Seltsame Blüten der Internetkultur (2): Youtubesymphonien

Vielleicht erinnert sich noch jemand: etwas mehr als 3 Jahre ist es her, da wurde in der Carnegie-Hall in New York die „Internet Symphony Eroica“ von Tan Dun uraufgeführt, als Auftragswerk von youtube und Premiere des „youtube symphony orchestras“, das ein paar Tage vorher unter dem Dirigenten Michael Tilson Thomas debütiert hatte. Vorausgegangen war ein monatelanges und viel beworbenes Casting via youtube – denn dieses Orchester war wieder einmal „etwas noch nie dagewesenes“, ein „Internetorchester fürs 21. Jahrhundert“, eine „Weltsensation“, usw. und so fort….

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Vorausgegangen war ein monatelanges Casting, bei dem die Bewerber ein youtube-Video von sich hochladen mussten, in dem sie ihren Part des Stückes von Tan Dun sowie eine ausgewählte Probespielstelle spielen. Die glücklichen Gewinner wurden dann nach New York eingeladen, um mit Maestro Thomas ein Konzert mit mehreren kurzen Stücken zu proben und zu spielen, sowie die oben erwähnte Uraufführung auf Video aufzunehmen und aufzuführen (was dann wiederum auf youtube weltweit verbreitet wurde). „96 Musiker aus 30+ Ländern!“ steht unter dem Video mit Tan Duns größtenteils entsetzlicher „Symphonie“ zu lesen (der Mann hat eindeutig schon bessere Sachen gemacht). „Eine einzigartige Mischung aus Amateuren und Profis“.

2 Jahre später wurde das Ganze dann nochmal wiederholt, in Sydney (Opernhaus, wo sonst), mit großem Staraufgebot, Tilson Thomas wieder am Pult, und diesmal ein elektropoppiges Werk von Mason Bates als Uraufführung („Mothership“). Diesmal waren es 101 Musiker aus (nur noch?) 30 Ländern, nun gut, vielleicht durfte Nordkorea diesmal nicht dabei sein, höhö….Und 2013 droht wahrscheinlich die neue „youtube-Symphonie“ in….London? Paris? Tokyo? Oder vielleicht – als besonderer Promotiongag – im stillgelegten Reaktor von Fukushima. Sicherlich würden sich auch hierfür ein paar Musiker casten lassen, zu schade ist sich ja niemand.

Weltweit wurde die youtube-Symphonie beworben, einige der Teilnehmer per Einspieler wie beim Grand Prix d’Eurovision vorgestellt, und auf einem eigens dafür eingerichteten youtube-Kanal sind die Videos bis heute zu sehen (wenn sie nicht skurrilerweise teilweise wegen GEMA-Einspruch gesperrt wären). Eine große Erfolgsaktion also, die sich youtube sicherlich auch etwas hat kosten lassen (obwohl die Musiker so weit ich weiß letztlich nur für Spesen spielten, aber dafür: Tan Dun! Tilson Thomas! Youtube! Internet! Noch nie dagewesen!).

Ist man Zyniker, wenn man hier vielleicht nochmal nachfragt, was eigentlich jetzt an der ganzen Chose so wahnsinnig neu und hypewürdig ist? Schließlich wird hier ja auch klassische Musik den Massen nahegebracht, und manch youtube-User mag hier zum ersten Mal tolle Stücke wie „Feuervogel“ oder „Young Person’s Guide To The Orchestra“ gehört haben, geschenkt. Finde ich grundsätzlich gut. Aber muss dazu immer gleich auf neu getrimmt werden, was eigentlich gar nicht neu ist? Und ist hier der Markenbegriff „youtube“ nicht eindeutig wichtiger als das, was letztlich dargeboten wird? Sind wir alle youtube oder was?

Letztlich handelte es sich nämlich hier um einen ganz stinknormalen Auswahlprozess per Video, wie er bei tausenden von Wettbewerben, Festivals und auch Festivalensembles wie auch Orchestern schon seit Jahrzehnten üblich ist (wenn man denn per Video casten will). Einziger Unterschied: der Auswahlprozess findet öffentlich statt, und wie in einer Castingshow kann man das Ganze dann auch auf youtube irgendwie kommentieren und irgendwie auch ganz toll interaktiv miteinander sein. Ausgewählt wurden die Bewerber nach exakt den selben Kriterien, wie Orchestermusiker überall auf der Welt ausgewählt werden: irgendwie spielen mussten sie schon können. Und natürlich möglichst jung sein und dynamisch wirken.

Als großer Nachteil erwies sich – wenn man den Erfahrungsberichten hinter den Kulissen der ersten youtube-Symphonie Glauben schenkt- dass mit den Bewerbervideos zwar instrumentales Können, nicht aber Erfahrung im Orchesterspiel beurteilt werden konnte. Wer je ein Hochschulorchester aus individuell zwar hervorragenden aber in der Ensembleintonation unerfahrenen Streichern gehört hat, weiß was Maestro Thomas bei der ersten Probe erwartete, beneiden tue ich ihn darum nicht.

Und dass die Musiker aus 30 beziehungsweise 31 Ländern kommen, was sensationell und weltzugewandt wirken soll? Nun, das ist eigentlich inzwischen in jedem beliebigen europäischen Orchester so – da tummeln sich schon seit langer Zeit ganz ungezwungen Asiaten, Russen, Amerikaner, Franzosen, Italiener, und zahllose andere Nationen, ohne dass man das bisher jetzt groß auf youtube beworben hätte. Aber diese Orchester haben einen ganz großen Unterschied: Sie leisten dauerhafte Kulturarbeit, arbeiten stetig und hart an ihrer Qualität, sind Teil ihrer Stadt, bespielen dauerhaft Konzertsäle und leisten Aufbauarbeit mit Jugendlichen und Kindern, kurzum: Es gibt sie auch NACH dem Hype. Das youtube-Orchester dagegen spielt nur so lange in einer Besetzung, bis der Promotioneffekt um das Casting ausgereizt ist.

Bei Tan Duns Stück handelt es sich schließlich um eine überaus konventionelle Pastichekomposition mit schlichten Eroica-Zitaten, das hätten die youtube-Symphony-Musiker auch in jedem stinknormalen Symphoniekonzert haben können. Oder nein, wahrscheinlich wesentlich besseres. Beim Folgeprojekt konnte man dann irgendwie im Internet dazu improvisieren, ohne dass das jetzt musikalisch große Folgen hinterlassen hätte.

Ok, vielleicht reagiere ich aus leidvoller eigener Erfahrung beim Wort „Internetsymphonie“ allergisch, aber das ist eine andere Geschichte und ein peinliches Kapitel meiner Vita.

Ein anderes Mal….

Ein paar neue Ideen für youtube hätte ich aber schon:

Das youtube – Gericht: Tausende von Köchen aus 29 Ländern bewerben sich per Geschmacksvideo und verderben einen riesigen Brei

Der youtube – Marathon: Tausende von Läufern aus 32 Ländern laufen per Video etwas vor und dann durch die Wüste Gobi. Das Ganze wird dann vollkommen überraschend weltweit per Video übertragen.

Das youtube – youtube: Tausende von youtube-Usern aus 31,5 Ländern filmen sich, wie sie ein youtube-Video anschauen und dabei dumm glotzen. Aus lauter Mitleid führt man sie in ein Kino und zeigt ihnen, dass es auch Filme gibt, die länger als 10 Minuten dauern.
Dann schlafen alle gemeinsam ein.

Moritz Eggert

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Eine Antwort

  1. Peter Schöne sagt:

    Lieber Moritz, wie immer: Danke für Deine Gedanken.

    Ich hatte bei „Youtube-Gericht“ erst eine ganz andere Assoziation.
    Wie wäre es, wenn man quasi per Kommentarfunktion in Zukunft über Recht und Unrecht entscheiden könnte.
    Ein echtes Youtube-Gericht. Da könnte man die Plädoyers filmisch aufzeichnen und hätte auch mal Zeit, so richtig über Straftaten nachzudenken. Den Kommentar schreibt man dann einfach drunter. Zusammen mit einem Like-it-Button für Schuldig/Nicht-Schuldig bekommt das Wort Basisdemokratie dann eine ganz neue Bedeutung.

    Ach und was man da noch alles Schönes machen könnte mit Youtube:
    „Youtube-Election“ beispielsweise.

    You-Tube: Was heißt das eigentlich übersetzt? „Du-Glotze“???