Erl: die neue Orchesterakademie, junge Musiker nun zum Nulltarif?
Die Tiroler Festspiele Erl schrieben bis Mitte Januar 2018 ihre neue Orchesterakademie aus. In der ersten Aprilwoche bieten explizit auch das Land Tirol und die Festspiele an, dass „erstmalig Studenten aus aller Welt die Möglichkeit“ erhalten, „im Rahmen der Orchesterakademie“ unter Leitung von Gustav Kuhn „Anton Bruckners 3. Symphonie zu erarbeiten“. Ganz klar: bei Studenten handelt es sich nicht um Schüler. Bei Schülern ist es üblich, keine Honorare zu zahlen, Teilnahme- und Unterbringungsgebühren zu verlangen. Von den Studenten werden hier keine Gebühren verlangt, sie werden verpflegt und untergebracht.
Was aber problematisch ist: es werden keine Reisekosten übernommen und es werden öffentlich keine Stipendien angeboten. Vergleicht man die Erler Orchesterakademie z.B. mit der Orchesterakademie des Osterfestivals Bayreuth, verlangen die Bayreuther zwar Gebühren. Aber es gibt die Möglichkeit, bei Bedürftigkeit Stipendien zu beantragen. Wenn es um Anreisekosten innerhalb der EU ginge, wäre das auch schon moralische Pflicht, wenn es um Studenten aus Staaten mit hoher Jugendarbeitslosigkeit wie den mediterranen und osteuropäischen Mitgliedsstaaten ginge.
Mit seinem Videocasting strebt die Erler Orchesterakademie teilnehmende Studenten aus aller Welt an. Wenn man wie z.B. der Kontrabassist Marcus Vinicius aus Brasilien ausgewählt worden ist, bleibt man auf den Reisekosten sitzen und kann sich diese nur über Crowdfunding ermöglichen. Der Brasilianer muss z.B. 5500 brasilianische Reais einwerben, was ca. 1390 Euro entspricht. Das ist vielleicht für Mitteleuropa wenig und wäre angemessen aus eigener Tasche oder der der Eltern zu finanzieren.
Nachdem man in und um Erl aber im Bereich von Mindestlöhnen streitet, wo vielleicht sogar ein Security-Mitarbeiter am Tag einen höheren Lohn erwirtschaften könnte als ein osteuropäischer Orchestermusiker, seien die 1390 Euro Aufwand, um überhaupt nach Erl kommen zu können, mit dem monatlichen brasilianischen Mindestlohn verglichen, der wurde aufgrund der Wirtschaftskrise au 965 brasilianische Reais gesenkt, was ca. 241 Euro entspricht. 1390 Euro, die Marcus Vinicius aufbringen muss: dafür müsste er bei Mindestlohnbezahlung in Brasilien 5,77 Monate arbeiten, um sich eine Woche Anfang April mit Gustav Kuhn und der Erler Orchesterakademie leisten zu können.
Hier halten sich globaler Anspruch und finanzielle Verhältnismäßigkeit nicht die Waage! Ja, gemeinsam mit dem Land Tirol wird dies als Leuchtturm im schwerreichen österreichischen Bundesland verkauft, das satt am innereuropäischen Warenaustausch zwischen Nord- und Südeuropa mitkassiert. Wenn Tirol eine repräsentative Orchesterakademie einrichten wollte, müsste es auf die Orchesterakademien der deutschsprachigen Weltklasseorchester blicken: dort erhält ein Stipendiat 600 Euro monatlich, bei freier Logis.
Wie gesagt, würden wir von Teilnehmern der Orchesterakademie aus der EU-Nachbarschaft sprechen, müsste man sich nicht aufregen, wenn man den Vergleich mit eher unbekannten Akademien anstellen würde wie hier oben mit der Bayreuther Osterfestival Orchesterakademie. Wir reden bei Erl aber von einem Festival, das für das Land Tirol ein Leuchtturmprojekt sein soll. Dann muss es sich auch mit Leuchttürmen wie den Orchesterakademien der BR-Sinfoniker oder der Münchner Philharmoniker vergleichen.
Wenn es dann nicht einmal, wie die Bayreuther Orchesterakademie, bei Bedürftigkeit Stipendien anbietet, obwohl mit dem Stifter Haselsteiner einer der reichsten Österreicher in Erl mit an Bord ist, kann man vor einer Teilnahme nur eindringlich warnen. Oder hoffen, dass nachträglich nicht großzügige, sondern großzügigste Stipendien breit bei dem globalen Anspruch ausgereicht werden.
Und als ob man das bewusst kaschieren wollte, sich nicht mit den Weltklassorchesterakademien vergleichen zu müssen, dreht man den Anspruch einfach um: „Anders als bei den üblichen Orchesterakademien geht es nicht darum, junge Musiker als Substituten in den Orchesterdienst eines bestehenden Orchesters zu werfen. In Erl ist es umgekehrt. Das Akademieorchester besteht hauptsächlich aus jungen hochtalentierten Musikern, denen erfahrene Musiker des Festspielorchesters als Profis zur Seite stehen.“
Und am Ende sollen eben doch wieder Substituten herauskommen: „Bei entsprechender Eignung kann der Weg auch ins international renommierte Festspielorchester führen.“ Also vom Nulltarif-Orchesterakademisten kann ein Aufstieg in das um Mindestlöhne kurvende Festivalorchester erfolgen, vom Regen in die Traufe.
Ich wage nun reine Mutmaßungen: wenn angesichts der jahrelangen Forderungen nach höheren Löhnen die bisher am unteren Rande bezahlten Berufsmusiker den Erler Festspielen zu teuer werden, sollen sie dann durch Studenten ersetzt werden, durch die Orchesterakademie und aus der niedrigen und niedrigsten Bezahlung von Profis wird Nachwuchsförderung, die man angesichts der aktuellen schlechten Nachrichten in pädagogisches Engagement vergoldet?
Nochmals: das Land Tirol, eine der reichsten Regionen der EU, möchte einen kulturellen, pädagogischen Leuchtturm schaffen, im Bunde mit den Festspielen Erl und einem der reichsten Österreicher. Das soll aber mit Mitteln erreicht werden, die manchen Teilnehmer fast die Hälfte eines Jahresgehalts seines Herkunftslandes kosten würde, indem man selbst keine Stipendien auslobt und andererseits die eigenen Profis nicht wie Teilnehmer der Salzburger Festspiele bezahlt, mit denen man sich im Leuchtturmgerede automatisch vergleicht?
Selbst wenn man behauptet, dass die Bayreuther Wagnerfestspiele schlecht bezahlen, so vergisst man eines: das Orchester in Bayreuth sind Profis aus Weltklasseorchestern, die damit ihre Ferien verbringen. In Erl wirken aber en Gros Personen aus dem Ausland mit, die mit den niedrigen Gehältern ihre Grundexistenz absichern. Und nun wird dieses Gebaren qua Anspruch gar in arme Schwellenländer auf anderen Kontinenten exportiert?
Ich kann nur sagen: Tiroler, redet nicht so viel um den Brei herum, prüft nicht verfilzte Strukturen mit weiteren verfilzten Strukturen. Räumt einfach mal auf! Installiert einen neuen Leiter, überdenkt nochmals Eure Orchesterakademie und die Festspiele von Grund auf. Nehmt den Hauptförderer richtig in die Pflicht oder sucht Euch einen neuen. Momentan kann man Profis und Studenten vor den Erler Festspielen nur warnen – wobei jeder ja machen kann, was er will – wie man vor einer Durchreise durch Transnistrien gewarnt wird, jener nicht anerkannte Operettenstaat zwischen Moldawien und der Ukraine. Leider sind die Festspiele Erl keine Operette, sondern bitterer Alpengrund des österreichisch-europäischen Musiklebens.
Komponist*in