Schwabinger Dreiklang: Gurlitt, Pique Dame und Wozzeck

„Kinder, macht Neues! Neues! und abermals Neues!“ Diese Worte Richard Wagners aus einem Brief an Franz Liszt im Jahre 1852 hängt wie eine Dunstglocke über der Kunstmusik der nachfolgenden Generationen. Wandte sich Wagner damit selbst gegen fortwährende Neubearbeitungen eigener Werke, wurde dieser Satz später makro- wie mikrologisch gegen jegliche Form von Wiederholung eingesetzt, vielleicht floss er sogar in das Urheberrecht ein: heute ist jedes Kunstwerk geschützt und darf nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Autors oder seiner Erben im Metier dieses Autors benutzt und verändert werden, es sei denn man schafft daraus ein vollkommen eigenständiges Werk, was aber erst einmal schwer nachzuweisen ist. Weiter etablierte sich das lange Zeit gültige Wiederholungsverbot von Ton- Rhythmusfolgen im Ablauf eines avantgardistischen Werkes. Und zu guter Letzt veränderte sich grundlegend die Opernpraxis: statt gleiche oder ähnliche Stoffe und ihre Libretti immer wieder dramaturgisch und musikalisch neu zu bearbeiten, sollte ein einmal zu einer Oper verarbeitetes Sujet möglichst nicht mehr neu komponiert werden. Selbst in Bezug auf die alte Vorgehensweise spricht man heute nur noch von „dem Julius Cäsar“, „der Semele“ und meint die Stoffbearbeitungen von Händel, „dem Don Giovanni“ und meint Mozart, „der La Boheme“ und meint Puccini. Und wischt alle weiteren Herangehensweisen unter den Tisch. Als einzige Möglichkeit an öffentlichen Opernhäusern lebendig mit den Musiktheaterstoffen umzugehen, bleibt die szenische Bearbeitung, also die jeweilige Neuinszenierung.

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Abweichungen davon erlaubt heute am ehesten das Arbeiten in der Freien Szene. Hier kann auch in die musikalische Substanz eingegriffen werden, nicht nur Rezitative neu komponiert werden, wie es z.B. Manfred Trojahn mit den Süssmayrschen in Mozarts „La Clemenza di Tito“ machen durfte oder Opernfragmente vollendet werden, wie es Friedrich Cerha mit Alban Bergs „Lulu“ unternahm oder Luciano Berio mit Giacomo Puccinis „Turandot“. In der Freien Szene wird entweder die Instrumentation reduziert oder es bleibt nur in Bruchstücken das musikalische Substrat erhalten. So erging es die Tage Peter Tschaikowsky „Pique Dame“, welche die wunderbare Regisseurin Kristina Wuss in eine kleinere „Pique Dame Schwabing“ verwandelte. Hätte man vor ein paar Jahren so etwas noch missmutig betrachtet, sei es wegen der generellen Neuverarbeitung oder sei es mit der Beschäftigung mit Schwabing, welches vor zehn Jahren noch in Augen vieler Einheimischer des Prenzlauer Berges dorthin implantiert wurde und nun weniger ein Schwabing denn eine Schwabenstadt ist, so ist es heute ein diebisches Vergnügen. Ich durfte in diesem Mosaik mit kleinen Beigaben dabei sein und den Bogen von Anno dazumal bis heute die besagten „Tri Karti“ der ursprünglichen Oper neu durch das ehemalige exemplarische Künstlerviertel geisterhaft aufmischen. Das brachte mich naturgemäß auf Cornelius Gurlitt, jener ältere Herr aus Schwabing, der jahrzehntelang nicht so Recht wusste, was er mit den mehr als tausend geerbten Bilder tun sollte, die er in seiner Wohnung sowie in einer Hütte in Salzburg hortete, wohlwissend, dass das Gros dieser Gemälde moralisch wie rechtlich nicht ganz einwandfrei während der Nazizeit in die Hände seines Vaters gekommen ist.

Cornelius Gurlitt ist über seinen Vater Hildebrand übrigens Grossneffe des Komponisten Manfred Gurlitt. Wobei dieser Manfred Zeit seines Lebens davon ausging, kein Gurlitt sondern der Sohn des Geschäftsführers seines nominellen Vaters zu sein. Damit schliesst sich wieder der Kreis mit Richard Wagner, der es schaffte, sich von seinem zeitweise nominellen Vater Ludwig Geyer abzusetzen. Im Falle Manfred Gurlitts gelang es diesem nicht, sich als Sohn von Willi Waldecker naturalisieren zu lassen. So wie es ihm auch nicht gelang als Komponist „des Wozzecks“ und „der Soldaten“ anerkannt zu werden: Alban Bergs Wozzeck wurde nur ein paar Monate zuvor in der gleichen Spielzeit 1925/26 uraufgeführt, die Soldaten Zimmermanns machen sich gerade immer breiter in den Spielplänen, derweil man von Gurlitts Soldaten fast nichts weiß. Obwohl er sich eben nicht als Mitglied des Hauses Gurlitts ansah, teilte er doch mit diesem ein janusköpfiges Verhältnis zum Dritten Reich: Hildebrand Gurlitt konnte trotz seiner jüdischen Familie besonders moderne Kunst aus den Beständen jüdischer Exilierter oder sogar Deportierter erwerben und trotz dieses Erwerbs-Hautgouts auch retten. Manfred Gurlitt trat sich als arischer Sohn Waldeckers ausgebend in die NSDAP und wurde 1937 per Gerichtsbeschluss doch jüdischer Abstammung zu sein wieder herausgeworfen und ging dann nach Japan, wo er bis zu seinem Tode 1972 das Opernleben prägte.

Das Faszinierende an ihm als Komponist ist, dass er in der heissen Phase seiner Opernproduktionen mit herausragenden Librettisten wie Max Brod zusammenarbeitete oder selbst ein Jascha Horenstein sich seiner Musik annahm. Oder eben die unglaublichen Texte von Büchner und Lenz in Angriff nahm. So ist es ein wundersames Zuhören, wenn man seinen Wozzeck mit dem gleichen „Jawohl, Herr Hauptmann“ beginnend hört wie die geläufige Alban-Berg-Version. Man weiß ja, dass Berg bereits um 1915 mit der Skizzierung seiner Oper begann. Gurlitt startete wohl später. So ist der Duktus seiner Musik auch weniger spätromantisch als zynisch-neoklassisch, wie es Mitte der Zwanziger Jahre zwischen Weill und Hindemith erklang. Ist sein Wozzeck gar „moderner“ im Sound? Auch er hat die harten Schnitte zwischen den raschen Szenenabfolgen. Beim Durchhören fällt letztlich ins Gewicht, dass Berg trotz seiner romantischeren Schwerpunkte diese bunter mit sogenanntem Atonalen und beinahe schon dodekaphon strukturell geprägten Momenten durchsetzt und schlichtweg abwechslungsreicher als Gurlitt komponierte. Was wiederum bedeutet: nicht die Modernität Bergs, sondern seine Dramaturgie als solches macht sein Kunstwerk zum Unikat. Womit sich Richard Wagners Ausspruch des Immer-Neuen bzw. seine spätere Umdeutung von heute aus betrachtet als genauso altbacken wie die Musik Gurlitts erweist. Ob dann Neubearbeitungen von Gurlitts weiteren Stoffen wie Nana nach Zola, Die Heilige nach Carl Hauptmann, Seguidilla Bolero nach Paul Knudsen oder Nordische Ballade nach Selma Lagerlöf eine Zukunft haben, kann man bezweifeln oder ausprobieren.

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