Die Wächter der Klassik! Über das merkwürdige „Schutzbedürfnis“ der „Klassikliebhaber“

In meinem Leben habe ich schon oft öffentlich über Musik referiert. Zum Beispiel bei unzähligen Konzerteinführungen (ein – meiner Meinung nach – immer noch unterschätztes und viel zu oft furchtbar langweilig angebotenes Musikvermittlungsformat). Und es gab nicht eine einzige Konzerteinführung, nachdem nicht mindestens eine Person aus dem Publikum zu mir kam und mich noch angesprochen hat. Meistens gibt es einen kurzen Dank (über den ich mich jedes Mal gleich freue) und noch eine interessierte Nachfrage. Eine häufige Frage ist auch (was ich immer sehr süß finde): „Wie lange dauert denn das ganze Konzertprogramm?“ (Diese Nachfrage ist absolut berechtigt, gerade, wenn man noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause fahren muss. Viele Veranstalter drucken deswegen inzwischen in ihren Programmheften die Länge der aufgeführten Werke ab.)

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Aber wir alle, die Konzerteinführungen machen/gemacht haben, kennen diesen einen älteren Herrn. Diesen einen (sicherlich in Teilen seines Privatlebens total liebenswerten) älteren Herren, der mit leiser Stimme und recht schnellem Sprechrhythmus (und ohne Dank für dich als Referentin/Referenten) kurz anmerkt: „Sie haben da einen Fehler gemacht. Furtwängler hat auch oft …“. Und dann kommt meistens etwas, was eigentlich total schön sein könnte: Jemand teilt (s)eine Erfahrung. Und erzählt dir, dass Furtwängler diese und jene Sinfonie auch Neunzehnhundertdrölf schon mit den Pummelsdorfer Philharmonikern aufgeführt hat (Kennerinnen und Kenner wissen: Furtwängler hat niemals die Pummelsdorfer Philharmoniker dirigiert, freilich!).

In meinem Leben gab es diesen einen Herrn in einer großen, bekannten Spielstätte unseres Landes. Er war quasi bei jedem Konzert, zu dem ich die Konzerteinführung beisteuerte, anwesend. Jedes Mal kam er nachher zu mir. Und jedes Mal musste ich ihm einen Stork Riesen aus der Tüte geben und in seine Fresse schmieren. (Entschuldigung. Diese Anmerkung rekurriert auf eine Werbefernseh-Erfahrung der 90er Jahre und ist nicht gewaltvoll gemeint. Anmerkung vom 27. März 2023: Diesen Artikel hatte ich ein paar Tage vor der Marco-Goecke-Affäre in Hannover geschrieben!).

Gefühlte Jahre lang machte ich gute Miene zum langweiligen Spiel. Er „verbesserte“ irgendetwas, ich sagte brav: „Ah, ja, interessant. Ganz herzlichen Dank.“ Doch einmal hatte ich tatsächlich das Aufnahmedatum einer Dietrich-Fischer-Dieskau-Aufnahme so gut recherchiert, dass ich mir ganz sicher war: Es war eine Aufnahme aus dem Jahr 1976, nicht von 1977. (Viele unterscheiden beim Thema „Studioproduktionen“ übrigens nicht zwischen Veröffentlichungsjahr und Produktionsjahr!). Im Rahmen meiner Konzerteinführung erwähnte ich diese Aufnahme, ließ wohl auch einen Ausschnitt daraus abspielen (aus irgendwelchen dramaturgischen Gründen). Natürlich mit Angabe der Jahreszahl. Dietrich Fischer-Dieskau triggert ältere „Klassikliebhaber“ total! Erwähnt man den Namen, dann werden bestimmte Angehörige bestimmter Generationen plötzlich hellwach. Den kennen Sie noch, haben ihn unzählige Male gehört, haben viele Deutsche Mark ausgegeben, um sich die vielen Schallplatten-Schubert-Schuber mit Fischer-Dieskau (und wahlweise Moore, Barenboim, Richter oder what else) in die Eiche-Rustikal-Regalwand zu löten.

Besagter älterer Herr kam also auf mich zu, merkte kurz an, dass ich einen Fehler gemacht hätte (die Fischer-Dieskau-Aufnahme sei aus dem Jahr xy!) – und verschwand (grußlos!). Da aber musste ich eingreifen, bat den Herrn (ich möchte fast sagen: „zitierte“!) noch einmal zu mir, zeigte ihm die Quelle und stellte einfach noch einmal fest: Ich lag richtig. Er nicht. (Der Herr ist dann in der besagten Nacht noch im Alter von 103 Jahren verstorben. Scherz! Er möge leben und sich bester Gesundheit erfreuen. Aber er möge mich nicht vergessen haben!). Manchmal muss man so etwas machen!

Und damit komme ich zum Punkt: Ich beobachte immer noch so etwas wie ein „Schutzbedürfnis“, was die hehre klassische Musik anbelangt. Macht zum Beispiel eine junge Dramaturgin eine Konzerteinführung, dann finden es manche alte Männer zu schön, wenn diese junge Dramaturgin vielleicht (!) noch ein wenig aufgeregt ist. Denn: Was für eine Unverschämtheit ist das überhaupt, dass ein junger Mensch vor (liebenswerten!) Seniorinnen und Senioren über Mozart, Beethoven, Brahms und Bli-Bla-Blubb spricht? Das triggert die Leute! Einige jedenfalls. Und führt zu einer für mich manchmal unaushaltbaren Anspannung im Saal.

Ich frage mich, warum das so sein muss. Ich frage mich, warum manche Menschen (und es sind überhaupt nicht nur Ältere!) die „Klassik“ so unbedingt „schützen“ wollen! Vor wem denn bitteschön? Und: Es ist keine (!) großartige Eigenleistung, wenn man irgendwo schon 55 Jahre ein Konzert-Abo hat. Das geht aber nicht in manche Köpfe rein (vermute ich). Nein, manche Herren denken, dieses Absitzen von Konzerten sei bereits per se kompetenzstiftend. Ist es aber gar nicht. Jedenfalls nicht in dem Maße, das ich für angemessen halte, um jüngere Leute (oder zum Beispiel hochbegabte, tolle junge Dramaturginnen) ständig pseudoinformiert zu „korrigieren“.

Bitte lasst uns mehr über dieses merkwürdige „Schutzbedürfnis“ in Sachen „Klassik“ sprechen. Danke. Ciao.

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.