Gaudeamus 2025 – Auf der Suche nach dem Klang

Mein Lieblingsbild von Hans-Joachim Hespos, in der Garderobe des Tivoli Vredenburg, Utrecht
Gaudeamus 2025 – Auf der Suche nach dem Klang
Mit Gaudeamus verbindet mich persönlich eine lange Geschichte, da ich dort meine allerersten Auftritte als Pianist und Komponist hatte. Am besten schreibe ich nicht, wie lange das her ist, aber es ist „verdamp lang her“, wie BAP sagen würde (und Kölsch ist ja sogar nahe am Holländischen). Daher war es für mich sehr schön, dieses Jahr als Jurymitglied dabei zu sein, viele alte Freundinnen und Freunde wiederzutreffen und vor allem neue Musik aus aller Welt zu hören, in fünf dichtgedrängten Tagen voller Konzerte, vom 10.-14. September 2025.
Die Gaudeamus-Foundation als Organisation hat mehrere Verwandlungen durchgemacht, aber der Fokus lag immer auf der Förderung des internationalen Nachwuchses im Bereich Komposition. 1945 wurde sie durch den deutschjüdischen Immigranten Walter Maas gegründet (den ich sogar noch 1989 erleben durfte, als ich als Pianist am Interpreten Wettbewerb teilnahm) und hat aktuell ihren Sitz in Utrecht, wo auch jedes Jahr das Gaudeamus Festival stattfindet, als einer der wichtigsten Termine der zeitgenössischen Musikszene. Die Liste der Preisträgerinnen und Preisträger kann sich sehen lassen, man findet dort Namen wie Louis Andriessen, Unsuk Chin, Michael Jarrell und Richard Ayres.
Gemeinsam mit meinen lieben Kollegen Isabel Mundry und Yannis Kyriakides (auch ein ehemaliger Preisträger) war ich dieses Jahr für die Auswahl der Nominierten verantwortlich, vier an der Zahl: Yaz Lancaster, Golnaz Shariatzadeh, Robin Haigh und Matthew Grouse. Das System der Nominierungen besteht seit 2022 und gibt den aus hunderten von Einsendungen ausgewählten Nominierten ein größeres Showcase als nur die Aufführung eines einzigen Werks – gemeinsam mit den beim Festival aktiven Ensembles werden mehrere Werke der Kandidaten zur Aufführung ausgewählt, darunter auch eine Uraufführung. Am Ende des Festivals gibt es dann eine Preisträgerin oder einen Preisträger, der/die einen größeren Auftrag für das nächste Jahr bekommt.
Wir als Jury waren daher verpflichtet, auf jeden Fall die Konzerte mit Stücken von Preisträgern zu besuchen, zudem standen auch noch Aufführungen unserer Werke an (in meinem Fall die Uraufführung von Hämmerklavier XXXIII: Ultra, 1. Segment). Bei über 100 Konzertauftritten, Happenings, Installationen und Vorträgen (oft zeitgleich) in nur fünf Tagen sahen wir daher zwar sicherlich eine Menge, aber dennoch nur einen kleinen Ausschnitt des gesamten Programms. Für Holland typisch bekamen wir sogar Fahrräder gestellt, um die zum Teil an unterschiedlichen Orten der Stadt stattfindenden Konzerte erreichen zu können (was uns nicht immer perfekt gelang, da wir zwischendrin auch noch Workshops für Studierende gaben). Dennoch bekam man einen guten Eindruck von den Themen, die die junge Generation momentan umtreiben. Politik spielte dabei eine größere Rolle als in früheren Ausgaben des Festivals – ganz sicher ein Zeichen der Zeit.
In diesem Zusammenhang wirkte der Fall der Nominierten Golnaz Shariatzadeh besonders symbolisch: diese junge iranische Komponistin hat ihr Land aus politischen Gründen verlassen, um in den USA ihre Kunst weiterzuentwickeln (bei unter anderem Chaya Czernowin). Doch ihre neue Heimat erwies sich ebenfalls als Gefängnis: als Einzige der Nominierten war es ihr nicht möglich, in die Niederlande zu kommen – mit ihrem iranischen Pass würde ihr die Wiedereinreise in die USA nach der neuen Immigrationspolitik verweigert und sie hätte alles verloren, was sie sich dort aufgebaut hat. Dass sie nur per Video zugeschaltet werden konnte, empfanden wir alle als traurig und bedrückend. Zur bitteren Fußnote wurde daher ihre Anwesenheit per Videoschalte bei der Preiszeremonie im letzten Konzert – irgendwann wird der Zoom-Link abgeschaltet und der Bildschirm bleibt schwarz, eine unbeantwortete Frage steht im Raum.
Ihre Kollegin Yaz Lancaster berichtete Erschreckendes aus ihrer Nachbarschaft in New York, einer Stadt die wir alle nach wie vor mit Weltoffenheit und Vielfalt assoziieren. Inzwischen sind an manchen Tagen dort ganze Stadtteile wie ausgestorben, da alle sich vor ICE-Razzien verstecken müssen. Restaurants sind geschlossen, da ein Großteil der Belegschaft Deportation fürchten muss. An Kreuzungen werden Straßensperren errichtet und alle müssen ihre Ausweise zeigen – wer nicht die richtigen Papiere dabei hat, kann sofort deportiert werden. In dieser Atmosphäre der Angst bekommen Kunst und Musik noch einmal eine andere Bedeutung – es ist unmöglich, sich in akademische Nischen zurückzuziehen, wofür die Musik von Yaz Lancaster der beste Beweis ist. In ihren Stücken geht es um sehr persönliche Themen wie Identitätssuche oder auch das fast schon physische Eintauchen in extreme Feedbackschleifen aus elektronischen Klängen, die bis an die Schmerzgrenze gehen (daher wurden im Publikum tatsächlich auch Ohrstöpsel verteilt, deren Verwendung ausdrücklich empfohlen wurde).
Die beiden anderen Nominierten – die Engländer Robin Haigh und Matthew Grouse – repräsentieren wiederum unterschiedliche Strömungen. Robin Haigh kommt aus einem Background als Metalgitarrist und behauptet sich in der eher konservativen britischen Szene als bewusst nicht akademischer Konzertkomponist, der einen direkten Zugang zum Publikum sucht. Seine Musik ist von großer Musikalität und direkter Ansprache geprägt, besonders gelungen in seinem „Blockflötenkonzert“ Aesop 2, das bewusst einen nicht ausgebildeten Blockflötisten als Interpreten verlangt (in diesem Fall Robin selbst). Was wie ein Rezept für etwas Schreckliches klingt, erweist sich als eines der witzigsten und unterhaltsamsten Stücke des ganzen Festivals, ist dabei aber keine Sekunde banal oder anbiedernd.
Matthew Grouse dagegen ist mit seinen sehr unterschiedlichen Werken auf der Höhe der europäischen Konzeptmusikszene, mit Nähe zu Komponisten wie Simon Steen- Andersen (Grouse studiert auch in Kopenhagen) oder Johannes Kreidler. In seinem Auftragswerk für das hervorragende NADAR-Ensemble thematisiert er das Ensemble, sich selbst als Komponisten und den Entstehungsprozess des Werkes, dabei verfremdet er aber subtil den dokumentarischen Ansatz unter Verwendung von Zoom-Calls als Videomaterial und erzeugt Momente von einerseits großer Komik wie auch erstaunlicher Tiefe. Damit geht das Stück über den reinen „Gag“ hinaus und vermochte auch musikalisch ganz ohne Konzept zu überzeugen, was anderen Stücken im Festival nicht immer so gut gelang.
Der richtige Umgang mit „Konzepten“ erweist sich als eine der Hauptherausforderungen der jungen Generation. So waren viele Stücke zu sehen, die sich eines ernsten und würdigen Themas annahmen und daraus ein strenges Konzept bastelten, dann aber an der rein musikalischen Ebene scheitern. Manches schrammt dann eher an Laientheater heran, vor allem, wenn Musiker auch als Darsteller eingesetzt werden (was nicht immer funktioniert). Andererseits ist zunehmend ein Trend zu verspüren, dass sich Ensembles speziell auch um die Performance-Qualitäten ihrer Mitglieder herum formieren – ein gutes Beispiel hierfür ist zum Beispiel das Duo SMASH (Chloe Abbott, Trompete und Moritz Koch, Schlagzeug), die ihre Konzerte komplett szenisch durchgestalten und sowohl als Performer wie auch als hervorragende Musiker überzeugen können. Aber auch das erwähnte Ensemble Nadar wie auch das Ensemble K!ART aus Dänemark pflegen einen interdisziplinären Zugang, sie treten nicht nur als Musiker, sondern auch als Akteure, Sprecher und damit auch als Darsteller in Erscheinung. Die Selbstinszenierung – so amüsant sie oft ist – läuft manchmal Gefahr, das dominierende Element zu werden, gleichzeitig greift dieser Trend auch auf die Kompositionen über. So inszeniert der irische Komponist Paul Scully zum Beispiel seinen Versuch, einen persönlichen Laufrekord zu brechen, samt Live-Videoübertragung und Thematisieren des eigenen Scheiterns, wenn der Komponist zu spät im Konzertsaal ankommt, um den Schlussakkord zu spielen.
Einen im Kontrast dazu puristischen (= rein musikalischen) Ansatz vertritt das großartige IEMA-Ensemble, das gleich mehrere Konzerte im Festival bestritt und im großen Abschluss-Wandelkonzert im Tivoli Vredenburg einen wichtigen Beitrag mit verschiedenen Kammermusikformationen leistete. Was hier seit vielen Jahren an fantastischen und engagierten jungen Musiker:innen aus der Ensemble Modern Academy-Schmiede zusammenkommt, ist wirklich beeindruckend und macht große Hoffnung auf die Zukunft (der DKV wird deswegen auch IEMA dieses Jahr in Donaueschingen mit der FEM-Nadel ehren).
Was auffällt, ist dass das Thema der außergewöhnlichen Klangerzeugung nach wie vor die junge Generation beschäftigt. Die jungen Komponierenden scheinen nicht müde zu werden, immer wieder neue Wege zu erforschen, Kratzgeräusche auf einer Geige zu erzeugen, obwohl man meinen würde, dass dieses Thema inzwischen doch ziemlich – zumindest für den Moment – abgegrast sein sollte. So gab es lange Konzerte, in denen kein einziges Mal ein Instrument normal gespielt wurde. Dies mag einmal einen transgressiven Effekt gehabt haben, ist aber nun eher die Norm und verliert damit das Spektakuläre oder Schockierende. Als Juror musste ich mich durch hunderte Partituren kämpfen, die immer wieder dieselben langen Legenden als Vorwort haben, und erst einmal dutzende Multiphonics (aus immer denselben Büchern) und fortgeschrittene Spieltechniken erklären. All diese Partituren werden sich dadurch immer ähnlicher und wirken austauschbar, und die Frage stellt sich, ob nicht vielleicht gerade die zunehmende Kategorisierung und Verbreitung dieser Spieltechniken innerhalb der Neue-Musik-Szene auch einen sich selbst replizierenden Effekt hat. Inzwischen ist der Standard der Musizierenden so hoch, dass es fast wie ein Muss wirkt, deren Fähigkeiten auf diesem Gebiet einzusetzen. Das Ganze erinnert einen an die immer mehr ausufernden Verzierungsnotationsorgien des Barocks, die schon damals irgendwann in Stücken resultierten, die nur noch aus Figuration bestanden, deren Einfälle aber nicht mehr zu überzeugen wusste.
Ich frage mich dann immer wieder: ist Klang wirklich das Interessanteste an der Musik, oder ist es nicht eher das, was die Musik erzählen will? Allzu zynisch sollte man aber gegenüber diesen Entwicklungen nicht sein, denn auch wenn manche Stücke eher an Geräusche aus einem offenstehenden Kühlschrank erinnern, weiß doch immer wieder eine spezifische Klangwelt zu faszinieren. Dennoch: man hört sofort, ob die musikalische Ebene „stimmt“, oder ob der Klang quasi als Selbstzweck dahinwabert. Ist ersteres der Fall, macht alles plötzlich Sinn.
Spezialisierung ist auch ein Thema des kanadischen Quartetts „Bozzini“, das ebenfalls eine größere Rolle beim Festival spielte, u.a. mit der Präsentation von jungen Talenten aus Kanada. Die überzeugende Darbietung von Mikrotonalität ist eine der Spezialitäten des Quartetts, auch dies ein Standard, der sich durchgesetzt hat und von Komponierenden daher viel bedenkenloser verwendet werden kann als früher.
Am Ende des Tages zählt aber natürlich auch, ob das Ganze auch ein Publikum erreicht, und hier hat das Gaudeamus-Festival eine glänzende Bilanz zu bieten: die Konzerte waren tatsächlich zum größten Teil brechend voll und bis auf den letzten Platz gefüllt, mit einem auffallend jungen und interessierten Publikum. Als einiges der wenigen Neue-Musik-Festivals bietet es sogar erfolgreiche Abo-Modelle wie bei einem Opernhaus oder einem Symphonieorchester an. All dies gründet einerseits auf kluger Programmplanung wie auch dem Standortvorteil Niederlande – da dort sehr viel Kultur auf engem Raum stattfindet, ist der Weg aus den Nachbarstädten nie weit – man kommt nach dem Konzert auf jeden Fall leicht zurück nach zum Beispiel Den Haag oder Amsterdam.
Aber auch in den Niederlanden sieht nicht alles rosig aus – der dort schon länger zurückliegende Rechtsruck in der Politik hat massive Spuren in der Musikszene hinterlassen, die sich trotzig mit oft dezidiert multikulturellen und progressiven Programmen entgegenstellt. Der Besuch eines Festivals wie Gaudeamus ist also auch ein politisches Statement, und es wird Wert darauf gelegt, dass das Festival mit einem besorgten Vortrag über die „Situation der Neuen Musik in den Niederlanden“ beginnt.
Gerade in der Gefährdung entstehen aber künstlerische Energien, die Hoffnung machen. Es geht um etwas, die Musik findet nicht im luftleeren Raum statt und stellt sich den Herausforderungen der Zeit – natürlich nicht nur den populistischen Tendenzen, sondern auch den Veränderungen durch moderne Technologien wie zum Beispiel KI. Symbolisch hierfür war das „Roboterkonzert“ Ways of [] von Zeno van den Broek, bei dem die Solist:innen von „Les Percussions de Strasbourg“ mit selbstspielenden Musikmaschinen interagierten. Das war einerseits hochmodern, andererseits dann auch wieder nicht so weit von rhythmischen Modellen wie bei Carl Orff entfernt – alles ist sehr eckig, mathematisch und „straight“. Ist es zynische Dystopie oder spielerische Aneignung? Die Antwort blieb offen, die Frage aber wird in den kommenden Jahren ganz sicher aktuell bleiben, so wie auch ganz sicher das Gaudeamus Festival, das sich immer wieder neu erfindet.
Hier musikalische Eindrücke aus den Konzerten, als Sammelsurium meiner Instagram-Posts:
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