Vorbereitung der Atopie. Ein Text in 6 Teilen. Zweiter Teil: Der tiefe Schlaf

DER TIEFE SCHLAF

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Oft werde ich auf Partys gefragt, was ich eigentlich für Musik mache. Diese Frage ist für mich immer sehr schwer zu beantworten. Denn „Musik“ ist natürlich ein riesiger, quasi unendlicher Begriff. „Musik“ kann erst einmal die Johannes-Passion sein, oder auch die Musik der „Beatles“, beides ist „Musik“. Im Grunde ist es auch ganz gut, dass man beides als Musik bezeichnen kann. Denn natürlich gibt es in allen Arten von Musik – populärer Musik, Tanzmusik, Jazzmusik, improvisierter Musik, ethnischer Musik, experimenteller Musik, Filmmusik zuerst einmal eines, nämlich sehr, sehr viel nichtssagenden Schrott. Das verbindet schon mal alles. Aber in jedem dieser „Genres“ kann es gleichermaßen Herausragendes geben. Für mich gibt es keinerlei Qualitätsunterschied zwischen der Musik der Beatles und dem Gesamtwerk von Stockhausen. Ich wüsste sogar, was ich persönlich lieber mag.

Was soll ich also antworten? Sage ich „klassische Musik“, dann denkt mein Gegenüber, ich spiele Mozart und Bach, was zwar auch stimmt, aber eben nicht nur stimmt. Sage ich „neue Musik“ denkt mein Gegenüber, ich schreibe Pop-Musik. Sage ich, dass ich eine andere neue Musik mache, nämlich die „Neue Musik“ mit großem N, muss ich erst einmal lange erklären, was für ein Untergenre eines Untergenres der klassischen Musik das eigentlich ist, und dass das alles irgendwie mit Adorno zu tun hat. Den mein Gegenüber vielleicht auch nicht kennt.

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Party, und ihr Gegenüber erzählt Ihnen, er züchte Hunde. Sie fragen „was für Hunde?“ und er sagt „Pekinesen“. Sie sagen: „ach, das sind doch diese kleinen Hunde“, und er sagt, „Nein, Sie täuschen sich, ich züchte nordafghanische fleckig gescheckte Riesenpekinesen, die sind etwas größer als die südindischen Riesenpekinesen, aber kleiner als die honduranischen Riesenpekinesen, die aber nur zwischen dem 300. Und 301. Breitengrad zu finden sind“. Wenn Ihnen Ihr gegenüber nun die nächsten 3 Stunden über die nordafghanischen fleckig gescheckten Riesenpekinesen erzählt, können Sie sich vorstellen wie mühsam und langweilig es ist, einem Nicht-Eingeweihten zu erklären, was Neue Musik mit großem „N“ ist.

Neue Musik mit großem N ist aber Teil der „klassischen“ Musikkultur. Sie ist auf ausgebildete Musiker angewiesen, die fleißig an unseren Akademien studiert haben und sich über den angebotenen Lehrplan hinaus ins Zeug gelegt haben. Und damit ist die Neue Musik genauso ein Teil der schlafenden klassischen Musik, weil sie aus ihr hervorgeht.

Ich mag die klassische Musik nicht mehr im Dornröschenschlaf sehen, abgesondert von den aktuellen Entwicklungen in der Musik. Und damit meine ich keineswegs nur die Entwicklungen der klassischen zeitgenössischen Musik, was ohnehin ein viel zu umständlicher Begriff ist. Nein, ich meine die Entwicklungen in der gesamten Musik.

Es gibt so etwas wie die Summe aller Musik auf diesem Planeten, und diese Summe umfasst Hochkultur, Popkultur wie Subkultur. Alle diese Musikkulturen können relevante Entdeckungen, neue Ästhetiken, neue Klänge enthalten. Die Hochkultur ist sogar weniger Auslöser des Neuen, eher dessen besonders raffiniertes Sprachrohr, denn in der Hochkultur können Dinge auf eine Weise verfeinert und untersucht werden, die in der populären Kultur nur selten zur Verfügung steht. Komponisten wie zum Beispiel Schubert und Mozart haben die Volksmusik ihrer Zeit sehr wohl gekannt, aber auf unglaubliche Weise überhöht und dabei hinter die Fassade des reinen Gebrauches geblickt und das zu Tage gefördert, was uns als Menschen im Innersten berührt.

Dies ist aber ein beständiger Prozess – man kann nicht einfach behaupten, dass hier jetzt etwas erreicht wurde, das man jetzt permanent in die Vitrine stellen kann. Auch Mozart und Schubert sind nicht etwa ewig – das ist die größte Lüge des Bildungsbürgertums – sondern sehr wohl vergänglich, wenn man sie nicht immer wieder mit dem heutigen Blick konfrontiert.

Im Theater reibt man sich immer wieder an der Sprache und der Ästhetik der Vergangenheit. Es gibt neue Übersetzungen alter Stücke, einen ästhetischen Diskurs, man ringt immer wieder darum, zum Beispiel einen Goethe heute verständlich zu machen, was auch bedeutet, dass man ihn verfilmt, rappt, meinetwegen auch zum Musical macht. Um Goethe zu verstehen braucht es also die Übertragung ins Heutige. Das ist keine Schande, und Goethe selber hätte diese ständige Neuinterpretation sicherlich gefallen.

Natürlich wird nicht jedes neue Theaterstück in den Kanon übergehen und vielleicht wird es auch nur eine Saison lang gespielt. Aber das ist überhaupt nicht wichtig – denn ohne diese neuen Stücke ist auch ein Goethe nicht lebendig. Es überrascht also nicht, dass im Theater das Verhältnis alte und neue Stücke ungefähr 50% u 50% ist, was sicherlich ein sehr guter Zustand ist. Bei der klassischen Musik sieht es definitiv anders aus. In den Opernhäusern dominieren immer dieselben wenigen Stücke, und es wird schon als Wagnis angesehen, ein etwas unbekannteres (natürlich altes) Stück zu machen. Uraufführungen neuer Werke dienen nicht etwa dazu, diese ernsthaft ins Repertoire zu holen, sondern vor allem dem Prestigegewinn von Intendanten und Dramaturgen, und – seien wir mal ehrlich – auch der Komponisten. Man feiert es kurz ab, diskutiert es ein bisschen im Feuilleton, aber das neue Stück ist letztlich ein ungebetener Gast in der Galerie der schönen Mumien mit Namen „Zauberflöte“ oder „Aida“. Als Komponist fühlt man sich dann ein wenig wie Tom Cruise in Eyes Wide Shut – man besucht die geile Orgie, gehört aber nicht wirklich dazu.

Wenn allein die idiotische Manie ein Ende haben könnte, das jedes, aber auch absolut jedes Opernhaus, egal wie klein, auch mal den eigenen Ring der Nibelungen stemmen will, es wäre so viel Platz wie noch nie für Neues. Aber nein, irgendwann wird es nur noch den Ring der Nibelungen geben, überall, aber niemand wird ihn mehr verstehen. Ich bin ziemlich sicher, dass schon heute niemand im Bayreuther Leitungsteam auch nur annähernd den „Ring“ versteht, sonst würden sie sich nicht so krampfhaft an die jeweils aktuellen Kunstkasperl klammern, die gerade so in der Gegend herumwerkeln, in der Hoffnung etwas Glamour zu erzeugen, der nur darüber hinwegtäuschen soll, dass auch Bayreuth schon lange mausetot ist. Und der Grund dafür ist, dass man dort nur Wagner spielt, und nichts anderes. Das tut auch einem Wagner nicht gut. Im Grunde tut es ja niemandem gut, wenn man ihn einbalsamiert. Aber genau das passiert, wenn „Nessun‘ Dorma“ zur Castingshownummer verkommt, oder Mozart auf einer CD „Klassik zum Kuscheln“ veröffentlicht wird, die dann für 99 Cent an der Supermarktkasse beim Aldi zu finden ist.

Man kann Klassik nur verstehen als etwas, das in hunderten Jahren Musikgeschichte eine bestimmte Größe und Bedeutung erlangt hat, etwas, das über die Jahrhunderte eine Ausstrahlung erreicht hat, die man immer wieder durch Spiegelung mit dem Neuen erringen will, weil das, was gesagt wird, wahr ist. Aber man kann nur Herausfinden ob etwas wahr ist, wenn man es immer wieder aufs Neue befragen kann. Wenn es dann immer wieder eine Antwort hat, dann ist es wahr.

Und diese Wahrheit versteht schon lange keiner mehr der Juroren zum Beispiel eines typischen Klassik-Wettbewerbs, denn diese lassen lieber dressierte Pferdchen vortanzen, die brav die Interpretation vorführen, die sie schon lange erwarten. Würde zum Beispiel ein Artur Schnabel – der im Gegensatz zu den meisten heutigen Klassikstars weder aussah wie ein Pornostar und tatsächlich auch schon mal ein Buch gelesen hatte – heute beim Tschaikowsky-Wettbewerb vorspielen, er würde schon in der ersten Runde ausscheiden. Er gehörte aber noch zu einer Pianistengeneration, für die die Interpretation noch mehr bedeutete als nur das brave Abliefern von Noten, sondern etwas war, das errungen wird aus einer Kenntnis des Neuen. Als diese Generation noch aktiv war, war die Klassik quicklebendig, heute ist sie es nicht mehr. Das liegt nicht am fehlenden Talent heutiger Musiker – tatsächlich haben wir enorm talentierte Musiker, auch heute. Aber wie können sie sich entfalten, wenn sie in der Parade der Zombiekonzerte artig vortanzen müssen, von Flughafen zu Flughafen hetzend, dabei unter enormen Leistungsdruck stehend, stets perfekt und überragend zu sein, aber immer nur Repertoire spielend, dass schon Tausende vor ihnen exakt fucking gleich gespielt haben? Und dabei zu wissen, dass im selben Moment schon 2 Millionen Chinesen bereitstehen, sie abzulösen?

Die Frage ist doch: kann so überhaupt noch authentische, wahrhafte Kunst entstehen?

Nein, nein, nein.

Ich denke, wir haben es hier nur noch mit dem Schatten von Wahrheit zu tun, der höhlengleichnismäßig an eine Wand projiziert wird. Aber das Licht ist schon lange erloschen, weil man die Flamme nicht mehr am Leben hält.

Daher wünsche ich mir einen Ritter, der das Dornröschen Klassische Musik nicht nur aus ihrem Schlaf befreit, sondern sie mit einem Tritt in die Wirklichkeit befördert.

Moritz Eggert

(Fortsetzung folgt)

big sleep

5 Antworten

  1. Guntram Erbe sagt:

    Nein, es ist mir nicht peinlich, gleich meinen Senf zum Obigen abzugeben. ;-)

    Hm, ja, wie könntest Du Deine „Neue Musik“ definieren und erläutern?
    Wahrscheinlich ist das positiv gar nicht möglich. Leichter wird es Dir fallen, zu sagen, was Deine „Neue Musik“ nicht ist oder nicht sein soll.
    Das Resultat mag passabel ausfallen, aber trifft so ein argumentativer Rundumschlag (zu)?
    Schauen wir mal die Ausgangslage an:
    • Auf der einen Seite existiert ein riesen Pott voller Musik aller Zeiten, Kulturen, Funktionen und Qualitäten. Die hast du alle gehört, gelesen, studiert und teilweise praktiziert und kannst Dich natürlich (!) von ihr nicht freimachen.
    • Auf der anderen Seite existierst Du, der sich musikalisch als Komponist betätigen und ausdrücken will und bestätigt werden möchte, und der vom Komponierten leben will.

    Und schon bist Du in einer Bredouille.

    Die Ohren kannst Du nicht verschließen, die Erinnerung nicht ausschalten, das Gelernte und Geübte nicht beiseiteschieben.
    Nur etwas machen zu wollen, das all das nicht ist, reicht nicht.
    Übrig bleibt:
    Du vertraust Deiner Intuition, probierst Wege aus und bedienst Dich dabei großzügig, vielleicht schamlos bei allem, das es schon gegeben hat.
    Und dann wird es Leute geben, die Dein so entstandenes „Zeug“ musizieren (machen) wollen und Leute, die Spaß daran haben es anzuhören und anzusehen und die vielleicht sogar im Innern berührt werden.
    Und ein paar Apostel werden sich auch finden.

    Nur: Was ist so neu daran?

  2. der Text hat 6 Teile, lieber Guntram…es geht auch nicht um eine „neue“ Neue Musik, sondern um eine Haltung zur Musik und zum Komponieren. Lösungen kann ich nicht liefern – es gibt keine Kunst nach Rezept (gottseidank). Aber ein anderer Blick auf die Dinge kann viel verändern, und darum geht es eigentlich. Alles was Du schreibst ist ja auf jeden Fall richtig, sollte es aber nicht dennoch eine ästhetische Diskussion geben? Ich denke schon…

  3. Guntram Erbe sagt:

    Das Dilemma will ich so beschreiben:
    • Eine definierbare Ästhetik, nach der man sich beim Komponieren richtet, wäre ein Rezept.
    • Eine Ästhetik, die aufgrund des Komponierten definiert wird, kommt zu spät.

    Ps.: wenn Kommentare erst nach Abschluss der sechs Teile erwünscht sind, kann man ja die Kommentarfunktion ausschalten.

  4. Es hat ja niemand gesagt, dass Kommentare unerwünscht sind.
    <<<>>>
    Ich glaube nicht, dass man sich nach einer Ästhetik „richten“ kann, also kann sie auch kein Rezept sein. Ästhetik ist eine Wahrnehmung, nicht die Methode der Herstellung. Aus einer interessanten Wahrnehmung von Dingen kann interessante Kunst resultieren, aber nur wenn man auch etwas zu sagen hat.
    Über die Wahrnehmung leidenschaftlich zu diskutieren, heißt die eigenen Mittel zur Herstellung von Kunst zu schärfen, deswegen war eine angeregte ästhetische Diskussion immer Bestandteil interessanter künstlerischer Epochen.

    Letztlich geht es in der Kunst natürlich um Intuition und das große Nichtwissen. Und da dies so schwer zu definieren ist (gottseidank) fällt es leichter über die Dinge zu diskutieren, die man nicht will.

  5. knopfspiel sagt:

    Super Artikel. :-)

    Und die Frage „was für Musik machst du?“ bringt mich nach wie vor oft fast zur Verzweiflung.
    Mein derzeitiger Versuch ist, mit „Kunstmusik!“ zu antworten. (Als ob das was erklären würde, hehe) Und wenn das unklar ist, einen Vergleich zu ziehen zu bildender Kunst oder Aktionskunst… denn davon haben heute noch mehr Leute eine Ahnung als von Neuer Musik.
    So mag das Label „Kunstmusik“ sinnlos sein, weil ich *eigentlich* ja alle Musik bzw. alles kreative Schaffen in die Kategorie Kunst stecke – aber wenn das Wort dennoch die richtigen Assoziationen weckt, ist mir das lieber, als eine lange Erklärung abzugeben, die dann doch nicht ankommt.