Old vs. new – oder der Friedhof der Kuschelklassik
Old vs. new – oder der Friedhof der Kuschelklassik
Es ist ja immer dasselbe: Die „New-Fraktion“, sprich die lebenden Komponisten, jammern, weil sie in den Konzert- und Opernprogrammen von heute quasi nicht vorkommen. Die Fans der toten Komponisten bzw. die „Old-Fraktion“ jammern, dass die lebenden Komponisten halt einfach keine „schöne“ Musik mehr machen, und man daher bitte nur das Alte spielen solle.
Ich mag diese Unterhaltungen schon gar nicht mehr führen. Endlos steht man herum auf Parties oder Veranstaltungen und erklärt Menschen, die noch nie in ihrem Leben irgendetwas von einem lebenden klassischen Komponisten gehört haben, was man als lebender klassischer Komponist eigentlich so macht. Schlimmer noch, manchmal führt man diese Unterhaltung mit Leuten, die quasi vom Fach und dennoch komplett unwissend sind.
Schnell ist man in den üblichen Rechtfertigungsmechanismen gefangen und hasst sich selber dafür, abgedroschene Floskeln wie „man muss dem Neuen gegenüber aufgeschlossen sein“ verwenden zu müssen. Warum muss man denn überhaupt aus der Defensive argumentieren? Warum muss man sich ständig dafür entschuldigen, heute leben und komponieren zu dürfen?
Wie unfair diese Diskussionen oft sind, muss genau erklärt werden. Ein beliebtes Argument der „Old is better“-Garde ist nämlich, dass es zum Beispiel seit XXXXX (hier den Namen des jeweiligen Lieblingskomponisten des Gegenübers einsetzen) halt einfach keine gute Musik mehr gäbe. Jeder dieser Diskussionspartner stellt also einfach ein Qualitätsdekret auf und behauptet, dass wir Komponisten da heute nicht mehr dran kämen.
Aber wie soll das überhaupt funktionieren? Ein bisschen ist das wie als ob Muhammad Ali gegen einen 5-jährigen boxt. Und zwar deswegen, weil die früheren Komponisten – die ganz, ganz wenigen, die wir heute von tausenden und abertausenden ihrer jeweiligen Zeitgenossen überhaupt noch kennen, und die das unendliche Glück haben, in den Konzertsälen gespielt zu werden – die Crème de la Crème de la fucking Crème dieser Komponisten darstellen, also nach jahrhundertelanger Auslese gegenüber allen anderen Komponisten ihrer Zeit als einzige noch bekannt sind. Nach der alten und immer richtigen Regel, dass 95% von allem Schrott oder durchschnittlich ist (und nur 5% gut), sind diese Komponisten also die 5% der 5% der 5%. Und natürlich auch richtig gut, denn sonst würden wir sie nicht mehr kennen. Sie haben eine jahrhundertelange und unerbittliche Auslese überlebt. Und da soll ein Komponist von heute spontan mithalten können? Der oder die ist doch gerade erst geboren!
Diesem unrealistisch hohen Anspruch gegenüber gestellt zu werden bedeutet immer, schlechte Karten zu haben. Denn wer kann heute von sich schon behaupten, gleich von Anfang an besser und wichtiger als Beethoven zu sein (nur dann hätte er unter den Augen der snobistischen Old-Fraktion überhaupt den Hauch einer Chance)? Und selbst wenn er oder sie es wäre, wie viele dieser Snob-Banausen würden einen solchen neuen Beethoven tatsächlich erkennen, wenn selbst ein Beethoven zu seiner Zeit nicht auf dieselbe Weise eingeschätzt wurde wie heute, und z.B. ein heute fast vergessener Komponist namens Johann Nepomuk Hummel wesentlich berühmter und mehr aufgeführt war als er?
Klar, nur 5% von dem, was heute komponiert wird ist auf einem guten oder herausragenden Level. Das war auch zu Zeiten von Beethoven so (siehe oben) und so wird es auch in Zukunft immer sein. Die Chance für einen Opernbesucher zum Beispiel auf eine neue Oper zu treffen, die auch nur annähernd auf dem selben Qualitätslevel ist wie ein berühmtes Werk der Vergangenheit ist also ca. 1/20. Meistens wird also ein solcher Mensch, der nicht die unbedingte Notwendigkeit eines aktuellen Diskurses anerkennt und es sich lieber in einem verstaubten Museum einrichtet, enttäuscht von dieser neuen Oper sein, und deren Besuch als schlechte Erfahrung verbuchen. Und dann kommen die üblichen Scheißargumente wie „ihr komponiert nicht so gut wie früher“, bei denen ich inzwischen schon sofort einen Brechreiz bekomme. Natürlich gibt es Komponisten heute, die fantastisch komponieren, die begeistern können, aber kaum jemand kennt ihre Namen, da sie in den Spielplänen nicht vorkommen. Es gibt einfach nicht genug Platz vor lauter Heldenverehrung.
Machen wir einmal eine Analogie, wie absurd diese Situation ist. Stellen sie sich zwei alteingesessene Firmen vor, beide schon seit vielen Jahren erfolgreich. In der einen Firma wird jede aufkommende neue Idee sofort mit der Vergangenheit verglichen und abgelehnt, wenn sie nicht einem Modus operandi entspricht, der früher einmal gut funktioniert hat. Die andere Firma hat ein offenes Ohr für Neuerungen – sie geht einerseits bewusst mit der Firmentradition um, probiert aber auch stets neue Ansätze aus, auch wenn nicht jeder von diesen gleich erfolgreich ist. In einer lebendigen Auslese von neuen Ideen sucht sich diese zweite Firma die besten dieser Ideen heraus und entwickelt diese weiter, um konkurrenzfähig zu sein. Beide Firmen müssen nun in einem ständig wechselnden Markt überleben, in dem die Karten fast jeden Tag neu gemischt werden. Welcher Firma gäbe man in diesem harten Wettkampf mehr Überlebenschancen? Der, die immer und unhinterfragt nach dem alten Erfolgsrezept arbeitet und dieses nie ändert, egal was kommt? Oder der zweiten Firma?
Und wer jetzt meckert, dass Kapitalismus nicht mit Kunst verglichen werden kann, hat natürlich Recht. Und Unrecht, denn eine Parallele gibt es schon: Auch die Ideen der Kunst sind in einem beständigen Überlebenskampf. Die Antworten, die das 19. Jahrhundert mit seiner Kunst auf das 19. Jahrhundert gab, sind Antworten auf das 19. Jahrhundert, und nicht auf das 21. Jahrhundert. Und das ist ein Problem, denn wer nicht das 21. Jahrhundert künstlerisch befragt, wird auch nie eine Antwort auf die Fragen des 21. Jahrhunderts bekommen, sondern nur auf schon längst beantwortete Fragen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass nicht alle Antworten auf die Fragen des 21. Jahrhunderts angenehme Antworten sind. Aber wer diese Antworten nicht aushält, interessiert sich auch nicht wirklich für das Lebendige, sondern für das Tote.
Und was wir auch nicht vergessen dürfen: auch ein schlechtes neues Werk ist wichtig. Man kann sich darüber aufregen, sich daran reiben, und irgendwann findet dann eine wirklich geniale Künstlerin eine Lösung auf die unbeantwortete Frage, die das schlechte Werk erfolglos versuchte zu beantworten. Das nennt man Diskurs, ein fundamental anderer Vorgang als ein ewiger Nekrolog mit den Büsten der Vergangenheit.
Ich stelle mir das so vor: die Anhänger der „großen Alten“ stehen auf verlassenen Friedhöfen herum (zum Beispiel unsere klassischen Konzertsäle) und halten Zwiesprache mit den Grüften der Genies. Die Genies aber sind schon lange tot, und können nie antworten, da sie ihre Antworten schon gegeben haben. Zwischen den Grabsteinen huschen grell geschminkte, widerliche Leichenfresser herum, die die schon abgenagten Knochen der Genies immer wieder neu einkleiden, so dass sie fast lebendig scheinen. Aber nur fast. Diese fiesen Ghouls heißen zum Beispiel David Garrett oder André Rieu, und ihr debiles ewiges Grinsen verschwindet nie, wie das der Cheshire-Katze.
Draußen aber ist das Leben. In den Straßen laufen, leicht verwirrt und ein bisschen planlos vielleicht, lauter Menschen herum. Jeder dieser Menschen ist ein Künstler von heute. Manche sind anstrengend, manche sind faszinierend, manche machen ewig Ärger, manche können uns trösten. Sie alle aber sind…lebendig. Man kann mit ihnen interagieren. Wenn man ihnen eine Frage stellt, werden sie antworten. Manche dieser Antworten sind banal, manche erschütternd, manche bezaubernd, manche verwirrend. Und ganz selten gibt es auch eine Antwort die so sublim und schön ist wie ein Tautropfen, in dem sich das Licht von Aldebaran spiegelt.
Und das Schönste ist: diese Menschen hören auch zu. Sie interessieren sich auch dafür, was ihr Publikum sagt. Man kann mit Ihnen interagieren.
Redet mit ihnen, ihr old-fashioned, früher-klang-doch-alles-schöner, ach-es-sollte-doch-immer-so-bleiben-wie-es-ist damned motherfuckers. Oder hört ihnen wenigstens einmal richtig zu, ohne ständig öd herumzumeckern.
Sonst bekommst ihr das ewige Schweigen, das ihr verdient: Auf dem Friedhof der Kuschelklassik.
Moritz Eggert
Komponist
Sauguad sag I!!!!!!!!
Gute Text…. sagt viele wahre Dinge…. aber eines wird nicht gesehen: das übliche Repertoire besteht nicht aus toten Museumstücken aber aus immer gegenwärtigen Musik. Die ‚Meisterwerke‘ enthalten auf universellen ästhetischen Normen gegründete ‚Aussagen‘ die eine lebendige Tradition geformt haben, und DAS ist die Konkurrenz der Gegenwart. Also, nicht Museumkultur, aber gegenwärtige Präsenz: Kunstwerken die uns noch immer Bedeutendes zu sagen haben. Dies als etwas ‚totes‘ zu malen, trägt an das Problem bei. Die ‚Kuschelklassik‘ ist eine Perversion, die ‚Klassik‘ eine noch immer bedeutende Präsenz – ohne diese Einsicht kann die neue Musik sich nicht behaupten.
Auch ist es unsinnig, die Kunstmusik als nur mit der Zeit ihrer Geburt zu verbinden. Dass die heute noch gespielte Musik überhaupt die ‚unerbittliche Auslese‘ überlebt hat, war nur möglich, weil sie die Zeitbedingte Aspekten transzendierte, und das war nur möglich weil die Komponisten sich tief in universelle Aesthetik verankerten. Es gibt etwas wie ‚die holistische Natur der menschlichen Wahrnehmung, Empfänglichkeit‘.
Hier könnte Steven Semes, ein Amerikanischer Architekt der sich um Restoration und Monumenten bemüht, etwas beitragen:
„After decades in which the attribution of beauty to specific objects or places was thought to be an entirely subjective matter, developments in contemporary science are revealing underlying universals that form the basis for many of our judgements, rooted perhaps in the workings of our brains. As part of nature, our gravitation towards such patterns as the logarithmic spiral or the Golden Section is simply a consequence of our minds being embedded in, rather than standing in opposition to, the natural world. Our arts are not unrelated to our evolutionary development, but a fulfillment of it.“
http://subterraneanreview.blogspot.nl/2016/11/finding-framework.html
Ich verstehe die Forderung der zeitgenössischen Komponisten gut. Und ich wünschte, wir wären soweit, daß – wie es Adorno einmal formuliert hat – „die Spatzen die Musik von Anton Webern von den Dächern pfeifen“. Aber die Spatzen (denen unsere Probleme ziemlich gleichgültig sind) tun es eben noch immer nicht. Zeitgenössische Musik – ob nun im Konzertsaal oder in der Oper – zieht nicht die Massen an. Hat sie nie. Und daß sie heute noch weniger Publikum anzieht, ist ein geistiges Armutszeugnis, das sich unsere Gesellschaft ausstellen kann.
Das Publikum ist ja schon mehr und mehr der „klassischen“ Musik entfremdet. Das Bildungssystem hat andere Schwerpunkte gewählt. Sogenannte „E-Musik“ wird im Unterricht nicht mehr so vermittelt, daß der Grundstein für ein weiterreichendes Interesse gelegt wäre.
Sehr geehrter Herr Eggert, was sollen die Veranstalter Ihrer Meinung nach tun? Sie operieren mit öffentlichen Geldern, und es sitzt ihnen die Öffentlichkeit im Nacken und will ihre Steuerinvestition auch gerechtfertigt sehen. Es gibt nur wenige Politiker, die einem Intendanten anerkennend auf die Schultern klopfen, wenn er eine zeitgenössische Oper – sechs Mal (wenn’s hoch kommt) in einer Spielzeit anzusetzen, Wiederaufnahmechance sehr gering – mit einer Auslastung von unter 50% (meist bewegt sich die Auslastungszahl weit unter 40%) spielt. Da kann das Feuilleton noch so jubeln. Der Intendant kriegt sein Fett weg und muß jede zeitgenössische Produktion durch eine Cash-Cow (Musical) flankieren. Die dazu notwendigen Sänger hat man natürlich nicht im Ensemble, sondern muß sie als Gäste engagieren. Und das kostet!
Wenden wir den Blick doch mal von den „großen Institutionen“ in den kommunalen Ballungsgebieten weg und der sog. „Provinz“ zu. Da ist bereits das risikofrei zeigbare Repertoire an „alten Werken“ erheblich geschrumpft: Oft schaffen es die ABC-Waffen des 19. Jahrhunderts (Aida, Boheme und Carmen) nicht einmal auf acht ausverkaufte Vorstellungen. Werke der klassischen Moderne sind bereits ein Wagnis. Und dass sie dennoch gespielt werden, ist keine Alibihandlung, sondern von der Notwendigkeit getragen, die Bildungslücke nicht noch größer werden zu lassen und jeden Anschluss an die Gegenwart zu verlieren.
Die zeitgenössische Musik ins Programm zu nehmen – das ist momentan den subventionierten Festivals an der Salzach, der Ruhr, der Spree vorbehalten. Und selbst die müssen auf Namen setzen, denn sie leben – als potentielle Geldverbrennungsmaschine – vom medialen Renommee.
Da kommen wir zum nächsten Problem: Kaum ein Kulturredakteur hat heute noch ein ausreichendes Budget, zu Veranstaltungsorten zu reisen. Die Wirklichkeit sieht so aus: Veranstalter bezahlen Reise- und Aufenthaltskosten, wenn sie auf die Meinung eines überregionalen Journalisten Wert legen. Und daß wir uns richtig verstehen: Das sind keine gekauften Artikel!
Ich möchte hier nicht auf die Machart so mancher zeitgenössischen Oper zu sprechen kommen. Auch nicht auf die „Dringlichkeit“, sie mit hohem Risiko zu realisieren. Die Wurzeln der Misere liegen in der Verschiebung der Wertigkeitssysteme, die die kapitalisierte Gesellschaft vorgenommen hat. Und auch ein wenig in der inflationären Anklage, zu wenig Gegenwartsmusik zu spielen.
Es wird Ihnen nicht erspart bleiben, sich auch einmal zu fragen, warum die Gesellschaft – über das Fachpublikum hinaus – an Ihrer Musik interessiert sein sollte. Was geben Sie der Gesellschaft, dass Sie ihre Aufmerksamkeit und ihre Steuergelder einfordern? Leisten Sie mit Ihren Werken über den Zeitraum, den ihre Realisierung einnimmt, eine Zurüstung zur Mündigkeit des Einzelnen? Welche Vision haben Sie, die über die Erschaffung eines Werkes hinausreicht?
Ich meine diese Fragen sehr ernst und stelle sie mir für mich selbst immer wieder, um Kraft zu schöpfen, immer noch in meinem Beruf für das Neue, das Andere einzustehen und mich nicht dem Mainstream anzupassen oder aufzugeben.
In der Kunst ist Gegenwart immer Aufarbeitung der Vergangenheit. Leider. Ich wünschte, die Spatzen würden in diesem Frühling endlich, endlich, endlich Webern pfeifen. Und dann Moritz Eggert. Als Zugabe.
Die Spatzen werden nie, wirklich nie, Webern pfeifen….. für Musikliebhaber ist Webern schon ziemlich hermetisch und unzugänglich, also für Spatzen ganz unmöglich – es gibt keinen Sonnenaufgang in Webern. Und die neue Musik selbst, sie hat keinen Schuld an die Einschränkungen? Ist es nicht auch eine Frage der Freiheit des Komponisten, sich selbstherrlich über alle mögliche Limiten hinwegzusetzen, und als die Realität grosse Hindernisse bereitet, über die spätkapitalistische Gesellschaft zu klagen? Ich bin mit der Analyse dieser schrecklichen Kommerz des Musiklebens ganz einverstanden. die Verarmung ist desaströs. Aber Künstler können Einschränkungen transformieren, wie es in früher Zeiten immer möglich war. Im Ancien Régime waren Kunstwerken immer klare Limiten gestellt, und trotzdem haben wir – noch immer – einen Bach, einen Händel, sogar einen Mozart usw. Die künstlerische Freiheit nur destruktive Spielereien auf Gemeinschaftskosten als neue Musik dar zu stellen:
http://www.youtube.com/watch?v=jwlCD2y2tBA
….. hat sehr an die Marginalisierung und gesellschaftliche Ablehnung der neuen Musik beigetragen.
Die Amerikanische Orchester planen regelmässig neue Werke die sich an der Orchesterkultur anpassen, sie sind tonal, farbig, und am schlimmsten stören sie nicht. Und es gibt auch gute Werke dazwischen, die auf eine tonale Amerikanische Tradition basieren. Die Deutschen sind die Erben einer äusserst reichen Kultur, könnten sie die Decke der Nachkriegsschuldbewältigung abwerfen, dann wäre es vielleicht möglich die neue Musik auch in Deutschland neu zu beleben – wie eigentlich Rihm schon versucht hat in sein ‚Lichtes Spiel‘ das auf das frühe 20. Jahhundert zurückgeht:
Nur mal so nebenher: Spatzen – gemeint sind die Hausspatzen – pfeifen nicht und nichts. Und schon garnicht irgend etwas Tonales. Sie plappern, tschilpen bestenfalls Musique concrète. Auch der „musikalischere“ Feldsperling hat letztlich nicht mehr zu bieten. Vor etwa 60 Jahren habe ich versucht, einem Gelbspötter die Zwöftonreihe von Schönbergs 4. Streichquartett beizubringen. Jeden Morgen, wenn ich an einem Obstgarten entlang zur Bahn ging, um in die Schule zu fahren, pfiff ich ihm an mehreren Tagen hintereinander erst die drei ersten, dann die ersten fünf und dann jeweils zwei weitere Töne der Reihe vor. Nach einer Woche schaffte er zwei unzusammenhängende Abschnitte: Töne 1-4, Töne 6-7. Zum Vergleich: von Beethovens 1. Thema des 1. Satzes der Pastorale schaffte er zusammenhängend die ersten sechs Töne, nicht etwa die ersten sieben (er kannte die Phrasierung des Auftaktfreaks Schering nicht, hat ihn nie gelesen). Was ich damit sagen will? Musik – ob alt oder neu – ist nichts Natürliches, sondern was verdammt Kultürliches.
Hier die Noten der Schönberg-Gelbspötter-Adaption
http://www.guntramerbe.de/gelbspoetter.jpg
Danny Elfman, ick hör dir trapsen: https://www.youtube.com/watch?v=UOVcv2gcix4&feature=youtu.be&t=1m12s
Atonalitätsneurosen – oder Totgesagte leben länger
Lieber Moritz,
danke für diesen wunderbaren Post. Wie gewohnt gut & genüsslich zu lesen … wenn da nicht dieses kleine, fiese, offene Loch wäre, das dissonant schief im Bild hängt und die ganze Symmetrie stört. Die Rede ist von den Fragen des 21. Jahrhunderts.
Die Neue Musik gibt mit Sicherheit viele unbequeme Antworten auf unbequeme und vielleicht auch unschöne Fragen des 21. Jahrhunderts und das ist gut so. Nur: muss es denn immer um unbequem und „aushalten“ gehen? Also, immer? Du schreibst, Zitat: „Aber wer diese Antworten nicht aushält, interessiert sich auch nicht wirklich für das Lebendige, sondern für das Tote.“ Musste man einen Bach, Mozart oder Beethoven als Antwort Ihrer Zeit auf das 17. bis 19. Jahrhundert „aushalten“? Ich glaube kaum. Sie gaben schöne und „aushaltbare“ Antworten auf Ihre Zeit und Epoche. Die (schönen) Antworten, die man nicht aushalten braucht, sind ebenso lebendige Antworten wie die schwer aushaltbaren weil Sie schlicht in unserer Zeit von lebenden und lebendigen Komponisten ausgesprochen werden.
Ein Bezugssystem und damit die Tonalität, die wir alle bis heute mit der Muttermilch aufsaugen bzw. aufgesaugt haben, spielt dabei eine entscheidende Rolle, welches in der Neuen Musik nicht nur fast ausgestorben sondern qua Emanzipation der Dissonanz ausgelöscht wurde. Was für ein Gewaltakt! Echt üble Motherfuckerscheisse! Kann man nicht einfach mal erweitern statt zerstören? Wäre mal echt nett. Vielleicht liegt das am 2. Weltkrieg, vielleicht auch nicht. Das müssen die Historiker und Musikwissenschaftler beantworten.
Die Kunstmusik ist insbesondere in der Postmoderne frei. Frei! Sie wählt selbst ob Sie tonal, freitonal oder atonal sein will. Und das ist ein sehr großer Schatz. Die Neue Musik als Kunstmusik im Speziellen ist mittlerweile alt geworden, kann nur mit Mühe und Ächzen gerade stehen und krankt. Unter anderem an einer Atonalitätsneurose. Und das ist sehr traurig. Dafür gibt’s nämlich keine Pillen.
Ich stelle mir das so vor: sie würde sich gern weiter um sich selbst drehen, ist jedoch bettlägerig. Sie lässt sich von nahen Verwandten und dem Sozialsystem versorgen. Niemand kommt Sie besuchen, weil Sie nie das gemacht hat, was andere glücklich gemacht hätte. Sie hat viel gedacht in Ihrem Leben: an sich selbst. Sie lebt und man könnte mit Ihr sprechen, aber irgendwie will keiner. Bis auf die nahen Verwandten, die Sie nach den vielen, vielen Jahren und mit viel Mühe und Geduld verstehen gelernt haben. Die wissen, wie Sie tickt. Die sie lieben, wie Sie ist. Verschroben. Kompliziert. Unbequem. Und die um sie trauern werden, wenn Sie stirbt. Nur wird Sie niemanden zum Kuscheln haben. Sie wird verbrannt und Ihre Urne an irgeneinem Baum begraben werden. Auf dass Sie Nahrung für diesen wunderschönen, lebendigen Baum wird, in den Sie als toter Staub hineinwachsen wird!
Ich will nicht, dass Sie stirbt. Wir wollen nicht, dass Sie stirbt. Das wird Sie auch nicht. Die 5% der 5% der 5% der Neuen Musik werden überleben! Tätärätäääää!
Ich denke nicht, dass die old-fashioned Fraktion „ach-es-sollte-doch-immer-so-bleiben-wie-es-ist“ das tatsächlich genau so denkt. Ich denke, dass Sie sich inständig Musik unserer Zeit wünscht, ja förmlich danach lechzt, die man nicht permanent „aushalten“ muss. Wie im übertragenen Sinne und zu IHRER Zeit Bach oder Mozart oder Beethoven. Wie heißt es so schön: Totgesagte leben länger.
Man muss ja nicht immer gleich Bach, Mozart und Beethoven bemühen, um die eigenen Bemühungen zu rechtfertigen, lieber Markus W. Kropp, und es reicht auch nicht, auf den Wogen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und des ganzen Pop- oder Was-auch-immer-Stroms zu schwimmen und zu rufen: „Schaut her, ich tauche auf aus dem Urgrund der Tonalität und bin doch mein eigener Zeitgenosse, warum nicht Deiner?“
Es ging mir nicht darum auf irgendwelchen alten Wellen und Wogen zu schwimmen. Das wäre keine Antwort auf das 21. Jahrhundert. Es ging mir unter anderem um das Thema „aushalten“ und habe die alten großen Meister für einen Vergleich (Vergleich, nicht Lösung!) herangezogen – was die Hörerschaft zu dieser Zeit eben aushalten mussten. Nämlich nicht viel. Was nicht heißen soll, dass man als heutiger Zuhörer in unserer Zeit nicht auch mal was aushalten sollte – das gehört für mich fest (!) dazu, sehe ich eben nur in seiner Fast-Ausschließlichkeit als zu unvollständig an. Da möchte ich doch richtig verstanden werden. Außerdem wüsste ich nicht, wo ich mich auf Pop oder Ähnliches in meinem Kommentar bezogen hätte.
Das, was ich dargestellt habe ist, dass die Neue Musik nun nicht gerade ein Tonalitätsfreund ist. Gleichzeitig habe ich versucht deutlich zu machen wie sehr ich die Neue Musik als Antwort auf das 21. Jahrhunderts verstehe und wie richtig diese Antwort ist. Und, dass ich die Tonalität gern als Erweiterung der Neuen Musik sähe, nicht als Ersatz.
Was meine eigene Musik angeht muss ich gar nichts rechtfertigen. Wie gesagt, die Musik ist frei, so auch meine. Ich werde Sie einfach spielen. Und vielleicht auch spielen lassen. Oder eben auch nicht. God knows.