Vom Verschwinden zeitgenössischer, ernster Chormusik
Die Welt der Laienchöre befindet sich in Auflösung, so könnte man die aktuellen Austritte vieler Landesverbände aus dem Deutschen Chorverband titeln. Die Chorverbandswelt ist allerdings auch ein Kosmos von Vernachlässigung heute komponierter, sogenannter E-Musik. Vereinfacht: 0 von 10 aufgeführten, gepflegten Chorwerken sind in den letzten Jahrzehnten komponierte E-Werke. Genauer: der Anteil liegt unter 0,5. Selbst knapp 30 Jahre bis 2016 als Chorleiter tätig gewesen, tippte ich auf ein Verhältnis von 2 zu 10. Dass es so schlimm ist – das hätte ich nicht erwartet.
Woran liegt das? Wir alle kennen ambitionierte Chöre, die heutige Werke der höchsten Leistungsstufe pflegen, wie z.B. der via-nova-Chor oder der orpheus chor in München. Dann gibt es vereinzelte Chorleiter selbst auf dem flachen Lande, die in ihrem Einsatz nicht locker lassen, wie z.B. der Komponist und Dirigent Hubert Hoche oder ein kleiner Landshuter Frauenchor namens MusiCantica, oder im LGBT-Chorbereich Mary Ellen Kitchens mit ihrem Regenbogenchor oder Johannes X. Schachtner mit seinem Collegium Bratananium, um eine kleine Auswahl zu nennen. Im Chorleitungsunterricht, sei es im Haupt- oder Nebenfach, an Musikhochschulen lernt man Werke von O. Messiaen, G. Ligeti oder regionaler von E. Schneider, W. Killmayer, M. Beckschäfer kennen und lieben. Und etliche ehemalige Studierenden versuchen das dann im Berufsleben als Leiter von Profi-, Laien- oder Schulchören zu pflegen. Nur schrumpft das eben auch, obwohl dieser professionelle Nachwuchs in den besten Jahren seines Wirkens steht.
Ein kleines Beispiel aus dem Bereich der U-Musik macht dies vielleicht deutlich. Ich erlebte letzthin, wie Chöre plötzlich ein längst vereinbartes Gemeinschaftswerk der gehobenen U-Musik durch ein Arrangement eines Songs aus einem Walt-Disney-Film ersetzen wollten. Natürlich soll Singen jedem Sänger Spass machen. Dennoch gibt es neben dem Spass auch Faktoren wie Kunstwert, Bedeutung des Autors, Verankerung in einer regionalen oder anderen Musiktradition. Das muss den Sänger an sich nicht interessieren. Das kann ihm aber durch eine Chorleitung vermittelt werden. Manchmal muss es das einfach auch.
Wenn man in manche Chöre hineinblickt, ist das Durchkommen für einen Chorleiter oft aussichtslos. Das liegt gar nicht an den Sängern im Allgemeinen – da steigen immer wieder Leute ein und aus, aus welchen Gründen auch immer, musikalische oder funktionelle entschuldigen da private Gründe, die die anderen nichts angehen. Allerdings profilieren sich in Chören Laien als Vereinsvorsitzende oder als Mitglieder von Programmausschüssen, die vom netten Sänger zum selbstbezüglichen Politiker werden. Die eigene winzige Musikkenntnis soll zum verbindlichen Geschmack werden, ja, man droht sich gegenseitig mit Austritt oder im Extremfall mit Kündigung des Chorleiters, wenn die Laien unter sich uneins sind oder sich gegen die Ideen und Erklärungen des Chorleiters positionieren.
Das kennt man auch aus Berufsverbänden oder Konzertvereinen. Wenn der Chorleiter selbst kein gewiefter Taktiker ist oder Konflikte einfach aussitzt, dann bleibt ihm manchmal nur die Rolle als willfähriger Vollstrecker des Gartenzwerggeschmacks. Singen trägt dazu bei, die Persönlichkeit des Menschen an sich zu stärken. Ein hehres Ideal. Und wie schön sieht man es leuchten, wenn eine verschworene Chorgemeinschaft gemeinsam weiche und harte Nüsse der Chorliteratur knackte. Doch wird es zum blauen Augengrusel der Weissen Wanderer aus Game of Thrones, wenn Chöre unbedingt mal wie ein Popstar sein wollen, indem man meist gnadenlos unbefriedigend angelsächsische Songs auch mal singen möchte, aber schon an den Synkopen scheitert, die korrekte Aussprache noch seltener ist als der aktuelle Anteil an heutiger E-Chormusik. Oder bei besserer finanzieller Ausstattung man illegal die Songtexte umdichtet oder noch illegaler sich Arrangements schreiben lässt. Da wird Selbstidentifikation über die Musik noch schlimmer als die Selbstbezüglichkeit eines Chorvorstands.
Da zeigt sich auch die Problematik, welche mancher Chor mit der Welt des Urheberrechts hat. So sehr z.B. Pauschalverträge von Laienmusikverbänden mit der GEMA die Abrechnung vereinfachen, so erzieht das den einzelnen Chor wiederum zu „Geiz ist geil“. Aktuell bringt der Chorverband, wie hier in der BR2-Nachricht, gegenüber den Austrittsverbänden seinen Pauschalvertrag mit der GEMA in Stellung. Das ist vollkommen korrekt. Ein Austrittsgrund ist die beabsichtigte Erhöhung der Umlagen der Chöre an den Verband. Weiß man dann wieder um die Lage der Urheber von Chormusik, ist auch klar, dass irgendwann ihre Tarife steigen könnten. Die Mitgliedschaft vieler Chöre in Verbänden ist allerdings vor allem das Resultat möglichst eigenes Abführen von GEMA-Tarifen zu vermeiden, was auch der Fall ist, wenn man direkt für eine Nutzung nichts zahlt, sondern nur indirekt durch den Verbandsbeitrag.
Der andere Grund für die Mitgliedschaft ist dann oft regional erst mögliche Beteiligung an staatlichen Fördermitteln für die Chorarbeit. Viel stärker sollte eigentlich das Gemeinschaftsgefühl von Chorfesten des Verbands sein. Das nimmt man natürlich gerne mit, wenn es kaum mehr als die übliche Chorroutine kostet. Würden Chöre z.B. bei Eintrittspreisen von null bis zehn Euro die GEMA-Tarife selbst zahlen, egal ob U oder E, würden sie vielleicht ca. 100 Euro mehr für ein Konzert ausgeben bzw. könnten sie sich bei leichter Erhöhung von Mitgliedsbeiträgen die Mitgliedschaft in einem Verband auch sparen, gerade wo sie meist gemeinnützige Vereine mit großzügigen Spendenmöglichkeiten sind. Ja, sie verlangen manchmal nicht einmal regulär Mitgliedsbeiträge, damit die Mitglieder diese auch noch als Spende absetzen können.
Es ist also manchmal ein regelrechtes Trauerspiel: selbst so viel als möglich Geld einnehmen, gleichzeitig Ausgaben sparen, gerade dann auch, wenn es den Autoren ihrer Musik nutzen würde. Oder eben den Chorleitern, denen für ihre herausgehobene Leitungsposition für eine Stunde netto oft weniger bleibt als der Bruttomindestlohn. Dazu dann noch das Abwürgen von seltenen musikalischen Wagnissen, um ja nicht einmal das leuchtende, verschworene Gemeinschaftsgefühl zu erleben.
Ich habe als Chorleiter immer wieder versucht, E-Musik, von verstorbenen oder lebenden Autoren, in das Repertoire einzubauen. Am besten gelang mir das in theatralen Chorprojekten, wo zeitgenössische Chortechniken immer auch eine szenische Begründung hatten – da konnte ich Laien, die kaum Noten lesen konnten, sogar hier und da atonale Harmonien singen lassen. Das weckte ihren Ehrgeiz. Ohne diesen theatralen Kontext kam leider auch hier allzu oft die Forderung auf, man wolle nun auch mal „gut ankommende“ Musik singen. Das war dann nicht spezielle Chormusik, sondern man wollte mal wieder wie ein Popsternchen sein, dessen Musik nachahmen. Partiell ist das auch schön und lehrreich für einen eingefleischten E-Musiker wie mich. Auf Dauer aber frustrierend, gerade wenn ein herausragendes Chortreffen ansteht und die harte eigene Arbeit, die dem Chor ein wirklich einzigartiges Profil gab, absolut Allgemeinverbindlichen weichen muss. Wäre solch ein Chor in der Lage, in wenigen Proben ein Programm zu erarbeiten, dann wäre das ein lustiges Intermezzo.
Das Gros der Chöre übt aber oft fast ein Jahr für ein kleines Programm an durchgängig neu zu lernenden Werken. So überlegt sich jeder Chorleiter nach kurzer Lernphase genau, was an Literatur gepflegt wird. Wenn er gar zeitgenössische E-Musik einbaut, wird er immer mit dem Können und dem Widerspruch kämpfen müssen. Pflegt er diesen Stil gar mit selbst komponierter Musik und eigenen Arrangements, die genau auf das Können des Chores zugeschnitten ist, bekommt er für die Arrangements einen feuchten Händedruck, für die eigene Musik eher Probleme, dass er sich für das wenige Geld auch noch an erster Stelle einbringen möchte.
Letztlich ist heutige E-Musik für Chöre ein aufgegebenes Terrain. Das funktioniert nur noch auf Eric Whitacre Niveau oder selbst für tonale Musik als Nischenmusik für ambitionierte Chöre oder Spezialensembles. Wenn die Verbände und Chöre selbst sich nicht öfters dem Abenteuer jenseits von Singalong und Orff öffnen, sich nicht in eutonischer Selbstgefälligkeit ergehen und nur smarte Erfüllungsgehilfen ihres schmalen Geschmacks promoten, sondern auch und besonders widerständige, um wirklich Unbekanntes kämpfende Musiker fördern, dann nähern wir uns vielleicht in zehn Jahren wieder einer Quote von 1 zu 9. Solange an Leitung und Autorenschaft gespart wird, Verbandsmitgliedschaften Sparmodelle sind oder der Funktionärsprofilierung dienen, solange wird sich nichts ändern. Was man über die aus dem Chorverband austretenden Landesverbände hört, sind diese vorbildlich in ihren GEMA-Meldungen. Wie oben beschrieben, würde eine Chorwelt ausserhalb der bisher üblichen Strukturen für ein Konzert nur wenig mehr Kosten bedeuten, die letztlich allen nutzen könnte und eine angemessene Würdigung der Autoren wäre. Klar, bedürftige Projekte wie Arbeitslosenchöre, denen würden die jetzigen Tarife immer noch nutzen – nur können die sich meistens nicht einmal eine Verbandsmitgliedschaft leisten, um an diese Vorteile zu kommen.
Komponist*in