Leistung
Tagebuch der Wörter (26)
Leistung
Wer zum ersten Mal einen Halbmarathon oder Marathon rennt, wird höchstwahrscheinlich erst einmal loslaufen, wie es taugt, d.h. so schnell die Beine tragen. Das geht ein paar Kilometer gut, weil einen das Adrenalin trägt und der Körper in Hochspannung ist, doch dann beginnt irgendwann das, was man auf Englisch „grind“ nennt, und einen stetigen Abbau der Leistungsenergie zur Folge hat. Es ist nicht unüblich, dass Läufer in nur einem Bruchteil des Tempos ins Ziel schleichen, mit dem sie den Lauf begonnen haben. Oder sie geben vorher auf, gerne nach dem berühmten „Mann mit dem Hammer“, der nach Marathonaberglauben ungefähr bei Kilometer 31 auf einen wartet.
Marathonveteranen haben hierzu verschiedene Taktiken, die man bei Wettläufen immer wieder erleben kann. Sehr viele nehmen zum Beispiel die erste Hälfte eines Laufs bewusst langsam und drehen dann immer mehr auf, andere wiederum nutzen gerade die Anfangsenergie ganz bewusst so weit aus wie möglich und bauen dann sorgfältig und kontrolliert ab, bis sie wieder am Schluss anziehen.
Nach heutiger Sportwissenschaft sind beide Ansätze problematisch – die jüngsten Rekorde in Marathons wurden von Läufern erreicht, die exakt eine durchgehende Leistung bringen, die auf sie zugeschnitten ist. Sind sie ein wenig zu schnell, saufen sie vorm Ziel ab, aber wenn sie es schaffen, haben sie quasi die ihnen zur Verfügung stehende Energie perfekt auf den Lauf aufgeteilt. Das kann man perfektionieren, wie zum Beispiel beim inoffiziellen Weltrekord von Eliud Kipchoge, dazu braucht man aber Mitläufer und einen Laserstrahl, der vor einem eine exakte Linie projiziert, hinter der man möglichst genau laufen muss.
Da man all dies nicht immer zur Hand hat, gibt es eine Alternative, nämlich sogenannte Laufleistungsmesser, zum Beispiel diesen hier. Die Technologie hierfür kommt vom Radfahren und steckt noch ein bisschen in den Kinder(läufer)schuhen, aber grundsätzlich ist es möglich, mittels eines kleinen Pods am Schuh die Laufleistung zu messen, die in Watt pro Kilogramm gemessen wird (bei jeder Läuferin also anders ist, je nach Größe und Gewicht). Das wichtigste dabei: der Sensor nimmt Steigungen und Gefälle per GPS wahr und passt die Laufleistungsmessung dementsprechend an, auch Gegenwind wird einberechnet.
Theoretisch kann man also durch Trainingsanalyse die perfekte „Leistung“ für einen Wettbewerb errechnen, die man dann möglichst gleichmäßig laufen sollte, da dies am vielversprechendsten ist.
Bei meinem in zwei Etappen aufgeteilten Marathon am Chiemsee heute und gestern konnte ich das Konzept mal wieder gut ausprobieren. Man schaut dann während des Laufs keineswegs auf das Tempo, sondern auf die angezeigte Leistung, die bergauf dramatisch in die Höhe geht (also eher einen Gang rausnehmen) und bergab dramatisch sinkt (also einen Zahn zulegen).
Am ersten Tag war ich mal wieder überambitioniert und rannte drauflos, natürlich viel zu schnell, wie sich dann herausstellte (obwohl es sich noch locker anfühlte). Kontinuierlich ließ dann die Laufleistung nach wegen Erschöpfung – nicht dramatisch (dazu habe ich schon zu viel Erfahrung), aber doch spürbar. Am Ende hat man dann aber einen Durchschnittswert, der sehr interessant ist, denn das wäre eigentlich die perfekte Laufleistung am Anfang gewesen.
Am nächsten Tag nahm ich also diesen Wert als neue Ausgangsbasis und fing daher noch einmal deutlich langsamer an, versuchte aber dann genau diesen Wert die ganze Zeit zu halten. Und siehe da, der Lauf verlief wesentlich angenehmer und ich konnte die Zeit vom Vortag fast noch einmal wiederholen (es ist normal, dass man am zweiten Tag etwas langsamer ist wegen der Anstrengung). Außerdem fühlte sich der Lauf insgesamt weniger krass an, denn die Belastung war nun viel gleichmäßiger verteilt, ich hatte also viel längere Passagen, in denen es sich noch entspannt anfühlte und daher mehr Reserven für die Endphase.
Warum ich das alles erzähle? Weil es für mich sehr viel mit Ansätzen zum kreativen Arbeiten zu tun hat. Wir kennen alle den Typus der Komponistinnen und Komponisten, die bis zum letzten Moment warten, bis sie ein Stück beginnen, und dann tage-und nächtelang in einer enormen Anstrengung das Stück fertigschreiben, bis sie so ausgepowert sind, dass sie erst einmal monatelang nicht mehr komponieren wollen. Das wäre der Typus „Schönberg“.
Dann gibt es den Typus „Bach“, das sind die Komponisten, die eigentlich jeden Tag kontinuierlich arbeiten, sich dabei aber nicht so verausgaben, dass sie „nicht mehr können“. Das hätte sich Bach auch gar nicht leisten können, bei den unendlich vielen Verpflichtungen als Thomaskantor.
Welcher Typus ist besser? Diese Frage ist schwer zu beantworten, da es für beide Typen großartige Beispiele gibt. Man sollte sich eher die Frage stellen, mit welcher Belastung man besser selbst zurechtkommt. Will man ständig am Rande der eigenen Belastung arbeiten, gefolgt von langen Erschöpfungsphasen? Oder macht es einem mehr Spaß, kontinuierlich an einer Sache „dranzubleiben“, und sie langsam und stetig gedeihen zu sehen? Ich muss gestehen, dass mir die zweite Variante persönlich besser gefällt, weil es gerade bei langen Stücken sehr anstrengend ist, in „Schüben“ zu komponieren (bei Opern zum Beispiel). Eine genaue Zeitplanung ist eher möglich, wenn man einigermaßen „kontinuierlich“ dranbleibt. Aber das muss letztlich jede und jeder selbst entscheiden, es ist wirklich Typenfrage.
Prien am Chiemsee/München 26.9.2021
Zwei Tage bei wunderschönem Wetter Laufen, mit der Zeit bin ich zufrieden, mit Verletzung und relativ schlechter Vorbereitung war mehr sicher nicht drin: 5. Platz meiner Altersklasse, 14. Platz Männer, 19. Platz gesamt, gesamte Marathonzeit 3:32:50, Herrenchiemseemarathon.
Komponist