehr die kurzen, seltenen Holzbläserkoppelungen, wenn gleiche Töne der unterschiedlichen Reihenpermutationen zusammenstießen.

Nach der Pause ging es mit Mathias Spahlingers „passage/paysage“ für Orchester weiter, erstmals in München live gespielt. 1990 auf den Musiktagen in Donaueschingen uraufgeführt erzürnte es damals viele Gemüter wegen zu jener Zeit endlos provozierend wirkenden, stehenden Klängen oder wegen des berühmt-berüchtigten Pizzicato-Mikados vor Ende. Mancher Kompositionsprofessor sah sich damals bemüßigt, immer mal wieder die Schnellvorlauftaste am CD-Player gedrückt zu halten.

Damit teilte das strenge Werk der 90er Jahre Avantgarde das Schicksal mit Gija Kanchelis Dritter Sinfonie, wo die jene Professoren ebenfalls den Schnellvorlauf drückten: bei Spahlinger wohl wegen der furchteinflössenden Konsequenz, die man als dramaturgische Schwäche abtat, bei Kancheli vielleicht der Neid auf dessen Erfolg und die trotz ewig gleicher Tonart doch vorhandene reduktionistische Konsequenz, zugleich hart und warm.

2018 brachte mit sich, dass Spahlingers Meisterwerk von einem Klangkörper gespielt wurde, der diesen Begriff wirklich verdient: beim Ensemble Modern Orchestra handelt es sich nicht um ein Orchester, das tagaus, tagein zusammen musiziert, abgesehen vom jahrelang zusammenspielenden Ensemble Modern Kern oder den ein, zwei Jahre lang mitwirkenden Absolventen der Ensemble Modern Akademie.

Wenn dann wie hier Gäste hinzutreten, um vierfaches Holz, sechs Schlagzeuger und eine große Streicherbesetzung zu ermöglichen, treffen Musikerinnen und Musiker aufeinander, die unbedingt Neue Musik gemeinsam einstudieren und aufführen wollen, denen keine erweiterte Spieltechnik die Lust am Metier nimmt, sondern sie noch mehr anspornt. Dazu kommt mit Enno Poppe ein dirigierender Komponist, der zwar nicht immer kapellmeisterlich-ökonomisch agiert, aber selbst in eckigen oder übergroßen Bewegungen die Musik und die ihr innewohnende Energetik auf den Punkt bringt, dort, wo ein Kapellmeister meisterlich organisiert, dies doch auf seine Art macht und neben der Orga-Arbeit emotionale Knochenarbeit verrichtet und das hochmotivierte Ensemble zu geistiger und agiler Höchstleistung führt.

„passage/paysage“ beginnt mit zwei Schlägen wie die Eroica und ist im Sinne dieser Beethoven-Symphonie so etwas wie eine Mixtur aus dieser und der Fünften für das 21. Jahrhundert als Geschenk des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Zwar ist in der Behandlung des Materials und des Aufbaus der Klänge und der Instrumentation Spahlingers Musik ohne Boulez, Nono, Stockhausen oder Lachenmann und die Zweite Wiener Schule nicht denkbar. Irgendwie hat man aber den Eindruck, dass „passage/paysage“ unter Umgehung dieser sowie von Mahler, Brahms und Bruckner sofort auf Los geht, direkt an Beethoven anknüpft. Im Gegensatz zur Nonoschen Brutalität oder Totalreduktion, zu Boulez‘ Süffigkeit oder Stockhausens Zeitgeräuschen ist Spahlingers Orchesterwerk sehr klar und extrem gut durchhörbar, mit nur klassisch gebildeten Ohren sehr gut zu verfolgen. Jeder klanglich, harmonische und rhythmisch-metrische Meta-Vorgang entsteht aus einem deutlichen Nukleus. Manchmal ganz nebenbei, wie die besagte Pizzicato-Phase, die aus sich aus begleitender Kontur zu Bartok-Pizzicati aller Streicher entwickelt, die erst räumlich durch den Streicherapparat wandern, bis sich dann wie zufällig falsch gespielte Solo-Pizzicati bilden, die dann zum feinsten Pizzicato-Fächer sich auffalten, den die Musik zu bieten hat.

Oder die Momente, wenn das Orchester auf Zentraltöne zusteuert, diese verschiebt, später das reprisenhaft, wie in einer Symphonie, wiederkehren lässt. Das verweist auf Labyrinthisches, das führt in Gärten, das bringt die Wüste. Das ist unerbittlich und lässt kein von so manchen Neuen Einfachen in den 90ern bemühtes „was wäre wenn“ zu. Das ist wie das Leben par excellence: es gibt in der Zeit eben nur den einen Zeitstrom, den jedes Individuum anders erlebt, aber dessen Erlebnisrichtung sich nicht umkehren lässt.

Wenn Musik es versucht, zaubert sie meist ganz selten, verschaukelt, umlullt einen. Hier zieht es gnadenlos ins Existentialistische und gibt einem doch etwas, was andere Musik sonst so gern verweigert: ein abgearbeitetes Selbst und darin gerade wegen dem Abarbeiten Frieden noch im Hier und Jetzt, im Diesseits. Ja, Spahlingers Musik ist hier ganz bei sich, bei ihm, bei uns. Für uns. Für München: schlichtweg epochal.

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