Levine, Weinstein und der Scheideweg der Klassischen Musik.

Als ich ein Teenager war, stellte ich mir das Studium an einer Musikhochschule so vor wie in dem Film “Fame”: umgeben zu sein von inspirierten Menschen, die von Morgens bis Abends Musik machen und leidenschaftlich und liebevoll ihrem Traum nachgehen. Natürlich musste ich meine Fantasie entsprechend revidieren, als ich tatsächlich studierte, dennoch würde ich mein Studium als eine sehr positive Erfahrung bezeichnen, die mich persönlich nicht enttäuscht hat. Ich musste nicht unter Übergriffen leiden, und wurde als Minderjähriger wie auch als Erwachsener nicht sexuell belästigt. Das geht aber nicht jeder/m so, leider.

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Was ist mit der klassischen Musik nur im Moment los? Die große Welle der Sexskandale, die spätestens seit Weinstein in aller Munde ist, hat nun mit James Levine einen neuen traurigen Höhepunkt und den bisher prominentesten Klassikstar erreicht. Und es ist zu befürchten, dass es nicht der letzte Fall sein wird. Der gute Ruf der klassischen Musik als Vorzeigeaktivität besonders für junge Menschen hat schon jetzt gelitten und wird mit jedem weiteren Skandal noch weiter leiden. Das wird sich irgendwann auch auf die öffentliche Förderung klassischer wie auch zeitgenössischer Musik auswirken.

https://www.youtube.com/watch?v=cgJ17o2GP0I

Im Grunde ist es ein Skandal, dass Levine erst jetzt öffentlich thematisiert wird. Seine Vorlieben für Minderjährige sind so etwas wie ein “Treppenwitz“ der Klassikszene – absolut jeder wusste davon, es war trotz wohl gezahlter Schweigegelder kein großes Geheimnis. Immer wieder wurden diejenigen, die das öffentlich kritisch anmerkten oder Fragen stellten, als „Schmierfinke“ und „Neider“ verhöhnt, da Levine auf dem Höhepunkt seiner Macht war. Es blieb also gar nichts anderes übrig, als hinter vorgehaltener Hand darüber zu reden, und das geschah jahrzehntelang. Und Levine wurde hofiert, wie man nur hofiert werden kann. Dieser seltsame Umgang mit einem Problem wird uns klassischen Musikern zu Recht vorgeworfen werden, und Levine ist kein Einzelfall.
Es wäre bei Levine auch nicht darum gegangen, ihm das Talent als Dirigent abzusprechen (viele meiner Lieblingsaufnahmen sind mit ihm als Dirigenten), sondern man hätte ihn schon viel früher vor sich selbst schützen müssen. Dann hätte es auch Heilung und Aussöhnung geben können, so aber ist es ein Affront für die Opfer, dass man erst jetzt einen an den Rollstuhl gefesselten Kranken damit konfrontiert, anstatt es schon viel früher zu tun.

Nicht nur die klassische Musik, sondern die gesamte Kultur des gemeinsamen Umgangs und des Respektes vor der Sexualität anderer Menschen steht in gewisser Weise an einem Scheideweg. Im Moment fliegt uns die Thematik sexuelle Belästigung so um die Ohren, dass man schon befürchtet, dass die Stimmung wieder umkippt in eine Art Hexenjagd, was für die wichtige Sache – nämlich diese Themen endlich einmal anzugehen und auch Konsequenzen für den Umgang miteinander daraus zu ziehen – fatal wäre. Andererseits wundert man sich auch, wie selten die prominenten Täter bisher tatsächliche Konsequenzen zu befürchten hatten. Man kann die jetzige Welle von Anzeigen auch als eine Art Aufschrei der bisher aus vielerlei Gründen zum Schweigen Verdammten verstehen, der sich jetzt erst manifestieren kann, da nun immer mehr Menschen den Schritt einer Anzeige wagen. Und man wundert sich über die Fälle, bei denen man das Gefühl hat, es könnten noch 400 weitere Frauen kommen um Anzeige zu erstatten, und immer noch würde argumentiert werden, es handele sich hier um ganz normale zwischenmenschliche Vorgänge, das Ganze sei nur ein “Missverständnis”und eine (Welt?)Verschwörung von „Trittbrettfahrerinnen“. Es gibt aber immer irgendwo eine Besetzungscouch, die anscheinend eingeweiht werden muss.

Oft höre ich von Männern wie auch Frauen das Argument „ist es nicht verdächtig, dass die Kläger/innen sich erst jetzt melden?” und schnell wird von irgendwelchen angeblichen Komplotten gesprochen. Zuerst einmal missachtet das die Tatsache, dass sich niemand es freiwillig antut, über solche Geschehnisse vor Gericht aussagen zu müssen und sich damit an den Pranger zu stellen. Die Fälle in denen Opfer zum Beispiel Übergriffe erfunden haben sind äußerst selten, dennoch gehen viele automatisch unreflektiert davon aus, dass vor allem jede Klägerin automatisch eine “rachsüchtige” Gesellin ist, “die sich das ja alles ja nur ausgedacht hat”. Das zeigt die Kluft, die uns noch von einem normalen Umgang mit dem Thema trennt: Viel eher wird den Klägerinnen/Klägern ein niederes Motiv unterstellt als dass man sich eingesteht, dass ein bewunderter Mensch vielleicht tatsächlich falsch oder übergriffig gehandelt haben könne. Das wird auch bei Levine nicht anders sein, bald werden sich die ersten melden, die den „großen Künstler“ verteidigen werden, die sein bedeutendes Lebenswerk in den Vordergrund stellen, etc. Das hat man so oder ähnlich schon unzählige Male so erlebt. Selbst ein inzwischen bei erdrückender Beweislast verurteilter Sexualstraftäter wie Philip Pickettt bat noch darum, man möge doch bei ihm eine Ausnahme machen und ihn ein wenig länger frei herumlaufen lassen, da er ja ein bedeutender Künstler sei, der noch wichtige Konzerte vor sich habe. So geht es natürlich nicht.

Bei einem angezeigten Diebstahl würde niemand automatisch von einer Lüge des Opfers ausgehen, obwohl es wesentlich mehr vorgetäuschte Diebstähle aus Versicherungsbetrugsgründen gibt als vorgetäuschte sexuelle Belästigungen oder Vergewaltigungen. Rein statistisch sollte man den Opfern also erst einmal glauben, und dennoch die Fälle sorgfältig überprüfen, sicherlich mit gebührendem Respekt vor dem noch vermeintlichen Täter, aber eben auch mit mehr Respekt vor denjenigen, die es sich antun, ihn anzuzeigen.

Nur wenige scheinen zu begreifen, wie schwer es ist, sich mit einer öffentlichen Anzeige erst einmal allein (von den anderen Fällen weiß man meistens nicht, was in der Natur der Sache liegt) gegen eine Übermacht zu stellen, die den “Star” wegen seiner Macht schützen will, um eigene Nutznießerpositionen zu verteidigen. Das war bei Levine sicherlich so – ein weltberühmter Dirigent agiert nie alleine – da gibt es Institutionen, Agenten, Opernhäuser, weitere Künstler, die alle von ihm abhängig sind oder von ihm profitieren. Da hat man erst einmal alleine keine Chance, deswegen trauen sich die meisten auch nicht.

Es ist sehr bezeichnend, dass sowohl die Affäre Weinstein als auch die Affäre Levine erst dann ins Rollen kamen, als diese Machtfiguren zu “schwächeln” begannen, Weinstein im Filmgeschäft und Levine aus gesundheitlichen Gründen. Da bröckeln dann die bisher standfesten Seilschaften. Es ist unerträglich, wenn dann von einem “Komplott der angeblichen Opfer” gesprochen wird (wobei man anmerken muss, dass dies im Fall Weinstein/Levine noch nicht geschah – Weinstein versuchte eine Art von Reue zu zeigen und Levine hat sich bisher nicht geäußert), wenn das eigentliche Komplott in der jahrelangen Deckung und Unterstützung der Täter besteht. Ich finde es auch von einer unglaublichen Scheinheiligkeit, dass z.B. die Met jetzt so tut, als hätten sie “von nichts” gewusst, denn das war ganz sicherlich nicht der Fall. Nein, sie wollten lange nichts wissen, und das ist ein Riesenunterschied.

Die klassische Musik an sich ist daran unschuldig. Gerne wird vergessen, wie viel Positives es darüber zu sagen gäbe, und eigentlich würden wir am liebsten über dieses Positive sprechen, über die Kunst, über die Offenheit, über Leidenschaft, höhere LGBT-Toleranz als im „normalen“ Leben und spannende künstlerische Leistungen. Die klassische Musik soll auch keine verkrampfte puritanische Betätigung werden, wir dürfen nicht paranoid werden und jedem Kinderchorleiter gleich das Schlimmste unterstellen. Ein Großteil der klassischen Musiker pflegt einen respektvollen Umgang miteinander, davon sollte man auf jeden Fall ausgehen. Wir müssen aber lernen, die momentanen Warnsignale (es ist nicht 5 vor 12, sondern 5 NACH 12) nicht weiter nonchalant zu ignorieren, sondern eine neue Offenheit und Vertrauenswürdigkeit zu etablieren, die Opfer früher schützt und vor allem die Täter nicht wider jede Vernunft über lange Zeiträume unterstützt. Die klassische Musik HAT ein Problem, und wie es scheint auch Freiberufler im Allgemeinen. Die Machtgefüge und Abhängigkeiten sind anders als bei zum Beispiel Angestellten. Und erst unser gemeinsames Schweigen macht sexuelle Gewalt und Verführung Minderjähriger oder auch Abhängiger zu einer echten Gefahr. Manch ein Täter hätte vielleicht früher lernen können, sich anständiger zu verhalten, hätte er schon früher ein “so bitte nicht!” gehört. Man hätte verzeihen und zukünftige Opfer hätten geschützt werden können, und man könnte endlich wieder über das reden, über das man am Liebsten reden würde…nämlich über die Musik.

Moritz Eggert

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