Lars van Triers “Dogma”, angewendet auf Musik von heute (1)

Im Jahre 1995 veröffentlichten Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Kristian Levring und Søren Kragh-Jacobsen das “Dogma”-Manifest für ein neues Kino, eine Mischung aus PR-Stunt und spielerischem Umgang mit der Idee eines “Kunstmanifestes” in der Tradition von z.B. Dada oder Futurismus.

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Über Sinn und Unsinn dieser Aktion ist schon viel geschrieben worden – Tatsache ist, dass in der Folge einige bemerkenswerte Filme entstanden (“Idioten”, “Das Fest”) und sich die Erfinder des “Dogma 95″ sehr schnell von ihren eigenen sehr strengen Regeln abwandten (Wobei von Trier nach wie vor in jedem Film strenge Limitationen und Aufgaben sucht, ganz im Sinne von Strawinsky und seinen herbeigesehnten “Wänden”, die ihn erst zum Komponieren anregten).

Versteckt in den 10 simplen Regeln des Dogmas sind aber Wahrheiten, die durchaus auch als Kritik am damaligen (und heutigem) Kino verstanden werden können, ebenso wie das Aufkommen des Autorenfilms auch eine Kritik an den vorherrschenden 50er-Jahre-Kitschschmonzetten des Deutschen Kinos war. Dogma ist die Antwort auf einen Mißstand, mit den Mitteln der Übertreibung und ironischen Selbstgeißelung.

Schon seit einiger Zeit treibt mich die Idee um, ein “Dogma” für das Komponieren heute zu entwickeln und somit Dinge zu benennen, die man vermeiden sollte, will man nicht in die “Neue-Musik-Falle” tappen, mit der im Moment niemand mehr zu tun haben will. Es ist immer leichter zu benennen, was man NICHT will, gerade, wenn man auf der Suche ist.

Als Gedankenexperiment könnte man damit beginnen, die dänischen Dogma-Regeln möglichst 1 zu 1 auf Musik zu übertragen. Natürlich scheint das erst einmal unbefriedigend, da es sich hier um zwei völlig verschiedene Medien handelt. Andererseits ist es auch erstaunlich, wie viele Parallelen man entdecken kann, weil die aufgestellten Regeln versteckt auch Probleme in der Kunst an sich behandeln.

Hier also die Originalregeln des Film – “Dogmas” von 1995:

1. Als Drehorte kommen ausschließlich Originalschauplätze in Frage, Requisiten dürfen nicht herbeigeschafft werden.
2. Musik kann im Film vorkommen (zum Beispiel als Spiel einer Band), darf aber nicht nachträglich eingespielt werden.
3. Zur Aufnahme dürfen ausschließlich Handkameras verwendet werden.
4. Die Aufnahme erfolgt in Farbe, künstliche Beleuchtung ist nicht akzeptabel.
5. Spezialeffekte und Filter sind verboten.
6. Der Film darf keine Waffengewalt oder Morde zeigen.
7. Zeitliche oder lokale Verfremdung ist verboten – d. h. der Film spielt hier und jetzt (also nicht etwa im Mittelalter oder in einer entfernten Zukunft oder in einem anderen als dem Produktionsland, auf einem fremden Planeten, in einer fremden Dimension o. Ä.).
8. Es darf sich um keinen Genrefilm handeln.
9. Das Filmformat muss Academy 35 mm sein.
10. Der Regisseur darf weder im Vor- noch im Abspann erwähnt werden.

Im folgenden möchte ich mir einen nach dem anderen dieser obigen Sätze vornehmen und ihn für Musik uminterpretieren. Vielleicht ließe sich dann daraus so etwas wie eine kompositorische “Ethik” entwickeln, die meiner Ansicht nach momentan fehlt. Natürlich mit ganz anderen Regeln.

In meinem letzten Blogartikel hatte ich von meinem “Festhängen” an einem bestimmten Wort im Schlussatz des Artikels “Hiermit trete ich aus der Neuen Musik aus” von Michael Rebhahn gesprochen. Das Wort war “Genre”.

Hier noch einmal der Satz:

“Sollte die latente Bereitschaft junger Komponisten, aus der Neuen Musik “austreten” zu wollen, keine bloße Modeerscheinung sein, wird eine der dringlichsten Aufgaben des Genres in nächster Zukunft sein, inwieweit die vermeintlich exotische Tätigkeit des Komponierens ihre Funktion im Diesseits legitimieren kann”.

Als ich dies las und an die Regeln von “Dogma 95″ dachte, wurde mir sofort das eigentliche Problem der Neuen Musik klar. Auch Rebhahn spricht von Neuer Musik als einem “Genre”, und genau das ist das Problem, dass “Dogma 95″ in Regel Nummer 8 benennt:

“Es darf sich um keinen Genrefilm handeln”

In dieser simplen Forderung steckt sehr viel Wahrheit. Wer das “Genre” bedient, engt sich ein, macht sich klein, zieht sich Bleischuhe an. Ein Genre bestätigt sich selbst – irgendwann ist selbst das tollste Genre ein Verwursten immer der selben Themenkomplexe, immer der selben Klischees. Wer kann heutzutage noch Zombies oder Vampire (einst Ausdruck eines wilden Unbehagens im Horrorfilm) überhaupt noch sehen, geschweige denn irgendwie beeindruckend finden? Dass Horden von Teenies sich die öden “Twilight”-Spießerfilme anschauen ist kein Gegenbeweis sondern Beweis, man ist im Gewöhnlichen, Alltäglichen angekommen, was jeglichen Schrecken und jegliches Erschauern endgültig ausgetrieben hat. Zombies und Vampire ziehen ihre Energie daraus, ungewöhnlich, außerhalb der Konventionen zu sein. Wenn sie gewöhnlich geworden sind, fällt dies weg.

Woher das Mißtrauen dem Begriff “Genre” gegenüber beim Film kommt, ist klar. Ein Western ist ein Western. Ein Science-Fiction Film ist ein Science-Fiction-Film. Ein Krimi ist ein Krimi. Das ist schön, aber nicht genug, auf Dauer so künstlerisch unbefriedigend wie Fließbandarbeit.
Sofort wird beim Publikum eine bestimmte Erwartungshaltung erzeugt. Der Genrefilm muss diese Erwartungen erfüllen, ansonsten wird er als unzufriedenstellend empfunden (ein Krimi ohne Verbrechen? Ein Horrorfilm ohne Gruseln?). Und noch wichtiger: jedes Genre hat seine Zeit. So ist zum Beispiel das Slapstick-Genre der frühen Stummfilme sicherlich ein Ding der Vergangenheit. Und wenn man es genau nimmt – die besten Filme daraus waren immer Grenzüberschreitungen in Richtung Kunst: Chaplin, Keaton. Auch der Western als Symbol für den amerikanischen Traum hat in unserer eher zynischen Zeit so gelitten, dass er als Genre (Ausnahmen bestätigen die Regel) nicht mehr lebendig ist, sondern ein Western heute sofort wie ein Zitat, ein postmoderner Kommentar wirkt.

Jedes Genre hat seine eigenen Fans, die sich oft ausschließlich und autistisch mit diesem einen Genre beschäftigen. Eine Genre-Subkultur entsteht, die sich als eigene Welt mit eigenen Regeln begreift und oft relativ mißtrauisch allen Veränderungen gegenübersteht. Beim Fantasy-Filmfest kann man jedes Jahr aufs Neue erleben, wie bestimmte Topoi des Splatterfilms (explodierende Köpfe, skurrile Todesarten, grausame Folterszenen) von Filmen quasi “abgehakt” werden müssen, bei gleichzeitigem Applaus des “Szenepublikums”. Gruseln tut sich dabei schon lange keiner mehr.

Als Filmregisseur Genres zu bedienen ist immer eine sehr heikle Geschichte. Die wirklich großen Filmklassiker (man denke an “Citizen Kane” oder “Panzerkreuzer Potemkin”) sind ganz schwer einem Genre zuzuordnen, ja stehen eigentlich sogar zwischen allen Genres. Dann gibt es die Regisseure, die zwar oberflächlich betrachtet von einem Genre ausgehen, dieses aber subversiv in etwas vollkommen anderes überführen. So gleicht Kubricks “2001″ keinem einzigen Science-Fiction-Film vorher oder nachher, und Hitchcocks “Psycho” (Krimi? Horrorfilm?) keinem einzigen Genrefilm seiner Zeit. Dass dies sehr bewusst geschah, wird zum Beispiel in den Interviews die der intellektuelle Autorenfilmer Francois Truffaut mit Hitchcock führte, sehr deutlich. Truffauts einziger eigener “Genre”-Film, “Fahrenheit 451″, ist folgerichtig auch alles andere als ein typischer Science-Fiction-Film, eher philosophische Parabel (mit toller Musik von Bernard Herrmann, aus einer Zeit, wo Filmmusik noch als künstlerische Aufgabe, nicht als “Handwerk” begriffen wurde).

Die Entscheidung, ein Genre zu bedienen, ist auf jeden Fall eher eine Entscheidung dafür, etwas “abzuliefern” – also den Geschmack des Genre-Publikums zu bedienen. Man mag das intellektuell auf alle möglichen Weisen verbrämen, aber dieses “Abliefern” ist in der Neuen Musik letztlich genauso künstlerisch wertvoll oder relevant wie das Abliefern eines Malle-Ballermann-hits, denn auch der erfüllt die Notwendigkeit eines Subgenres.

Und das ist das Problem mit der Neuen Musik: sie ist eben nicht mehr “Musik” sondern ganz spezifisch “Neue Musik” mit großem “N”. Und deswegen können wir das alle nicht mehr hören – sie hat sich zu einem Subgenre gemacht, genauso wie Country, Hip-Hop oder Ska Genres sind (und sicherlich auch ihre Meriten haben). Ich würde sogar so weit gehen, dass ein typisches abgeliefertes “Neue Musik”-Stück weder gewagter, künstlerischer, zukunftsweisender, individueller, tiefgründiger noch origineller ist als irgendein x-beliebiger Schlager von der Stange. Dass darum mehr Worte gemacht werden und man sich “besser” fühlt – geschenkt. Aber ist es wirklich bedeutender? Beides wurde einfach nur “abgeliefert”, es ist Kunsthandwerk.

Genre ist Genre – der Vorteil ist, dass es eine bestimmte Klientel gebt, die bei Erfüllung der Genreregelen ein Werk als “zugehörig” empfinden, was aber dann auch nur für die Fans dieses Genres von Belang ist. Im Falle Neuer Musik sind das dann die üblichen Aufführungsorte durch die üblichen Ensembles, gefördert von den üblichen Stiftungen, gespielt vor dem üblichen Genrepublikum und den Genrekritikern. Nicht etwa, dass sich ein Popkritiker mal in ein Neue-Musik-Konzert verirrt! Die Musik (eine bestimmte Grundkomplexität und “Sperrigkeit” wird vorausgesetzt) und die Darbietung folgen dann Regeln, die das Genre “Neue Musik” recht klar definiert, und die dann auch nicht so viel freier oder revolutionärer sind als z.B. die Genreregeln irgendeiner anderen Genremusik, dazu gehören natürlich schlaue Programmhefttexte, immer gleiche Künstlerbiographien, und auch bestimmte Topoi, die einfach bedient werden müssen, eine bestimmte KLanglichkeit und Tonsprache, wir wissen alle, wovon ich spreche…

Dass dieses Dasein als Genre inzwischen auf das “Muttergenre” der Neuen Musik, also “klassischer Musik” übergegriffen hat, ist dabei besonders traurig. Was der gängige Hörer heute als “Genre: klassische Musik” im Kopf speichert, ist ja ein wildes Konglomerat aus den unterschiedlichsten Arten, Musik zu machen, Musik zu denken, mit unglaublich unterschiedlichen Voraussetzungen und gesellschaftlich-historischen Kontexten. Man kann Musikgeschichte nicht in ein Genre packen, genauso wenig wie Literaturgeschichte oder Kunstgeschichte.

Bis zum zweiten Weltkrieg war neue Musik einfach nur “Musik von heute”. Kontrovers diskutiert vielleicht, aber stets relevante, aktuelle Musik. Irgendwann danach begann die schleichende Umwandlung in ein Subgenre der klassischen Musik (und die Gründe dafür sind auch aus gesellschaftlichen Veränderungen heraus zu begreifen, klar) und damit der Beginn eines Abstiegs in die zunehmende Bedeutungslosigkeit, egal wie viele Worthülsen dafür aufgewendet werden, wie “gewagt” und “experimentell” doch alles ist. Aber ein Experiment, bei dem man das Ergebnis schon kennt, ist kein echtes Experiment. Mit der Verwandlung in ein Genre ist die Neue Musik uninteressant geworden. Überall dort, wo dieses Genre eilfertig erfüllt wird zumindest, und das ist leider meistens der Fall.

Wie in jedem Genre kann es natürlich herausragende Werke geben, aber letztlich entstanden daraus vor allem neue Subgenres: Spektralmusik, Minimal Music, Serielle Musik, usw.. Kein Ausweg also.

Eine Ethik des Komponierens von heute beginnt also mit einem ganz einfachen, direkt von “Dogma 95″ hergeleiteten Satz:

“Es darf sich um keine Genremusik handeln”.

Das wäre schon mal ein guter Anfang.

Moritz Eggert

Vampire,

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4 Antworten

  1. Hi Moritz,

    super Text! Habe hier mal versucht, die restlichen 9 Dogmata in den „Neue Musik“-Kontext zu übersetzen. Hat Riesen-Spaß gemacht und schien mir gar nicht so schwer zu sein:

    1. Als Drehorte kommen ausschließlich Originalschauplätze in Frage, Requisiten dürfen nicht herbeigeschafft werden. Die Musik muss auf konventionellen Instrumenten ohne besondere Hilfsmittel spielbar sein.
    2. Musik kann im Film vorkommen, darf aber nicht nachträglich eingespielt werden. Außermusikalische Medien (z. B. Video, Performance etc.) dürfen nicht verwendet werden.
    3. Zur Aufnahme dürfen ausschließlich Handkameras verwendet werden. Die Musik muss mit überschaubarem Aufwand live aufführbar sein.
    4. Die Aufnahme erfolgt in Farbe, künstliche Beleuchtung ist nicht akzeptabel. Die Verwendung von Live-Elektronik ist nicht zulässig.
    5. Spezialeffekte und Filter sind verboten. Eweiterte Spieltechniken sind untersagt.
    6. Der Film darf keine Waffengewalt oder Morde zeigen. Allgemeiner Kulturpessimismus als einziges ästhetisches Anliegen des Komponisten reicht nicht aus.
    7. Zeitliche oder lokale Verfremdung ist verboten – der Film spielt hier und jetzt. Der bewusste Bezug auf oder das ironische Zitieren von historischen Musikstilen ist unzulässig.
    8. Es darf sich um keinen Genrefilm handeln. Es darf nicht klingen wie „Neue Musik“ (wie von dir bereits oben skizziert).
    9. Das Filmformat muss Academy 35 mm sein. Die Partitur sollte mit einem handelsüblichen Notensatzprogramm erstellt worden sein.
    10. Der Regisseur darf weder im Vor- noch im Abspann erwähnt werden. Es ist der Komponistin untersagt, sich interpretierend zu ihrer Komposition zu äußern.

    Na denn mal los. Kollegen ;-)

    S. Hetzel

  2. Alexander Strauch sagt:

    @ hetzel: unterschreib‘ ich und verstosse sogleich gerne dagegen, dann bleibt’s kontrovers!

  3. Liu Xueyang in Urlaub sagt:

    Hallo…ich habe die Nutzungsbedingungen studiert, die Pluralform von „Dogma“ im Wörterbuch gesucht, und möchte meine Lieblingsdogmen(?) hier einfügen:

    •Verwendung von verschiedenen Schriftarten und Farben
    •Verwendung verschiedener Helligkeitsstufen
    •Keine horizontal ausgerichteten Texte
    •Benutzung von Groß- und Kleinschreibung
    •Benutzung von Texten, die in keinem Wörterbuch zu finden sind
    •Darstellung von sich überschneiden-den Buchstaben
    •Benutzung einer zufällig generierten Anzahl von Buchstaben
    •Verwendung von geneigten, rotierten und verzer rten Buchstaben
    •Farbverläufe für den Hintergrund und die Buchstaben
    •Gitternetze in der Schriftfarbe der Buchstaben
    •Einige Buchstaben heller als der Hintergrund, andere dunkler

    (Quelle)
    :-}

  1. 18. September 2012

    „Neue Musik“, freie Genrewahl und die „gehaltsästhetische Wende“…

    Aktuell läuft im BadBlog die Diskussion darüber, wie die Dogma-Film-Regeln in der „Neuen Musik“ aussehen könnten. Erst mal ist es ja kurios, dass ausgerechnet da, wo sonst so oft starre Dogmen (Darmstadt!!!) moniert werden, man sich nun der Dogmen erfr…