Vorbereitung der Atopie. Ein Text in 6 Teilen. Erster Teil: DER LANGE ABSCHIED

Die letzten Wochen waren so voller Reisen und Aktivitäten, dass ich es nicht geschafft habe, einen einzigen Text im Blog zu veröffentlichen. Ganz tatenlos war ich allerdings nicht in dieser Zeit – für meine Musikdozentur in Mainz entstand ein längerer Vortrag, in dem ich meine Gedanken zur aktuellen Situation der Musik und der Notwendigkeit eines neuen Musikverständnisses festgehalten habe und die Grundzüge einer „atopischen“ Musikästhetik umreiße.
Viele haben mich gefragt, ob ich diesen Text nicht im Blog veröffentlichen kann, was ich hiermit gerne tue.
Der Text hat 6 Teile, die ich im Abstand von ca. 2 Tagen veröffentlichen werde, darauf folgt die englische Übersetzung, die ich mir für die Ferien vorgenommen habe. Hier also der erste Teil.
Viel Spaß beim Lesen – und ich wünsche allen unseren Lesern ein wunderschönes Weihnachtsfest (hoffentlich ohne einen Hordenangriff der Klassikzombies, siehe unten).

VORBEREITUNG DER ATOPIE

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1. DER LANGE ABSCHIED

Man tut sich immer schwer damit, das Ende von irgendetwas anzukündigen. Meistens kommt das Ende später als man denkt, und kommt es früher, hat man es normalerweise nicht vorausgesehen.

Dennoch möchte ich es hier aussprechen, weil es wahr ist, und weil es notwendig ist, die ganze Bandbreite dieser Wahrheit zu erkennen: das, was wir als „klassische Musik“ bezeichnen ist nicht tot. Nein, es ist vollkommen sinnlos. Ich muss differenzieren: Klassische Musik wie wir sie im Moment verstehen und vor allem vermitteln ist sinnlos, künstlerisch abgestorben wie ein nicht mehr funktionierendes Glied, ein Kropf, ein Geschwulst, womöglich am Hintern einer überreichen, dekadenten und gleichzeitig immer dümmeren Gesellschaft. Wie oft haben wir schon gehört, die klassische Musik sei am Ende, sie sei tot, sie sei nicht mehr zu retten. Gleichzeitig überschlagen sich Neurologen mit immer neuen Beweisen, dass das Spielen klassischer Musik intelligenter macht und die Kinder in noch genialere Leistungsdrohnen verwandeln wird (Und ich schreibe dies ohne jegliche Ironie, denn genau so denken viele Eltern – Ich weiß, wovon ich spreche). Ich weiß nicht, was von beiden ich unheimlicher finde.

Die Zeichen sind zu lesen, und sie sind eindeutig. Die klassische Musik ist schon lange gestorben, aber als faulender und vergammelnder Zombie hat sie ein noch langes Leben vor sich. Ich schreibe hier als Akademiker, und viele, viele Akademien bilden zusammen jedes Jahr hunderte von hervorragenden jungen Musikstudenten aus, und viele davon werden den widerlich faulenden Untoten der Klassik immer wieder mit neuem Leben und neuer Energie erfüllen.

Aber mit jedem neuen „internationalen“ Klein-Klavierwettbewerb in der Toskana stirbt die klassische Musik. Mit jedem ARD-Preisträger stirbt die klassische Musik. Und mit jedem Echo-Klassik-Preisträger stirbt die klassische Musik nicht nur, man schleudert sie auf die Erde, tritt sie mit einem grell lackierten Stiefel in die Fresse und dreht den Absatz herum. Und wenn dann noch André Rieu und David Garrett hinzukommen, wird es eine richtige Leichenschändung, denn dann kommt noch der Tatbestand der Vergewaltigung hinzu.

Ich rede jetzt nicht von schwindenden Publikumszahlen oder leeren Konzertsälen – das ist nicht das Problem. Ich finde es geradezu pervers, die Bedeutung von etwas am kommerziellen Erfolg festzumachen, genauso wie es pervers ist, sozialen Status von Menschen mit deren inneren Werten zu verwechseln. Wir wissen alle, dass ein mächtiger Politiker nicht notwendigerweise ein edler Mensch ist, und wir wissen auch, dass ein Stadionkonzert vor 60.000 Zuschauern keinerlei künstlerische Bedeutung haben kann, warum messen wir also den Wert von Musik allein an den verkauften Eintrittskarten?

Ich rede nicht vom ergrauenden Publikum, denn das war schon vor 100 Jahren ergraut, und da ging es der Klassik noch ziemlich gut. Nein, man hat die Leiche der Klassik hübsch geschminkt und sie auf einen Thron gesetzt, und vor diesem Thron kriechen die letzten Bildungsbürger dieses Landes und tun Buße, denn sie glauben, dass man dann in den Himmel kommt. Und das ist die Hölle auf Erden.
Es mag Sie überraschen – nachdem ich all dies gesagt habe – dass ich Ihnen ein Geständnis machen muss: Ich liebe klassische Musik. Und zwar aus tiefstem Herzen, heiß und innig. Ich liebe sie nicht, weil sie so schön klingt, sondern weil sie zu den erhabensten Leistungen der menschlichen Kultur zählt.

Es ist dies auch keine enttäuschte Liebe – ich spiele sehr gerne klassische Musik. Ich bin nicht frustriert, ich kann davon leben. Ich habe mein Leben einer Idee von klassischer Musik gewidmet, und dies nie bereut. Und ja, ich möchte auch meinen Studenten diese Liebe nahebringen, rede mit Ihnen über die exquisiten Subtilitäten von Schumann, die himmlischen Inspirationen von Mozart, die überragende Meisterschaft von Strawinsky. Ich wünsche mir auch, dass es diese Musik weiterhin gibt, dass sie verstanden wird, dass sie gut gespielt und vor allem gut und aus den richtigen Gründen geliebt wird. Weil sie Möglichkeiten eröffnet, den Geist erweitert, und unser niedriges Dasein zu transzendieren vermag . Aber ich mag diese Musik nicht mehr „klassische“ Musik nennen, denn für mich ist das keine klassische Plastik, die ich ins Museum stelle, sondern sehr, sehr lebendige Musik. Aber wenn es so weitergeht wie jetzt, wird das irgendwann nicht mehr der Fall sein. Die klassische Musik der Zukunft wird eine schicke Musique d’ameublement sein, einem BMW-Werbespot unterlegt. Das ist schlimmer als das Museum.

Die klassische Musik wird „benutzt“. Man muss die Musik von Wagner, von Beethoven, von Brahms „gemacht“ haben, sagt man zu einem jungen Dirigenten. Man muss sie „genommen“ haben, am besten mit einem richtig guten Orchester, das zum eigenen Beischlaf der selbstverliebten Verzückung gut aufspielen kann. Und um sich zu beweisen, muss man über diese Musik siegen wie ein Feldherr. Man spricht davon, dass ein Stück „gemeistert“ werden muss – solches Vokabular wird nirgendwo anders benutzt. Dirigenten wie zum Beispiel ein Thielemann wollen nicht musizieren, sie wollen triumphieren – das ist ein nicht ganz kleiner Unterschied zu den früheren „Kapellmeistern“, die vielleicht noch ein klein wenig Demut der Sache gegenüber in den Konzertsaal mitnahmen.

Warum die klassische Musik ein hoffnungsloser Fall ist? Sie ist nicht mehr lebendig, weil sie ein „Genre“ ist. Ein „Genre“ ist etwas feines, vor allem weil es sich in unserer suchmaschinisierten Welt leicht einordnen lässt. Ich lese Krimis, also empfiehlt mir Amazon Krimis. Ich lese Science Fiction, also empfiehlt mir Amazon Science-Fiction-Romane. Das sind Genres. Jedes Genre hat seine Klientel, und dagegen ist gewiss nichts einzuwenden. Lebendige Kunst aber ist etwas anderes. Die wirklich guten Krimis – nehmen wir zum Beispiel Raymond Chandler – sind nicht nur Krimis, sondern mehr als das, sie öffnen neue Türen und neue Fenster. „Don Quixote“ beginnt als Parodie eines Genres, nämlich des Ritterromans, und wird dann zu einem Meisterwerk der Literatur. Edgar Allen Poe ist kein Horrorautor, denn er erfindet das moderne Horrorgenre quasi im Alleingang. Er ist aber nicht Genre, sondern Begründer eines Genres, und das ist ein riesiger Unterschied.

In allen Künsten kennen wir den Freiraum einer generellen Bezeichnung. Literatur ist sowohl Genreliteratur als auch Hochliteratur als auch Trivialliteratur. Wir wissen alle, dass in diesem Haifischbecken der Möglichkeiten viel Schund existiert, aber wenn wir von Literatur sprechen, sprechen wir dennoch von einer lebendigen Kunstform, ebooks hin oder her, einfach weil es einen Bedarf danach gibt, dem Labyrinth unserer Wirklichkeit mittels Wörtern Herr zu werden, dichtend, reimend oder erfindend. In der Literatur existiert ein Hemingway neben einem Handke, ein Albert Camus neben einem Stephen King. Alte Literatur – wie zum Beispiel Goethe – überlebt, weil sie immer wieder neu interpretiert und umgedacht wird, verfilmt, vertont, gespielt, was auch immer. Dadurch ist sie lebendig. Gleichzeitig gibt es einen enormen Bedarf nach zeitgenössischer Literatur, einfach aus dem Grunde weil Sprache sich ändert ebenso wie Wahrnehmung sich ändert. Wenn man also das Wort „Literatur“ sagt, denkt man nicht automatisch nur an Homer oder Ovid, sondern man denkt selbstverständlich auch an lebende Autoren von heute.

Ebenso die bildende Kunst – das kann Design, Kunsthandwerk, Kunst am Bau oder Picasso sein, aber zuerst einmal ist es etwas, das aus einem bildnerischen, kreativen Impuls heraus entstanden ist. Wir bewundern alte Kunst, wir bewundern die Sixtinische Kapelle, aber wir wollen nicht allein in Sixtinischen Kapellen leben. Nur wenige von uns umgeben sich allein mit flämischen Gemälden des 17. Jahrhunderts, auch wenn diese sehr schön sind. Wenn wir also von Kunst sprechen, sprechen wir sowohl von Michelangelo als auch von Andy Warhol, und das ist gut und richtig so.
Aber die klassische Musik ist keine Kunst mehr. In ihren Adern fließt kein Blut mehr. Sie schläft, weil sie keinen Herzschlag mehr hat.

Die klassische Musik, so wie sie unsere Kultur seit ca. 60 Jahren behandelt, ist eine kalte und tote Statue. Nein, sie ist wie der abgefallene Arm eine Statue. Sie kommt mir vor wie amputiert – sie ist nicht mehr Teil der lebendigen, allgegenwärtigen Musikkultur. Ein amputiertes Glied kann in der Medizin nicht lange überleben, außer man näht es schnell wieder an. Es kann sein, dass es bei der klassischen Musik zu spät ist.

Die klassische Musik ist wie ein eingefrorenes musikalisches Genre, ähnlich wie zum Beispiel Dixieland-Jazz. Natürlich gibt es nach wie vor Dixieland-Jazz, und es gibt auch gute Dixieland-Musiker. Aber nur ganz wenige würden allen Ernstes behaupten, dass es sich bei Dixieland um ein lebendiges und zukunftsweisendes Genre handelt. Und sicherlich braucht man eine gewisse Form von Sturheit um ausschließlich Dixieland-Musik zu hören und zu spielen. Woody Allen schafft es nur, weil er nebenher noch Filme dreht.

Natürlich kann man argumentieren, dass klassische Musik ungemein reicher ist als Dixieland, und das stimmt. Aber was hat man ihr angetan? Man hat ca. 300 Jahre Musikgeschichte genommen, sich daraus die Rosinen gepickt, und diese in (Leonard?) Bernstein eingefroren. In diesem Bernstein kann man unendlich viel entdecken, aber es bleibt eine Archäologie des Eingefrorenen.

Klassische Musik ist aus einem einfachen Grund nicht mehr lebendig: sie ist nicht mehr Teil unserer klingenden Gegenwart. Sie könnte es sein, aber das wissen die meisten Konzertveranstalter nicht mehr und setzen lieber dieselben drei Stücke aufs Programm, bis in alle Ewigkeit. Musik unserer Zeit kommt darin nicht vor, außer als Crossover mit Popmusik.

Ich bin sicherlich nicht der Erste, der dieses Argument ausspricht, aber so lange in Konzerten klassischer Musik ca. 1% heutige Musik vorkommt, und das meistens als erstes Stück vor der Pause, kann sie nicht lebendig sein, denn diese 1% sind nichts weiteres als dreckiges Alibi. Sie sind das bisschen Putzmittel, das man ab und zu mal auf den Bernstein aufträgt, um ihn vom Staub zu befreien, mehr nicht.

So lange dies so ist, ist die klassische Musik ein Genre, dass sich nicht mehr weiterentwickeln kann, das in endloser Wiederholung erstarrt und atrophiert ist. Ein Genre ohne Hoffnung auf Belebung, , egal wie viel die geschminkten Stars von heute auf ihren Facebookseiten posieren und immer mehr Pornostars gleichen.

Wer dies erkennt, muss daraus Konsequenzen ziehen. Von diesen Konsequenzen möchte ich als nächstes sprechen.

(Fortsetzung folgt)

Moritz Eggert

der lange abschied

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Eine Antwort

  1. Guntram Erbe sagt:

    Schon vor etwa 45 Jahren versuchte ich, meinen Schülern nahezubringen, dass der Name der „Klassischen Musik“ und wie sie reproduziert und aufgenommen wird auf einem Missverständnis beruhe.
    Zwar wissen wir Fachleute eigentlich nicht, wie und warum Laien „klassische Musik“ hörten und hören. Wahrscheinlich geht es anderen Leuten vom Fach wie mir: höre ich Musik, läuft vor mir eine Partitur ab – auch bei unbekannten Stücken. Ich durchschaue manchmal oder vielleicht sogar meist, wie sie gemacht ist, freue mich, wenn ich dem Kompnisten auf die Schliche gekommen bin, und wundere mich über meine Empfindungen beim Altbekannten und beim überraschend Neuen.
    Das ist ein Hören (und war bei mir ein Machen beim Musizieren), das wahrscheinlich dem Laien nicht zu Verfügung steht.
    Dieses Hören funktioniert auch bei nachklassischer Musik und vorklassischer, schließlich habe ich ja die Musik von der Gregorianik an studiert und praktiziert und bin neugierig auf jetzt gerade Entstehendes.

    Nochmal zum Missverständnis:
    Das besteht beim Publikum und bestand bei den Komponisten. Die Hoffnung, der Kenner und Liebhaber würdige die kompositorische Leistung, war immer illusorisch.

    Trotzdem: „klassische Musik“ wird auch beim Laien weiterhin ankommen. Ihre Sprache wird in den Teilen immer „verstanden“, die aus ihr herausgebrochen und wiederverwertet worden sind, seien das die Squenzen in den Liedern des Udo Jürgens oder die Reminiszenzen in den Klavierstücken von Killmayer, u.s.w. – Moritz Eggerts Musik ist voll damit.

    Also: das Lamento ist zu Unrecht angestimmt.

    Ok, der Musikbetrieb rund um die „klassische Musik“ wird sich ändern, vielleicht radikal. Das ist auch bei meinem Gebrauch von „klassischer Musik“ so. Ich tummle mich lieber in Partituren, auf dem Sofa oder am Klavier sitzend, und auf youtube als im Konzertsaal.
    Fazit: so lange ich lebe – bestenfalls noch etwa 10 Jahre – führt die „klassische Musik“ ihr Leben weiter.
    Nach mir die Sintflut! ;-)