Banausenbait
Banausenbait
In den letzten Wochen war ein Paradebeispiel einer sinnlos aufgemotzten Diskussion zu erleben, in der jede und jeder in endlosen Kommentarspalten ihren/seinen Senf dazu gibt und am Ende sich alle wieder mal in ihrer Meinung bestätigt fühlen.
Es fing an mit der „Absage“ einer Aufführung von Clara Ianotta beim Essener „NOW!“-Festival. Vermutlich von ihrer PR-Agentur empfohlen entrüstete sich die Kollegin Ianotta öffentlich darüber, dass das Orchester anscheinend beschlossen hatte, ihr mit zahlreichen Sonderinstrumenten versehenes neues Orchesterwerk mit dem leicht zu merkenden Titel „Sand like gold-leaf in smithereens“ nicht aufzuführen, weil es zu aufwändig und teuer sei.
„Skandal!“ rief da sofort die Neue-Musik-Bubble, „hier wird radikale und innovative Neue Musik gecancelt, und eine Frau noch dazu!“.
Dagegen kommentierten sofort die üblichen Verdächtigen der Klassik (aber-nur-bis-Mahler-Neue-Musik-Bäh)-Bubble, die sich darüber mokierten, dass das ja bestimmt an Frau Ianottas schrecklich „atonaler“ Musik liegen müsse, und das Orchester ja wohl keinen Bock dazu hatte, eine „verstimmte Geige“ (auch wenn von der hervorragenden Carolin Widmann gespielt) zu begleiten.
„Falsch!“ rief daraufhin das Orchester und die Philharmonie Essen. „Wir haben das Stück gar nicht gecancelt, sondern einfach nur verschoben. Die Komponistin hatte die Noten so spät abgeliefert, dass es nicht mehr möglich war, es seriös in kurzer Zeit hinzubekommen. Aber wir holen es nach, versprochen! Wir lieben Clara Ianottas Musik, ganz ehrlich!“
Das war aber den Aufgebrachten nicht genug Untertänigkeit, schließlich habe man sich an sicherlich einem Meisterwerk vergangen. Auch die Solistin Carolin Widmann gab an, das grandiose Werk ja schon „einstudiert und (sich) in (Ianottas) Klangwelt vertieft“ zu haben. Wie viel Zeit sie nach der späten Abgabe der Noten nun wirklich investieren konnte in die Vertiefung verriet sie dabei nicht.
An diesem Punkt schaltete sich Nick Pfefferkorn vom angesehenen Verlag „Breitkopf & Härtel“ in die Kommentarspalten ein. Mit vordergründig fachmännischer Expertise formulierte er, dass bei „radikaler“ Neue Musik oft ein Blödsinn rauskommt, „der über die Uraufführung und vielleicht eine Folgeaufführung nicht hinauskommt, weil sowas eben kein Mensch hören will (und ertragen kann)“.
Nun ging es erst richtig los in den Kommentarspalten – Tabubruch! Unverschämtheit! Wie kann ein Verlagsleiter eines wichtigen Neue-Musik-Verlags seine eigenen Komponierenden so dissen! „Recht hat er“, unkte da wieder die Klassik-Bubble, „wir haben euch doch schon immer gesagt, dass es so ist, endlich spricht es mal jemand aus!“ (es wurde zwar schon tausend Mal ausgesprochen, aber nun denn).
Das wiederum rief den Grandseigneur der Neuen Musik auf den Plan – erneut im VAN-Magazin meldete sich Helmut Lachenmann hochselbst, seines Zeichens Bärenreiter-Komponist und verteidigte natürlich – auch nicht überraschend – die „radikale“ Neue Musik mit einem stilistisch astreinen Satz: „Der Chef von Breitkopf & Härtel hat mit seinen sich selbst disqualifizierenden Sottisen dem internationalen Ansehen der ihm anvertrauten Einrichtung geschadet“.
Und weiter geht es in den Kommentarspalten – „Bravo, Helmut!“, „Pfefferkorn hat Recht!“, und so weiter und so fort bis es irgendwann ausebbt, irgendwann das nächste Ianotta-Stück abgesagt, äh, verschoben wird, und wieder jemand zum Millionsten Mal schreibt, das jetzt endlich jemand angeblich zum ersten Mal irgendetwas ausspricht.
Oder anders gesagt: „Man muss doch mal sagen dürfen, dass Neue Musik scheiße ist“.
Klar, meine Sympathien sind naturgemäß eher auf der Ianotta/Lachenmann-Seite. Manchmal liest man in sozialen Medien unsäglichen Schwachsinn darüber, wie „unmenschlich“ Neue Musik sei und dass es ja niemanden interessiere. Konfuse Theorien über die „richtige“ Musik werden verbreitet und offenbaren oft eklatantes Banausentum und Missverständnisse über Musiktheorie. Gleichzeitig gehen aber die Besucherzahlen von Neue-Musik-Festivals eher wieder nach oben und 16-jährige Jungtalente aus Polen entdecken auf youtube Neue Musik und werden süchtig danach.
Generell haben solche Diskussionen immer eine natürliche Tendenz zur unangemessenen Verallgemeinerung, in beide Richtungen.
Mensch geht in eine Neue-Musik-Konzert. Mensch hört ein Stück, das ihm missfällt oder das er einfach nicht versteht. Mensch sofort: alle Neue Musik ist Bullshit!
Das folgt genau derselben Logik wie nach dem Lesen eines schlechten Romans von heute automatisch darauf zu schließen, dass alle Romane von heute schlecht sind. Und das ist natürlich Blödsinn.
Gibt es so etwas wie „die“ Neue Musik? Natürlich nicht, genauso wenig, wie es „die“ zeitgenössische Kunst oder „den“ zeitgenössischen Film gibt. In Wirklichkeit spricht man über Tendenzen, die einen missfallen.
So ist es zum Beispiel die Tendenz des deutschen Films, meistens ziemlich grauenhaft zu sein, vor allem, wenn Fernsehredaktionen oder Produzenten daran herummurkeln. Man tut aber den vielen hervorragenden deutschen Regisseurinnen und Regisseuren – natürlich auch im Fernsehen – Unrecht, wenn man ein apodiktisches Statement wie „alle deutschen Filme sind schlecht“ von sich gibt. So ein Statement ist nur Ausdruck eines vagen Gefühls und eins generellen Missmuts, bringt aber niemandem etwas, denn es wäre narzisstisch zu denken, dass alle Kunst sich ab sofort der Meinung einer einzelnen Person auszurichten habe.
Auch ein Statement wie das von Nick Pfefferkorn ist vor allem ein „Gefühl“, denn: war es früher wirklich anders? Als Verlagsleiter sollte er wissen, dass vergangene Jahrhunderte voll von unglaublich mediokren und schlechten Komponierenden waren, deren Werke sich bei den Verlagen auch oft unverkauft stapelten. Diese langweiligen Werke wurden manchmal nur einmal, manchmal viele Male, manchmal überhaupt nicht aufgeführt, oft in keinerlei Zusammenhang zur eigentlichen Qualität der Werke. Und sie waren gegenüber den wirklich genialen Stücken immer in der Überzahl. In den Salons wurde nicht ständig Chopin oder Schubert gespielt, sondern eher veredelter Stuss, den man gnädig vergessen hat. Aber auch dieser Stuss leistete einen wichtigen Beitrag zur Musikgeschichte, denn alle musikalischen Revolutionen entstanden aus einer Unzufriedenheit mit dem Vorherrschenden.
Umgekehrt ist es aber auch falsch, jegliche Kritik an „radikaler“ Musik vom Tisch zu weisen, denn natürlich ist auch im Umkehrschluss Musik nicht automatisch gut, weil sie einer von einer Bubble akzeptierten Ästhetik entspricht.
Lachenmanns Musik ist wunderbar, aber Musik, die vordergründig einfach nur dieselbe Ästhetik hat, ist nicht notwendigerweise automatisch gut. Und so wird manches einfach nur verteidigt, weil es die als richtig empfundene Attitüde hat und bestimmte Schlagwörter erfüllt.
Am Ende jeder musikalischen Epoche entstanden immer wieder ästhetische Regelwerke, die genau definierten, welche Musik als „gut“ galt. Das ist heute auch so, nur ist die musikalische Welt komplexer und globaler geworden, während eine Unzahl mehr Menschen auf diesem Planeten lebt. Daher befindet sich sehr vieles gleichzeitig im Niedergang und Aufschwung, es wird immer schwieriger, Epochen oder Stile abzugrenzen, weil so vieles gleichzeitig existiert.
Während sich neue Ideen langsam entfalten, haben sie immer erst einmal schwer, da sie von den alten Ideen defensiv kleingeredet werden. Hier muss man also achtsam sein, dass man nicht etwas „Neues“ verteidigt, das in Wirklichkeit schon uralt ist.
Und ja, es gibt auch immer die, die weder besonders neu noch besonders alt, aber dafür verdammt gut sind, auch die haben ihren Platz.
Die Diskussionen wie in der Folge von Ianotta tragen aber letztlich nichts dazu bei, außer Klicks zu generieren. Und das beginnt zunehmend langweilig zu werden – vielleicht sollte die KI übernehmen?
Moritz Eggert

Von der Website des Bärenreiter-Verlags – man wirbt mit „Klanglichen Besonderheiten“
Komponist
