Lars von Triers “Dogma”, angewendet auf Musik von heute (4)

Heute beschäftigen wir uns abschließend mit den Regeln 6,7,9 und 10 (den verbliebenen Dogma 95-Regeln des Manifestes von Lars von Trier und seinen dänischen Filmkollegen) und ihrer Übertragung auf zeitgenössische Musik.

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6. Der Film darf keine Waffengewalt oder Morde zeigen.

7. Zeitliche oder lokale Verfremdung ist verboten – d. h. der Film spielt hier und jetzt (also nicht etwa im Mittelalter oder in einer entfernten Zukunft oder in einem anderen als dem Produktionsland, auf einem fremden Planeten, in einer fremden Dimension o. Ä.).

9. Das Filmformat muss Academy 35 mm sein.

10. Der Regisseur darf weder im Vor- noch im Abspann erwähnt werden.

 

Konzerte zeitgenössischer Musik sind selten Gelegenheiten, bei denen Gewalt an Menschen zelebriert wird (wobei man einwenden könnte, dass gelegentlich die Hörer schon ziemlich gefoltert werden). Lars von Trier selber hat in den Filmen vor „Idioten“ (seinem ersten und einzigen Dogma-Film) durchaus extreme Gewalt thematisiert, so zum Beispiel in der genialen Horrorkomödie „Kingdom – Hospital der Geister“ oder in seinem ersten Film, dem SF-Krimi „Element of Crime“. Interessanterweise ist die Gewaltdarstellung in seinen Filmen nach seiner Abkehr von den „Dogma“-Regeln eher sogar noch krasser geworden – so verließ manch Zuschauer bei den diversen sexuellen Selbstverstümmelungen von „Antichrist“ entrüstet das Kino.

Aber worum geht es ihm? Natürlich sind Schießereien, Verfolgungsjagden, Prügeleien, explodierende Köpfe und Körper heutzutage fast schon Pflicht in bestimmten Genres und haben inzwischen schon fast etwas ordinäres und gewöhnliches bekommen. Wenn man dagegen eine Szene wie die berühmte Duschszene von Hitchcocks „Psycho“ genau analysiert, wird man feststellen, dass tatsächlich ein Großteil der Gewalt im Kopf des Zuschauers entsteht und gar nicht gezeigt wird –man sieht zum Beispiel nie das Eindringen des Messers in den Körper von Janet Leigh, auch wenn dies nachher viele Zuschauer schwören würden. Heute dagegen würde die Kamera voll drauf halten, und das typische Genre-Publikum würde genüsslich goutieren, wie möglichst realistisch das Blut spritzt.

Gewalt in Filmen ist also oft zu einer Art Gimmick, Spezialeffekt verkommen – der Zuschauer wird, bevor er eventuell ob der papierenen Charaktere und hanebüchenen Handlung hinwegdämmert, schnell mit ein paar schnellen Schocks aufgeweckt. Ähnliches erlebt man in manchem Neue Musik – Konzert: die Komposition ist zum Brechen langweilig und öd, aber der Komponist sitzt angeberisch in seiner A2-Partitur blätternd vor einem Mischpult und steuert irgendwelche Surroundlautsprecher an, während die Musiker vor gigantischen Notenblättern sitzen und komplexe Doppelgriffe, „Effekte“und immer gleich beschissen klingende Multiphonics erzeugen, die aber jeweils seitenweise kompliziert erklärt werden und mit ausführlichen Grifftabellen auf 4 Systemen notiert sind. Das ist inzwischen so gang und gäbe wie eine Autoverfolgungsjagd in einem Agentenfilm –will sagen: die Erfüllung des Genres „Neue Musik“ steht im Vordergrund.

Auch die Dogma-Regel 7 lehnt im weitesten Sinne „Spezialeffekte“ oder angeberische Ablenkungen ab, zu denen im Film sicherlich die Tatsache gehört, dass zum Beispiel bei einem Science Fiction – Film oft die CGI-Effekte (die inzwischen immer gleich aussehen, weil mit denselben, schon fast genormten Computerprogrammen erzeugt) wichtiger sind als um was es eigentlich geht.

Spezielle Spieltechniken sind inzwischen fast schon so etwas wie ein „Doppelter Rittberger“ der Neue-Musik-Dressur. Kommt ein Stück für Ensemble mit Klavier, weiß ich schon im vornherein, dass irgendwann der Pianist aufstehen wird, um irgendwas im Flügel rumzukruschteln (was meistens auf sehr unbeholfene Weise geschieht, je nach Erfahrungsgrad des Ensembles). Das mag alles die besten Absichten haben, aber die vollkommene Vorhersehbarkeit dieses Vorgangs in 99% aller Uraufführungen lässt einen schon die Frage stellen, inwieweit eine besondere Spieltechnik überhaupt noch etwas „besonderes“ ist, wenn sie alle 5 Sekunden verwendet wird. Bei Schönbergs „Erwartung“ staunte noch das Publikum über das Papier zwischen den Saiten der Harfe, inzwischen ist das so unglaublich gewöhnlich geworden, dass es gar nicht mehr den Effekt erzielt, den Schönberg damit noch erreichen konnte, nämlich einen Schock durch das Heraustreten aus dem Gewöhnlichen zu erzeugen.  Heute ist also das Ungewöhnliche gewöhnlich geworden.

Dazu gehört auch interessanterweise das Heraustreten aus dem Format, das die von Komponisten gerne verwendeten Riesenpartituren (a.k.a.: „Kindersärge“) als „Protzformat“ etabliert haben. Das findet sein Äquivalent in Dogma 95 – Regel 9, denn „Academy 35 mm“ ist ein vollkommen durchschnittliches Filmformat – weder komplett Breitwand noch zu klein, d.h. das Format tritt hinter sich selbst zurück, da das Filmformat nicht das Thema des Films ist (noch heute werden manche Filme allein über das Formatgimmick verkauft: 3D, Sensurround, Dolby Surround Digital, etc.).

All diese Dinge –die Anwesenheit des Komponisten als Mischpultgott, die Verwendung von Spieltechniken und der Kult um außergewöhnliche Partiturformate sind letztlich nur eines: Pose ohne Inhalt. Und um die Vermeidung einer solchen könnte es gehen, wenn man die Dogmaregeln 6,7 und 9 so umformuliert:

6. Die Komposition verzichtet auf alle „außergewöhnlichen“ Elemente, deren populäre Verwendung den Status des „Außergewöhnlichen“ schon längst negiert hat.

7. Auf die Verwendung fortgeschrittener Spieltechniken wird wo es nur geht verzichtet.

8. Keine Fetischisierung des Notenmaterials – die Noten sind in normalem Format und sind vom Zuschauer am besten nicht zu sehen.

Dogma 95  – Regel Nummer 10 (keine Erwähnung des Regisseurs im Vor-und Nachspann) schließlich ist ganz klar eine weitere Kampfansage gegen die Eitelkeiten des (Film)betriebs.

Wenn vor einem Film die Textzeile „Ein Steven Spielberg – Film“ kommt, verschleiert dies die Tatsache, dass es sich hier höchstwahrscheinlich um keinen Autorenfilm handelt, sondern um die Arbeit von ca. 5000 Menschen, die Herr Spielberg bei allem Respekt vor seinem Können höchstwahrscheinlich noch nicht einmal selber koordiniert, geschweige denn alle Mitarbeiter persönlich kennengelernt hat.

Natürlich könnte man nun in Neue-Musik-Konzerten auch dazu übergehen, den Komponisten nicht zu nennen (auf jeden Fall eine interessante Idee, die öfter versucht werden sollte, vor allem in Programmen, die Werke „etablierter“ Meister und die von noch unbekannten Komponisten bunt mischt – da gäbe es manche Überraschung!). Nur sind Kompositionen selten so komplexe Konglomerate wie Filme sondern schon eher Einzelleistungen, wobei es uns Komponisten schon ansteht, die Leistung der Interpreten größtmöglich zu würdigen.

Nein, Spielfeld der Eitelkeiten ist normalerweise das Programmheft. Dort breiten Dramaturgen wie Komponisten gerne aus, wie wahnsinnig gescheit sie sind und was sie sich alles Tolles bei einem Auftrag bzw. Komposition gedacht haben.  Diese Texte sind natürlich oft willkommen, wenn man sich beim Hören mal langweilt, letztlich sind sie aber nicht relevanter für das Kunsterlebnis als die Extras auf einer Film-DVD. Die sind interessant, wenn man den Film wirklich liebt und alles über die Hintergründe seiner Entstehung wissen will, man darf diese Extras aber nie mit dem Film selber verwechseln, um den es ja geht.

Es steht also jedem Komponisten frei, sich in aller Breite über seine Komposition zu äußern, aber dazu wäre ja zum Beispiel eine Webseite da, auf die man im Programmheft statt eines Einführungstextes hinweisen kann. Oder ein musikwissenschaftlicher Text, der unabhängig erhältlich ist.

Wenn aber ein Text notwendig ist, um auch nur ansatzweise einen Zugang zu einem Stück zu bekommen, dann hat dieser Text in einem externen „Extra“ wie einem Programmheft nichts zu suchen, sondern sollte Bestandteil des Stückes selbe sein. Leider wäre das nur in den wenigsten Fällen wirklich interessant.

Die letzte Dogma-95-Regel lautete also, auf Neue Musik übertragen, ganz simpel:

10. Keine Programmhefttexte.

Eine Regel, an die sich lustigerweise Wolfgang Rihm schon ziemlich lange hält.

Moritz Eggert