In der Fremde (3b): Sandeep Bhagwati in Montréal

montreal

…hier der 2. Teil meines Interviews mit Sandeep Bhagwati:

3) Lässt Du Dich selber von musikalischen Erfahrungen in Kanada (oder auch anderen Ländern) beeinflussen, oder gibt es einen Teil von Dir, der vollkommen unabhängig agiert ?

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Meine eigene Position ist nicht so einfach. Zunächst einmal glaube ich nicht daran, dass es so etwas wie künstlerische Unabhängigkeit geben kann, oder auch nur geben sollte: Wir Künstler sind wie alle anderen Menschen Teil eines grossen Netzwerkes an kulturellen Ideen, gesellschaftlichen Konventionen und praktischen Gegebenheiten. Wer dies zu negieren versucht, und seine eigene Position als „unabhängig“ beschreibt, ist entweder unsensibel und borniert – oder nur ein Künstlerdarsteller, der sein Rebellen-Image kultivieren muss, um den Abklatsch-Charakter seiner Arbeit zu übertünchen. „Unbeirrbarkeit“ hat mir immer einen Hautgout von seelischer Dumpfheit – ich persönlich möchte gerne „weiterhin beirrbar bleiben.“
Und so habe ich mich in meinen verschiedenen „Auslandsleben“ (von Aufenthalten kann man bei insgesamt 17 Jahren ausserhalb Deutschlands – in Indien, Österreich, Frankreich, der Schweiz, und jetzt Kanada – ja nicht mehr sprechen) immer wieder von den lokalen Musikstilen, akustischen Kulturen, Publikumspräferenzen beeinflussen lassen – was für einen Sinn sollte es auch machen, in einer fremden Umwelt so zu tun, als habe sich nichts geändert ?
Allerdings ist dieser Einfluss nie so richtig plakativ gewesen. Ich habe in Indien keine Ragas verfasst, in Österreich weder Ländler geschrieben noch Cerha, Haas, Furrer oder Jarrell imitiert – und ich schreibe in Kanada nicht wie Arcade Fire oder Rufus Wainwright (von Celine Dion ganz zu schweigen). Aber es gibt kanadische Musiker, die mich tief beeindruckt haben, und die mein Denken über Musik und Komposition um vorher ungeahnte Aspekte erweitert haben – Denys Bouliane mit seinen neuen „Anticosti“-Stücken, die fiktive Volksmusik auf eine sehr konstruktivistische Art zusammensetzen und zerlegen; Jean Dérome, dessen Komprovisationen wie z.B. in „Confitures de Gagaku“ mir neue, spielerische Wege zu einer anderen, freieren Form von interkultureller Musik gezeigt haben als dies im „white guilt“ – Diskurs des Postkolonialismus denkbar ist; R. Murray Schafer, dessen monumentaler „Patria“-Zyklus von Musikschauspielen auf entlegenen Seen oder in Wäldern, denen wie bei einem Ritual nur die beiwohnen, die sie auch in monatelangen Camps entwickelt und gemacht haben, mich in vieler Weise neu über die sozialen und spirituellen Aspekte von Komposition haben nachdenken lassen; und schliesslich John Oswald mit seinem Konzept der „Plunderphonics“, das jedes Copyright fröhlich in Frage stellt und Musik von dem statisch-kapitalistischen Holzweg des geistigen Eigentums wieder auf die Ebene einer genuin geistigen Auseinandersetzung lenkt. Ich hatte seit vielen Jahren kein neues Stück mehr bei der GEMA angemeldet – und plötzlich fand ich in Oswalds Werken eine aesthetische Unterfütterung meines instinktiven Widerwillens gegen die Vorstellung eines geistigen Eigentums! Sowas ist doch immer schön…

4) Wie hat sich Dein Blick auf die musikalisch/ästhetische Diskussion in Deiner Heimat (D) durch Deine Zeit im Ausland verändert?

Mein Blick auf die musikalisch-ästhetische Debatte in Deutschland war schon immer mit durchwachsenen Gefühlen durchsetzt (man lese ältere Artikel von mir in der ZEIT und der NZfM nach). Ich habe sie immer als wichtig empfunden (beeindruckend vor allem, dass solche speziellen Themen so viele hochtrabende Worte und Emotionen wert sind!), aber nur allzu oft riechen die Texte nach dem Detailfimmel der Fanzines und Schrebergartenkolonien, beschäftigen sich mit Definitionsfragen (Ist das noch Neue Musik?) oder mit den moralischen Aspekten an sich unschuldigen Materials (Heute kann man doch XY nicht mehr schreiben!).
Auch die Tendenz zur heiligen Unantastbarkeit, die den „Inkunabeln“ der ersten 50 Jahre Neue Musik entgegengebracht wird, zeugt nicht von der Souveränität einer Szene, die sich die kritische Auseinandersetzung wohl auf die Fahnen, aber dann doch lieber nicht ins Stammbuch geschrieben hat. Zu viele Komponisten in Deutschland bosseln immerzu am „Gestell“ (wie Heidegger es genannt hätte) der Neuen Musik herum, mit immer neuen Techniken und theoretischen Finessen (die wie in der Byzantinistik zunehmend nur noch Fachleute wirklich interessieren können).
Manchmal bekommt man von aussen den Eindruck als ginge es nur noch um zweierlei: dolle Events und einen immer dolleren Komponistenbastelkasten mit immer noch mehr geilen Klang-Elementen und Kompositionstechniken. Auch das stets spürbare moralische Überheblichkeitsgebaren der Neuen Musik Szene in Deutschland, sowohl populäreren Musikformen wie auch den Kompositionspraktiken und Musikerfindungen anderer Länder und Kulturen gegenüber, ist aus der Ferne manchmal nur schwer auszuhalten: „Leute, sagt man sich dann, haltet mal die Luft an! Es erklingt doch auch jenseits Eueres Neue-Musik-Hollywoods (1) noch Wesentliches in dieser Welt!“

5) Würdest Du Deine Zeit im Ausland als „karriereförderlich“ bezeichnen? Oder eher als persönlichkeitsbildend (was für Musik natürlich wichtiger sein kann)?

In Kanada, in der finanziellen Sicherheit meines Labors und meiner Professur, war es mir nach vielen Jahren des Prekariats und der Terminhudlerei endlich wieder einmal möglich, fundamentale Fragen und Aspekte meines Komponierens nicht nur theoretisch zu erforschen, sondern real Schritt für Schritt auszuprobieren – ohne dafür gleich Aufführungen anstreben zu müssen, oder gleich was auf CD zu pressen.
Mit viel Zeit und vom Rampenlicht unbehelligt an meiner Musikvorstellung entlang nachdenken, darüber schreiben und nachhören zu können, habe ich immer als den grossen Luxus meiner Studienzeit empfunden – und nun kann ich mir nach langen Jahren der Hektik und des Sich-im-Betrieb-Fast-Verlierens wieder so einen Luxus leisten. Das ist kein „lokaler“ Einfluss, es hätte unter gleichen Bedingungen auch anderswo stattfinden können – aber da die Bedingungen eben für mich nur hier in Kanada so entstanden sind, habe ich mich von diesem Umstand gern zu neuen Wegen „beirren“ lassen.
Was Karriere genau ist, in einem Feld, in dem man allein von der Hände und Neuronen Arbeit ja doch keine Familie ernähren kann, sondern immer eine Art Brotberuf braucht (und sei es der musiknahe des Konzertpianisten oder des Musiklehrers) weiss ich eigentlich nicht. Ist überall gespielt werden ein Zeichen für Karriere – oder nur ein Indiz dafür, dass man gerade im Begriff ist, einen Kredit auf die Zukunft aufzubrauchen? Ist mediale Präsenz karriereförderlich – oder nur ein sicherer Weg in die Eigen- und Fremdverwurstung? In Quebec und Canada bin ich auf eine Weise in Neue-Musik-Organisationen etc. präsent, wie ich es in Deutschland nie war – aber ist das Karriere ? Ich glaube eher nicht – ich sehe es als meinen Pflicht-Dienst an einer kleinen, marginalen Gemeinschaft an, deren Ideale und Sehnsüchte nach neuen Musiken ich oft genug teile, deren Realitäten mir aber noch öfter den Magen heben.

6) Wo möchtest Du selber am liebsten dauerhaft leben und arbeiten? (Dies können auch zwei verschiedene Orte sein)

Am Meer, solange kein Tsunami kommt.

(1) Mit diesem Übernamen benenne ich den deutschsprachigen Raum gerne – weil der dortige Förderreichtum wie ein Magnet die ehrgeizigsten, coolsten und karrieregeilsten Komponisten und Musiker der Welt anzieht – und es Intendanten wie Hollywood-Produzenten erlaubt, die teuersten „Avantgarde“-Produktionen der Welt auf die Beine zu stellen. Was noch nicht so klappt, ist die globale kulturelle Hegemonie dieser germanotrophen Neuen Musik – aber wenigstens ist diese Hegemonie ja seit Schönberg, immer wieder aufgefrischt von Adorno, HK Metzger und Claus Steffen Mahnkopf eine stetiges Wunschziel deutschsprachiger Neue-Musik-Diskurse.

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12 Antworten

  1. querstand sagt:

    Deutschland von Aussen – so verknappt könnte man den Punkt 4.) titulieren. Inhalt: einige befruchtende Ideen, ansonsten eine Kungelwüste der Byzantinistik. Wie kann man Deutschland mit Byzanz verweben? Konkreten Austausch von politischer Wichtigkeit gab es im Mittelalter vor dem Aufkommen eines historischen Deutschlandbegriffs, zwischen Karl dem Grossen und seiner Familie mit Ostrom im Sinne von „Du Kaiser – ich auch Kaiser – wir Kaiser“. Wie wir wissen, brauchte der Versicherungsvertreter „hr. Kaiser“ (Werbung!) von Konstantinopel nach Aachen wohl ein Weilchen auf all den überwucherten römischen Strassen und restlichen Trampelpfaden. So dauerte es ein wenig bis sich Karl nicht nur Kaiser nennen durfte, sondern sich auch so fühlen konnte, mit der Anerkennung vom Bosporus.

    Einige Jahrzehnte später kam dann Byzanz leibhaftig nach Deutschland: Otto der Grosse heiratete 972 die oströmische Kaisertochter Theophanu. Nach intensiver Ehe mit etlichen Kindern regierte sie sogar nach dem baldigen Tode Ottos als Regentin für ihr Kind Otto. 991 verstarb sie. Somit wurde Deutschland direkt nicht mal zwanzig Jahre direkt byzantinisch infiltriert, so dass unser jetziger Aussen-Westerwelle nicht über byzantinische sondern spätrömische Dekadenz unsinnig sinnierte.

    Die Neue Musik ist hierzulande nun länger präsent als Theophanu hier ihre Spuren hinterließ. Somit ist sie dann doch schwerwiegender als Byzanz‘ Verweilen im dunklen Germanien…

    So gerne ich Sandeep bezüglich der Nischen-Nischen-Existenz Neuer Musik in meiner Heimat zustimme, sollte der Blick von Aussen auch nicht wieder zu düster ausfallen. In gewisser Weise ist es doch wunderbar, dass immer noch merkwürdigste Vögel an der Neuen Musik hier weiterfeilen. Besonders bemerkenswert ist dabei, wie Zugewanderte in den letzten Jahrzehnten die Entwicklungen durchaus mitprägten: ich denke zuerst z.B. an Brian Ferneyhough. Ich denke an Isang Yun, der hier wirken konnte, seine asiatischen Schüler bei ihm in Berlin ihre Wurzeln freischaufeln konnten.

    Man sollte auch nicht vergessen, wie trotz all der Widerstände in der „Szene“ Cage und Reich oder auch Menschen wie Boulez oder die Spektralisten die Diskussion hier belebten. Das mag Viele nicht zum Ändern ihrer Schreibweise bewogen haben, sie noch sturer als je zuvor werden lassen. Dennoch wurden ihnen und Anderen Flausen ins Hirn gepflanzt, die durchaus ihre Urständ‘ feiern. Oft in einer noch grösseren Unübersichtlichkeit als das Nischensystem zuvor schon vor sich hinsuppte. Das mag nach Aussen wirklich als Klein-Klein erscheinen.

    Was allerdings wirklich fehlt, um hier ein richtiges Neue Musik Hollywood-Business mit entsprechenden Riesen-Umsätzen zu etablieren, ist die Verknüpfung all dieser kreativen Potentiale zu einer gewissen Breitenwirkung. Noch gibt es Festivals und Konzertreihen im größeren Rahmen, auf denen nach wie vor eine programmatische und kompositorische Veränderung stattfinden könnte. Insgeheim findet dies doch auch allerorten statt: reine Konzerte mit speziell komponierter, nicht-improvisierter Musik werden immer seltener. In der Freien Szene und auch den grösseren Festivals hat schon wieder eine stärkere Hinwendung zu Musikern stattgefunden, die entweder im Komponierten ihren entsprechenden Freiraum, besonders in Korrelation mit Musikelektronik, zurückerobert haben oder als musizierende Komponisten auftreten, siehe die Karrieren Jörg Widmanns oder Fazil Says. Oder in der Independent-Szene all die Sängerinnen, Musiker und Komponisten, die die Grenzen durchbrachen, wie in München z.B. Axel F. Singer, Christoph Reiserer, Cornelia Melian und Markus Muench.

    So wünscht man sich doch schon wieder mehr komponierte Musik! Es ist allerdings schon ein gewaltiger Weg hierzulande als Komponist nicht nur nischenmässig wahrgenommen zu werden, was das nächste Problem ist. Da mag man noch so für breitere Mengen oder größere Opern schreiben wollen, sofern man sich aus der Neuen Musik kommend definiert und nicht musiziert oder dirigiert oder programmiert (im doppelten Sinne von Rechner und Konzert!) – man kommt schwerlich aus der einen oder anderen Suppe heraus, wenn man sich gnadenlos in der Tradition der Neuen Musik sieht, was an sich aber kein Verdikt sein sollte.

    Wenn wir allerdings uns die Neue Musik oder die Herkunft aus ihr zu madig reden, machen wir uns nicht konsumerabler, interessanter, interkultureller – so sehr wir uns noch mit zusätzlichen Ebenen oder einfach nur Labels definieren sollten. Ja, die Neue Musik sollte mehr Wind und Widerstand in sich zulassen, sich ganz woanders hintreiben lassen. Wobei: Neue Musik 2011 ist schon gewaltig anders als Neue Musik 1990! Alleine der Klang der Neuen Musik hat sich verändert, wurde weicher oder auch härter – aber das gehört wo anders hin. Also: ja, man soll sich zu einer anderen Definition als nur über seine Väter verdonnern und die Strukturen der Förderwege Neuer Musik stehen hier ihrem Grundgedanken auch immer schon zu hart im Wege. Wie will man sich aber anderen Szenen, Märkten präsentieren, verkaufen, wenn man Neue Musik als grundlangweilig darstellt, so kommt es zumindest auf diesen anderen Seiten an! Und man gehört doch zu ihr, sogar wohl zum Label Klassik für die Aussenstehenden. So macht man sich letztlich für beiden Seiten unglaubwürdig – da hilft selbst bestkomponierte Musik nicht weiter. Es geht nicht um gesundbeten, es geht aber um ein Wurzelbewusstsein, dass an sich auch mal heftig blutend reisst, dennoch nicht zu oft Petrus vor dem letzten Hahnschrei spielt…

    Der Eurozentrismus, die Germanotrophie Neuer Musik mögen wirklich nerven. Allerdings sind dies natürlich auch gewaltige, gefährliche Zuschreibungen, die sofort Kolonialismus- und Imperialismusverdacht evozieren können, wo selbst jenes zitierte „white-guilt“-Bewußtsein, was ein anderes Extrem ist, in die Nähe dieser beiden alten Totschlagargumente gezogen wird. Tatsächlich wird sich so manche gute Idee, um die man sich hierzulande allzu gerne zerfleischt, in anderen Ländern, Nischen besser im Stillen mal ansehen lassen. Aber es fällt auch schon wieder das Wort „Nische“! Generell findet gerade im amerikanischen Raum Neue Musik eigentlich nur an den Unis statt, abgesehen von den grossen Städten im Osten, das einzige Forum. Immerhin sind die Lehrstühle wohl besser ausgestattet als in Deutschland, wenn man den Diskussionen der letzten Jahre so folgt. Das Ringen um die Neue Musik, um den Austausch mit dem Publikum, das findet allerdings noch eher in Europa statt oder ist selbst bei grösster Europaferne im Gedanken der hiesigen Neuen Musik eingefärbt, wohlgemerkt eher im Sinne der „historischen“ Neuen Musik, nicht der aktuellen. Dennoch ist selbst bei der aktuellen, deutschen Szene zu sehen, wie andere Wurzeln aufgegriffen werden, wie jetzt allmählich selbst in den Zentren Stuttgart und Co. ein anderer Wind weht: sich von disparaten Erscheinungen beeinflussen lassende Leute wie Leopold Hurt und Gordon Kampe gewannen den Stuttgarter Kompositionspreis, ein bemerkenswerter Wandel… Da suppt selbst im alternativen München z.B. der Musica-Viva-Wettbewerb im Saft der Neunziger. Fazit: die Kritik über Deutschland stimmt schon, aber es ist trotzdem immer noch wichtig, was hier passiert, ändert sich manches, eben föderal nanolangsam – davon können aber selbst GB, F, etc. nur träumen!

    Gruß aus Old Munich,
    Alexander Strauch

  2. wechselstrom sagt:

    @querstand

    Der Eurozentrismus, die Germanotrophie Neuer Musik mögen wirklich nerven. Allerdings sind dies natürlich auch gewaltige, gefährliche Zuschreibungen, die sofort Kolonialismus- und Imperialismusverdacht evozieren können,

    Kleine Geschichte hierzu:
    1998 und 2000 schaute ich mich in Darmstadt bei den Ferienkursen um, und habe mir u.a. die Kompositionsbesprechungen von Meister Lachenmann angehört.
    Manche der StudentInnen hat er auch selbst mitgebracht – man kann sich die Atmosphäre jetzt gut vorstellen. – – –

    Eine Komponistin aus Litauen (nicht aus der Lachenmann-Entourage) stellte ihr jüngstes Werk in Patritur und als Kassetten-Aufnahme vor.
    Wir hörten … Vom Stil her war es alles andere als Darmstadt-like oder Lachenmann-kompatibel.
    Das wurde natürlich vom Meister milde belächelt und von seiner Entourage mit spöttischem bis abfälligem Grinsen quittiert. Nach einigem ratlosen Hin-und-Herblicken und einem flüchtigem Blick in die Partitur der jungen Komponistin stellte der Meister eine der typischen Professorenfragen in der Art: „Was wollen Sie denn … hmmm … äh …?“ Dabei machte er eine einladende Handbewegung zu einer seiner eigenen Studentinnen, die bereits eifrig (g)eiferte. Die litauische Komponistin war sichtlich nervös und irgendwie wurde ihr die Situation peinlich. Sie versuchte auf Englisch einige Gedanken zu formulieren, was ihr nur schwer gelang, denn nach dem ersten Halbsatz wurde sie vom Meister mit der Bemerkung unterbrochen: „Die da oben sind halt noch nicht so weit“.

    Konnte dieser Professorenarsch da nicht mal seine deutschtümelnde Klappe halten?
    —–

    Überhaupt fiel damals auf, dass fast alle Komponisten-Professoren (auch Furrer, Czernowin, Mundry) oft sprach- und ratlos vor den Werken der Studenten standen – diese mit einer gewissen Aufmerksamkeit verfolgten, inhaltlich aber wenig substanzielles dazu sagen konnten. Es verlief sich alles im Suchenden, Ungefähren und Abtastendem.
    Einige haben eher zufällig einzelne Takte/Passagen herausgegriffen, mit der Bemerkung „das hier finde ich aber wiederum interessant“, was bei dem jeweiligen Studenten ein erlöstes Lächeln hervorrief, und insgesamt die Anspannung lockerte …

    JA, und dann fragt man sich, warum das Publikum nichts versteht!

    War schön, wieder Säure zu vergießen
    Eine angenehme Kultur-Woche wünscht

    wechselstrom

  3. Erik Janson sagt:

    @ all, @ wechselstrom, eggy

    bei diesem Darmstadt-Vorfall war ich zwar nicht dabei, aber es gab Darmstadt-Erfahrungen und -Sitzungen, wo ich ähnliches erlebte. Und Aussprüche in der Richtung „die sind noch nicht soweit“ … „komponieren naiver aber ganz „interessant“ (aber auch aus Mündern von Musikern) sind einem nicht fremd.

    Umso mehr denkt man sich: im Nachhinein, wo der Altmeister Lachenmann nun nicht mehr offiz. unterrichtet:
    Er sollte doch heute – im Nachhinein – mal milde und gnädig und auch zuweilen dankbar gegenüber denjenigen sein, die immer an seinen (euro-) messianischen Lippen hingen und hängen. Und das ist er vielleicht auch, denke ich mir…

    Wo man z.B. Italien nur Lachenmann kennt und spielt. Gut: Italien gehört ja (noch) zu Europa – auch wenn wir die mit der Flüchtlingsproblematik und ihrem noch ungeheilten Berlusconisums allein lassen…- und Italien ist auch kein Neue Musik „Entwicklungsland“. Und achja: Lachenmann hat ja sogar in Italien gelernt… War er nicht bei diesem großen Komponisten Nono? Also sorry. Schlechtes Beispiel.

    Aber: auf gehts: retten wir den Euro. Retten wir Europa, auch kulturell, und das geht nur, wenn der globale Euro- und West-Zentrismus endlich aufhört (… nicht nur kulturell und ästhetisch gelinde gesagt).

    Andererseits: von Germanozentrismus würde ich nicht gerade sprechen. Wenn es um die Förderung von Komponistinnen und Komponisten geht, Preise, Steipendien etc., dann fällt auf, dass hierzulande ja mehr ausländische Komponisten gefördert werden als Komponisten von hierzulande, bzw. im Verhältnis zu anderen Ländern ist dies ganz deutlich.

    Buon giorno,
    Erik

  4. eggy sagt:

    Andererseits: von Germanozentrismus würde ich nicht gerade sprechen. Wenn es um die Förderung von Komponistinnen und Komponisten geht, Preise, Steipendien etc., dann fällt auf, dass hierzulande ja mehr ausländische Komponisten gefördert werden als Komponisten von hierzulande, bzw. im Verhältnis zu anderen Ländern ist dies ganz deutlich.

    Das ist richtig, aber denn eben auch die, die sich dem gängigen Neue-Musik-Stil am besten angepasst haben – deswegen sind die Meisterkurse bestimmter Komponisten auch so beliebt, denn dort lernt man diesen Stil. Ich merke das auch an den ausländischen Studenten die ich kenne – für die ist es ganz toll, wenn ein etablierter Name wie Lachenmann oder Dusapin ihnen den „Segen“ gibt – verständlich.
    Dennoch, die von Christoph beschriebene Arroganz den noch „nicht angekommenen“ gegenüber erlebt man leider oft, und sie kommt natürlich auch aus dem Gefühl „Alle kommen zu uns, also muss es bei uns auch am tollsten sein“.
    Aber solche Gruppensessions sind sehr schwer – sehr schnell sagt man etwas Falsches oder Verletzendes, das ist mir sicherlich auch schon passiert mit Studenten. Aber grundsätzlich versuchen sollte man, eine Haltung der nicht-wertenden Neugier an den Tag zu legen, also die Dinge so zu nehmen wie sie sind und nicht wie sie der eigenen Meinung nach sein sollten. Und da kann man dann auch mal von einer litauischen Komponistin sehr positiv überrascht werden, gerade weil sie NICHT so schreibt wie die anderen. Ich fände gerade das „nicht angekommmen“ sein interessant, denn sie ist dann vielleicht an einem ganz anderen Ort angekommen, den ich selber noch nicht kenne.
    Moritz Eggert

  5. Erik Janson sagt:

    @ Moritz.
    Da kann ich Dir nur in allem zu stimmen. Ich hoffe, dass wir uns (auch bei der sog „etablierten“ Avantgarde, im Hochschulweegen etc.) da allmählich im Umbruch befinden. Und man kann und muss Lachenmann und Co. zu Gute halten, dass sie ja auch deren Haltungen ändern und auch nicht bei einem STand stehen bleiben.

    Was mir nur derzeit – entschuldigt den Ausdruck – noch sehr auf den „Sack“ geht, ist aber auch noch was anderes: Dass nämlich jene „Neue Musik“, die auf Effekte, Showelemente etc. aus ist, die eine Art Annäherung zum Pop, zum allgemeinen Klamauk zu Moden offen zur Schau stellt (sei es „pseudo-kritisch“ oder affirmativ – dahinter versteckt) derzeit auch immer mehr gehypt wird. Nur – vielleicht aus dem Gefühl heraus – dass es da etwas für dine Neue Musik „E-Musik „nachzuholen“ gäbe. WAS frage ich mich? Vielleicht ändert sich das ja auch mal wieder – irgendwann – und man wird bald sagen: erfrischend, wenn da auch mal wieder Leute „normale Musik“ oder „einfach NUR Musik“ schreiben und dadurch bekannt werden, dass sie sie selbst (sich selbst und er Musik, dem Ausdruck, der Substanz) verpflichtet geblieben sind.

    Von diesem kollektiven Zwang „ausgeflippt“ oder „äußerlich“ oder anti-romantisch, postmodern, dem derzeitigen Kultur- und Werteverfall gegenüber affirmativ (oder nur gemäßigt kritisch gegenüber) oder wie auch immer sein zu müssen (ansonsten ausgeschlossen zu sein) bleiben leider (hat man den Eindruck zumindest) nur diejenigen ausgenommen/verschont (trotzdem eingeladen), die schon drin sind in den großen Festivals, in der Szene (wie z.B. ein Gervasoni, Arnulf Hermann, Enno Poppe etc.).

  6. Erik Janson sagt:

    @ Moritz

    1)

    eben auch die, die sich dem gängigen Neue-Musik-Stil am besten angepasst haben – deswegen sind die Meisterkurse bestimmter Komponisten auch so beliebt, denn dort lernt man diesen Stil. Ich merke das auch an den ausländischen Studenten die ich kenne – für die ist es ganz toll, wenn ein etablierter Name wie Lachenmann oder Dusapin ihnen den “Segen” gibt – verständlich.

    2)

    “Alle kommen zu uns, also muss es bei uns auch am tollsten sein”.

    @ 1 und 2 fällt mir ein: richtig analysiert nur:
    „verständlich“? Nee nicht ganz, finde ich: Man müsste der neuen Generation von ausländischen, hier lebenden und studiedrenden Komponisten als Prof eher klar machen:

    a) Seid Ihr aber wirklich nur wegen der hier so „TOLLEN“ Neuen Musik hier und weil „WIR“ die „großen Lehrmeister“ sind, weil hier die Prominenz sitzt etc. oder nicht (gebt es zu) wegen der immer noch hervorragenden Förderungen (nicht mit Förderstrukturen zu verwechseln!)? Also so etwas wie: den Stolz und die Ehre der kulturellen Identität wieder mehr heraus „kitzeln“.

    b) Man müsste den ausländischen, jungen Komponisten sagen: Guckt, dass Ihr auch in Euren Ländern kulturelle und gesellschaftliche Verhältnisse schafft bzw. dazu bei tragt als Botschafter (und wenns noch so symbolisch und auch ein „ohnmächtiges“ Unterfangen ist), dass Neue Musik in Eueren Ländern auch mehr geachtet, gefördert wird und dass der Austausch Europa/Deutschland und Osteuropa,Asien, USA, egal. weiter voran getrieben wird.

    Wenn immer mehr junge Kompositionslehrer Vorschlag a) und b) praktizieren würden, dann hört auch irgendwann dieses „Aufschauen“ einerseits und andererseits die noch latente westliche und missionarische Aroganz auf.

  7. Erik Janson sagt:

    Sorry übrigens (Nachtrag), mir ist bewusst, ich habe hier den eigentlichen Thread und Sandeeps Gedanken etc. nicht gewürdigt und bin darauf nicht eingeganen. Bestimmt später, derzeit mal wieder eine kleine „Kompoisitions-Verschnaufpause“. Liebne Grüße an alle,
    Alos, Erik

  8. querstand sagt:

    @ all: Die Beispiele lagen bemerkenswerterweise in den 90ern bzw. 2000. Nun findet ein allgemeiner Wandel statt die Profs betreffend. Nach wie vor pilgern natürlich die unterschiedlichsten Leute aus aller Damen Länder zu Meisterkursen mit Rihm, Lachenmann, Eötvös, Ferneyhough. Ich wette, dass man es bei Rihm/Eötvös etwas einfacher hat mit anderer Klangsprache und Notenbild als bei Lachenmann/Ferneyhough. Es dürfte auch immer auf die Situation ankommen, im Seminar zieht jeder Dozent doch auch seine Show ab, im Einzelgespräch könnte es etwas differenzierter zugehen.

    Am Beispiel Italien sieht man ja, wie Deutschland nur durch Lachenmann vertreten wahrgenommen wird. So stellt sich mir auch ein wenig die Frage, warum dann junge Leute mit ganz anderen Schreiben solche Dozenten-Dinos wie die oben Angeführten aufsuchen? Klar, im Unbekannten liegt immer auch ein gehöriges Mass an Neugier. Die Saurier scheinen diese Neugier aber nicht immer zu besitzen, v.a. bei jenes Gruppen-Shows. Wenn sie denn so desinteressiert sind, warum unterrichten sie überhaupt Dunstfremde? Wobei dies natürlich immer Foren sind, in denen sich eben sehr knallhart entscheidet, ob da Dinge zusammenpassen oder nicht. Ein wenig dürfte auch die Massen der zu bewältigenden Unterrichtsopfer sein. Jeder von uns ist ja auch nicht immer vollkommen vorurteilsfrei, wenn Noten anderer, neuer Menschen einem unterkommen. Man sucht drängend nach Stellen, die man lesen kann, einem irgendwie gefallen, zur eigenen Schreibe wie nah oder fern auch immer passen. Pflegt man komplexe Partituren, wird man komplexe bevorzugen, pflegt man dünnere, dann diese, es sei denn man zweifelt mal wieder gründlich an sich selbst und ist auf Suche nach was Neuem. Es müssen wohl immer Zeit und Ort günstig sein, auf beiden Seiten, dass eine Beziehung entstehen kann. Das Problem ist eben immer das Theater, das die honorigen Herren und wenigen Damen in solch Sessions betreiben, allerdings auch in der Zwickmühle, kurz und schnell zu einem Urteil zu kommen. Manchmal ist dann eine harte Abweisung besser als eine jahrelange, versemmelte Lehrer-Schüler-Beziehung.

    Dennoch sind das Usancen, die ich einfach mal den lauten 68ern unter den Oldies unterstelle, Menschen, die eben immer schon eine gewisse Freude an Zuspitzungen auf allen Ebenen hatten. Die denken nun, dass die Jugend lauter sein müsste als sie selbst. Die jungen Menschen sind aber doch viel ruhiger, ergebnisorientierter in solchen Begegnungen als früher. Da passen gewisse Generationen nicht mehr zusammen. Trotz einiger Ausfälle auch da hilft tatsächlich der Generationswechsel unter den Dozenten, die weniger pauschalisieren als die Opis. Auch komponiert die landeseigene Jugend viel offener, unterschiedlicher als je zuvor. Nur bemerkt man das eben auch immer wieder ungern – sonst hätte man nichts zum Bekritteln der hiesigen Zustände. Allerdings frage ich mich persönlich, ob so manche eindeutige Äusserung im alten Sinne auch nicht immer mal wieder angebracht sein sollte, ob Kompositionsdozenten vor lauter Rücksichtnahmen nicht zu oft schon die Schere im eigenen Hirn schnippsen lassen. Ansonsten: nach wie vor ist doch witzig, wie deutsche Studenten in den USA heute immer noch vorzugsweise bei europäisch ausgerichteten Dozenten dort in die Schule gehen, statt Feldman, Partch, Cage, Riley, Reich oder Inuits dort zu studieren bzw. deren Folgen. Das mag an den besseren Konditionen für die Profs liegen, dennoch finden geistig kaum Exkursionen statt, kehren europäisch perfektionierte denn amerikanisch ange-reich-erte (im doppelten Sinne) KollegInnen zurück, wobei das einem auch egal sein kann, solange doch eine eigene Sprache dabei herauskommt. Aber grds.: wie verhalten sich Europäer im Ausland?

    Und nun noch was: wenn nicht-deutsche junge Komponisten superdeutsch oder megakosmopolitisch oder mikroregional schreiben, dann besonders wegen ihrer Eigenart zu Potte kommen, ist doch nichts an ihnen auszusetzen? Auch wenn sie nur superdeutsch sind, dann liegt es nicht an ihnen, sondern an den Meistern, die sie nicht wie Yun auf ihre heimatlichen Eigenarten hinweisen. Wie verpönt allerdings selbst unsere eigenen Eigenarten hierzulande verpönt waren, sprich die Volksmusik, Musik der ehemaligen Ostgebiete, Musik von Minderheiten, etc. lag damals die Krux schon immer im eigenen Safte. Da geschehen eben heute doch mehr Öffnungen als erwartet, kann sich Walter Zimmermann z.B. hervorragend bestätigt sehen, dass er doch die Tonart in den Ländlern und Zwiefachen so selten wechselte, pflegen gerade die Menschen mit Bewusstsein für eigene Wurzeln herzlichst die Begegnung mit anderen Ländern und Sparten. Und da tut sich eben doch eine Menge, all den üblichen Oldies zum Trotz, all den Hypervorsichtigen ebenso, aber auch den Unkenrufen aus dem Auslande, wenn man eben nur an diese Oldie-Hypersensibel-Konnekte denkt – es gibt eine ganz neue Kollekte…

    Gruß,
    A. Strauch

  9. Vielen Dank ihr alle für diese heftige Diskussion.
    Ich schalte mich ein wenig spät ein,bin auch mit vielem d’accord, aber hier und da wurmt mich doch was:

    Erik schreibt:

    Guckt, dass Ihr auch in Euren Ländern kulturelle und gesellschaftliche Verhältnisse schafft bzw. dazu bei tragt als Botschafter (und wenns noch so symbolisch und auch ein “ohnmächtiges” Unterfangen ist), dass Neue Musik in Eueren Ländern auch mehr geachtet, gefördert wird und dass der Austausch Europa/Deutschland und Osteuropa,Asien, USA, egal. weiter voran getrieben wird.

    Ich glaube, obiger Satz hat ebenfalls das Potential zu einem solchen arroganten Eurozentrismus – denn wieso sollte man überhaupt NEUE Musik fördern ? Das ist ja eine Erfindung der Nachkriegszeit, und die dafür nötigen Strukturen sind von keinem einzigen der sie später nutzniessenden Komponisten entwickelt worden !! Man stelle sich Stockhausen beim Marsch durch die Institutionen einer Diktatur vor, oder beim Strassenkampf…

    Die deutsche Avantgarde ist nicht zuletzt deshalb so erfolgreich gewesen, weil das Bürgertum so ein schlechtes Gewissen nach 1000 ekligen Jahren hatte. Sein Publikum zu beschämen, es für seine Rückwärtigkeit zu rügen, und von ihm extraheftige Anstrengungen, ja Glauben zu verlangen – das sind priesterliche, im besten Fall seelsorgerische Attitüden.

    So hatte Neue Musik als Religion(sersatz) damals einen gesellschaftlichen Mehrwert, Selbstgeisselung inbegriffen. Aber will man das in anderen Ländern und Kulturen wirklich als modus vivendi empfehlen ? Ich glaube, dass allein schon das Verständnis von Neuer Musik als etwas Grosszuschreibendem (das dann auch eine gewisse stilistische, mindestens aber eine Haltungsfrage einschliesst) an sich problematisch ist.

    Es fungiert als ein sozialer Marker („wir sind die Guten, wir brauchen kein C-Dur“) und wird aus diesem Grund, genau wie ein Porsche oder eine Manufactum-Giesskanne den Hautgout des Sich-Abgrenzens vom Plebs mit sich. Was ich an manchen Blogbeiträgen auf BBoM so hoffnungsfroh finde ist, dass man z.B. wie im heutigen Beitrag eine Sciarrino-Oper und den Grand Prix d’Eurovision am selben Abend konsumiert, diskutiert und sie als gleichzeitige Phänomene ernst nimmt.

    In den anderen Künsten gibt es keine emphatisch „Neue Choreographie“, die fast ohne Publikum am staatlichen Tropf hängen muss, keine „Neue Kunst“, die nur in den Besenkammern der Kunstmuseen den ganz besonders Eifrigen vorbehalten bleibt, kein „Neues Theater“, das neben dem Repertoire-Theater nur um die Almosen der Publikums- und Medienaufmerksamkeit buhlen kann. In all diesen Kunstgattungen haben sich künstlerischer Wagemut und öffentliche Wahrnehmung ein munteres Wechselspiel erhalten, wie es in der Neuen Musik vielleicht zum letzten Mal bei Stockhausen der Fall war. Meines Erachtens müssen sich die Komponisten den Begriff „Musik“ zurückerobern. Wir machen keine Neue Musik in unserem Hinterhof, wir machen Musik, in der grossen Öffentlichkeit.

    Und nachdem ich was Gutes über BBoM gesagt habe, nun auch eine Kritik: Zu oft ist, was hier diskutiert wird, ebenfalls klein-kleines Insidergeschwätz, in dem die Szene sich und ihre Kuriositäten selbst bespiegelt. Gibt es daneben ein deutsches Blog, in dem ernsthaft (oder auch fröhlich) über die in Deutschland (und vielleicht anderswo) gemachte Musik debattiert wird, mit Schwerpunkt auf neueren Werken ? Nein ? Das wäre doch mal eine Aufgabe für jemanden, dem Musik am Herzen liegt…

    Herzlich aus Montreal
    Sandeep

  10. querstand sagt:

    ”wir sind die Guten, wir brauchen kein C-Dur” Wer solche Sätze sagt, braucht natürlich auch kein aufgeladenes Cis-Moll. Ich muss ganz offen gestehen, dass neben all den Publikums-, Vermittlungs-, Neue Musik hier und dort-Fragen, dieses Tonhöhending mir schwer im Magen liegt. Abgesehen davon, dass selbst sog. atonale, freitonale, mikrotonale, etc. Musik IMMER tonale Bestandteile enthält, wenigstens tonzentrale, wenn sie westlich gefärbt, gedacht oder mind. an-gedacht ist, ist und bleibt es erstaunlich, was doch immer wieder an schlecht gesetzten Dingen in allen Tonsatzsystemen angeboten wird. Und je schlechter es ist, egal ob neu-naiv-tonal oder besonders vertrackt, um so mehr wird der Neue-Musik-Wind des Unwesentlcihen, also irgendein Pro- oder Antiding losgetreten. Das ist mitunter ein Hauptproblem: es gibt so unendlich viel schlechte Neue Musik, die einfach nur Schlechte Musik ist und in dem Moment alt aussieht, wenn man alles beiseite lässt, sofern es dezidiert „komponierte“ Musik ist, und sich nur auf die Tonhöhenfrage konzentriert, insofern sie mit denen natürlich hantiert. Allerdings gibt es inzw. selbst für viele anderen Fälle Beurteilungskriterien, z.B. „medialen Kontrapunkt“ oder „Kategorien der Klänge“ für Geräusche. Es ist doch erstaunlich, wie selbst die wirrsten Cage-Würfelungen genau gehört sind, wie das wiederum bei Freund Stockhausen sehr unterschiedlich ist, wie problematisch bei Rihm, wie gestochen genau bei Feldman, wie auch immer mitgedacht bei Ferneyhough. Ich denke ja, würde man sich immer wieder mehr auf die Töne an sich oder bewusst eben nicht auf sie beziehen, würde die Musik an sich besser, würde man wirklich neu hören ohne sofort wieder „Es ist Neue Musik“ brüllen zu müssen. Aber läuft das mit den Tönen so neben her, gerinnt es zu „Wir die Guten, die Bösen C-Dur“, dann wurde etwas vergessen, was zu essentiell ist. Dies ist allmal wichtiger als die noch so kritischste Haltung der kritischen Aufklärung. Ich denke so z.B., dass China gar nicht so sehr die Neue Musik benötigt, wie sie jetzt aufgesogen und exportiert werden soll. Es entsteht dabei im westlichen Sinne so viel Tonhöhenschmarren, was nicht einmal all die anderen Merkmale wie Geräusch, Shredding, Zufall, etc. legitimieren. Wie spannender sind doch deren eigene soundsovieltönige Skalen, wie toll wäre es, wenn es nicht immer nur tonal, tonal brutalisiert oder aufgelöst bzw. grässlich freitonal so oft aus Fernost klingen würde. Wenn schon Westimport, dann aber bitte nicht in der Musik noch billige Kopien. Irgendwie klingen Japaner und Koreaner, wie sie hier ankamen, tonhöhenbewusster, wenn sie sich in westl. Gefilden bewegten. Ach, bin ich Nische!

    Noch was zum Grand Prix, äh Song Contest: würde man wieder das gute alte Orchester im Hintergrund einführen, würde ich mich sofort um den andorrischen Beitrag bewerben. Allerdings widert mich das Ganze auch ziemlich an: der Norweger Rybak z.B. gewann zeitgleich in Moskau mit den dortigen Vorgehen gegen die wichtigsten Contest-Fans: die Gay Pride in Russland! Rybak als halber Belorusse spielte tatsächlich später auch noch in Minsk vor einem schunkelnden Lukaschenko. Politik wird hier also ausgegrenzt, wie Tonalität in der Neuen Musik! Beides wohnt aber dem Song-Contest wie der Neuen Musik inne – wie man sich immer gegen die Geister wehrt, die man verdrängen will. Lustig auch, wie das Nationale zu gross aufgeblasen wird, so nett die Douze-Point-Show sein mag: es gibt einen gewissen Durchsatz an Komponisten für dieses Event, die sehr wohl v.a. mitteleuropäisch geprägt sind. So wurde zwar der schwedische Singbeitrag Favorit, es gewann aber der in Teilen schwedische Kompositions-/Textbeitrag: die europäische Randlage Aserbaidschan ließ sich in der Mittellage Europas den Erfolg setzen… Dennoch ist auch hier Alles wichtiger gewesen denn Musik an sich, da unterscheiden sich Song-Contest wie Neue Musik gar nicht so voneinander. Soziologisch betrachtet auch kein Wunder: beide Einrichtungen leben von den öffentlich-rechtlichen Sendern, die mit ihren Strukturen weit in die jeweiligen unabhängigen Szenen hereinragen. Und der Ton macht schon lange nicht mehr die Musik… So hat interkulturell ja heute auch nichts mehr mit einem direkten Austausch der Kulturen zu tun, es geht immer um standardisierte Modelle, wo eine Nischenkultur nur als ein Beispiel von Vielen zählt, letztlich zählen v.a. immer diese Strukturen, stehen im Mittelpunkt, ergibt sich daraus das Nischennischengerede vollkommener Insiderschaft, mit viel Herzblut, mit mehr als Sandeep vielleicht denken mag. Mit Musik oder Kultur an sich hat dies aber Alles nicht mehr viel zu tun, ist nur die Projektionsfläche für Beschäftigung, Geldverdienen und westl. Lebensstandard im Sinne von Atomstrom und Ölpest!

    Gruß,
    A. Strauch

  11. Erik Janson sagt:

    @ Sandeep,

    ich denke nicht, dass die Neue Musik-Förderung oder auch der Erfolg der Avandgarde hier nur ein Ergebnis schlechten Gewissens des Bürgertums und/ oder der Nachkriegszeit ist. In den Anfängen definierte sich Avandgarde vielleicht noch aus einem Bewusstsein der Stunde 0 heraus o.ä., aber dann später? 70er, 80er oder 90er, als es auch noch gut lief mit der Förderung – bis heute eigentlich? Hm…

    Aber wenn es stimmt und man mit Deiner kritischen Frage,(da ist sicher was dran!) „Warum ÜBERHAUPT Neue Musik fördern“ ganz ernst macht, dann könnte man meine Äußerung von oben ja gewissermaßen auch umkehren: Bieten wir hier dann nicht Komponisten, von anderswo, aus Ländern, wo die Neue Musik nicht so gefördert wird, die sich eigentlich dort selbst durchschlagen und auch ohne Förderung zurecht kommen (müssten), die einfach „Musik“ schreiben, einen unnötigen Schonraum, genauso aber auch hiesigen Komponisten? Dann sind wir also hier in gewissem Sinne destruktiv oder ein künstlischer künstlicher „Tropf“ an dem eine Musik hängt die keine Zukunft hat?

    Mittlerweile gefällt mir, bei zugleich allem Zweifel daran, auch diese Variante bzw. kritische Sicht/Frage. Und von MUSIK gehe ich stets aus, das Schlagwort „Neue Musik“ oder Avandgarde habe ich nicht erfunden und es ist mir persönlich auch ziemlich wurscht, wie man mich oder andere definiert. Und jenes „Wir sind die Guten, wir brauche kein C-Dur“, wer sagt das heute noch? Ich jedenfalls lange nicht mehr und auch ein Lachenmann nicht, im Gegenteil.

    Buona notte,
    Erik

  12. wechselstrom sagt:

    @ Sandeep

    Zunächst einmal glaube ich nicht daran, dass es so etwas wie künstlerische Unabhängigkeit geben kann, oder auch nur geben sollte: Wir Künstler sind wie alle anderen Menschen Teil eines grossen Netzwerkes an kulturellen Ideen, gesellschaftlichen Konventionen und praktischen Gegebenheiten. Wer dies zu negieren versucht, und seine eigene Position als “unabhängig” beschreibt, ist entweder unsensibel und borniert – oder nur ein Künstlerdarsteller, der sein Rebellen-Image kultivieren muss, um den Abklatsch-Charakter seiner Arbeit zu übertünchen. “Unbeirrbarkeit” hat mir immer einen Hautgout von seelischer Dumpfheit – ich persönlich möchte gerne “weiterhin beirrbar bleiben.”

    Musik ist eben auch, besser gesagt, vor allem eine Darstellungsform.

    „Unabhängigkeit“ oder gar „Unbeirrbarkeit“, diese Worte sind geeignet moderne Sprachkritik zu üben, oder eben auf die Barrikaden zu gehen. Im politischen Raum zählen diese Worte noch, und sie erzeugen ein beachtliches Wirkungsfeld, wie die verschiedenen Freiheitsbestrebungen beweisen.
    Dass Musiker und Musikerinnen auf Barrikaden gehen – Stockhausen, ein Transparent schwingend, Lachenmann bei der Häuserbesetzung – so etwas kann man sich kaum vorstellen, solches Tun hat in Komponistenkreisen schlichtweg keine Tradition.
    Auf die Barrikaden gehen Literaten und bildende Künstler. Musiker neigen zur Verbeugung.
    (Ausnahmen mögen diese Regel bestätigen)

    Autonomie der Kunst, so etwas gibt es aber schon, ohne unsensibel oder gar borniert zu sein.
    Ebenso gibt es das von Ihnen favorisiertet „Netzwerk“ in der Kunst, vielleicht sogar ein „Netzwerk der Kunstanschauungen“, ohne gleich an Verfilzung denken zu müssen.
    Aber es bleibt die grundsätzliche Frage: Wie kann der Mensch als Individuum (auch mit all den daraus abgeleiteten Rechten/Menschenrechten) hervortreten und zugleich als zugehörig gelten.
    „Der Mensch als Subjekt“ – legt man diesen Ansatz zu Grunde, hat man die Chance, über den Bedeutungswandel, ja Bedeutungswiderspruch des Subjekt-Begriffs, dem Problemkreis des zweiwertigen Begriffspaares „unabhängig/eingebunden“ näher zu kommen.

    Beste Grüße aus dem Labor

    – wechselstrom –