Donaueschinger Musiktage 20205 II – Effektvolles und Effektloses

Der dritte Tag begann vielversprechend: das zweite Konzert des Klangforum Wien unter der Leitung von Vimbayi Kaziboni begann mit der Uraufführung „Garmonbozia“ von Alexander Khubeev. Garmonbozia ist ein Begriff aus David Lynchs „Twin Peaks“ für menschliches Leid, seinen Schmerz, seine Angst. Steht das als Metapher für das Leid und die Angst, die das Putin-Regime in Khubeevs Heimat ausstrahlt? Wie die russische Gesellschaft eine gedämpfte, gefilterte, zweideutige ist, so gedämpft und gefiltert wirkten die Verfremdungen der Instrumente durch Präparationen, die nur einen zweiten, einen gemaßregelten Klang erzeugten. Das variierte dramaturgisch effektvoll angelegt zwischen Stille und purer Gewalt, was einen sinnvollen und starken Spannungsbogen ergab. Damit befreite Khubeev sich von der Spaßattitüde der in den Zehnerjahren der russischen Geräuschmusik allzu oft innewohnte.
In Gesprächen nach dem Konzert wurde hingegen die Musik von Anna Korsun an diesem Mittag als „sehr einfach“ dargestellt. Ja, das neue Werk „Vivrisses“ der Ukrainerin war viel klarer und bogenförmiger als Khubeev gestaltet. Dabei aber ungemein effektiv. Und sehr ehrlich. Da gab es nichts zu bewältigen, da gab es nur dem Zeitstrom der Erfindung und des klaren Materials zu folgen: im Prinzip hauchte in kleinen Intervallschritten das Klangforum sehr langsam und ungemein zart eine Quinte nach oben und rutschte diese dann wieder nach unten. Das komponierte Korsun fein ausgehört und hatte im Gegensatz zum russischen Kollegen nichts zu bewältigen, da alles für sie gesagt ist und sich das ukrainische Zeitgeschehen im Gegensatz für manchen Exilrussen quasi von allein erklärt. Das soll Khubeev und Korsun jetzt nicht in einen Gegensatz setzen. Man hörte aber deutlich die unterschiedlichen Verfasstheiten der Gemüter der beiden Komponierenden.
Nach den zeitgeschichtlichen Ernst der beiden ersten Werke des Konzert explodierte förmlich reine Lebenskraft im digitalen Zeitalter in Koka Nikoladze massiv witzigen und selbstironischen „Masterpiece“. Eine freundliche japanische Frauen-Computerstimme zählte von 7 bis 777777777777777777777, sagte dann „Hi, Koka“ zum Komponisten und wirbelte dann noch Begriffe für Punkt, Strich, Genderstern durcheinander, um sich dann mit „Bye, Koka“, diese alles auf die Saalrückwand projiziert, zu verabschieden. Auf die Zahl und die verschiedenen Zeichen reagierte das Klangforum je mit harten Geräusch-Akkorden, Pfeifen und mehr. Vor allem die Harfenistin war gefordert: zuerst musste sie ein Teil ihres Instrumentenetuis mit einer Haarbürste zum „Ritsch“ mutieren. Dann hatte sie ein Pfeifsolo, musste ihre Haare mit einem elektrischen Föhn durcheinanderwirbeln und zuletzt eine Sirene kraftvoll betätigen. Angesichts der Entwicklungen in Georgien fragt man sich, ob Nikoladze ebenfalls wie Khubeev zu einer neuen Ernsthaftigkeit finden muss? Heute aber egal, pure Freude und großer Spaß in den Donauhallen – zudem ein erstaunlich kurzes, knappes und klares Werk.
Nach einer längeren Umbaupause folgte als Abschluss dieses Konzertes die Uraufführung von Francesca Verunellis „La nuda voce“ für Ensemble und die Sopranistin Johanna Vargas. Das Werk baute auf klare Strukturen und ließ den Sopran granuliert aufgebrochen einen sehnsuchtsvollen Text über die Stimme an sich aus Verunellis Heimat vortragen. In den besten Momenten hatte dies etwas von der Sopranstimme in der Titelmusik zur Erstversion der Serie „Raumschiff Enterprise“, auch wie das Ensemble langsame Echoeffekte versuchte, als ob das Raumschiff an einem schnell vorbeiflöge mit dem bekannten 60er-Jahre Echo-Hall aus der Serie. Das hatte eine Zartheit und Zurückhaltung, die einerseits überzeugte, andererseits fragte man sich, warum dann nicht Nikoladze statt dem auskomponierten Mezzoforte von Verunelli als Abschluss des Vormittags?
Programmumstellungen gab es dann dafür am Abend im Abschlusskonzert mit dem SWR-Sinfonieorchester unter Leitung von Elena Schwarz. Also begann es mit Mirela IviÄeviÄs „Red Thread Mermaid“. Die Komponistin verwendet hier Fetzen von jugoslawischer Unterhaltungsmusik, die sie als Kind bei Reisen in den Urlaub an die Adria im Auto der Eltern erlebte. Das war schön nostalgisch und zeigte durchaus die Zerrissenheit, die heute immer noch Leute prägt, die nicht nur aus einer ex-jugoslawischen Nation stammen, sondern in ihrer Mehrnationalität argwöhnisch dort beäugt werden und erstaunliche Absurditäten erleben. Wie erzählte mir mal eine Freundin mit kroatisch-serbischen Background: Kroaten hatten das Haus ihrer Familie angezündet, aber nur zur Hälfte abbrennen lassen, da die Familie ja immerhin zur Hälfte kroatisch sei und nicht nur serbisch. Das Gefühl der hybriden, aber verlorenen Einheit konnte man gut nachvollziehen. Allerdings wirkte das Stück wie eine unverbundene, gut instrumentierte, aber schnell hingeworfene Potpourri-Etüde, dem Anspruch eines durchgearbeiteten Werkes hier leider nicht gerecht wurde. Aber es war tatsächlich das interessanteste Werk des Abends.
Es folgte Naomi Pinnocks „I put lines down and wipe them away“,d as best gehörte Werk des Abends zwischen Feldman und Scelsi. Erst passierte nichts, dann etwas mehr, dann Schönes, dann wieder nichts und dann war Schluss. Fein gehört, fein gemacht. Am Ende so etwas wie „Coptic Light 2.0“, „Light“ hier aber eher als leicht denn als Licht.
Nach der Pause das längliche „The deepest continuity is paradoxically that which continually restarts and renews itself“ von Laure M. Hiendl, das bewusst auf der Stelle trat mit Material aus einer schönen Stelle einer Ralph Vaughan Williams Sinfonie. Klangschön, Dank Williams. Eine Art Neue-Stille-Musik zwischen Silvestrov und Wien. Immer ein Schritt vor und zwei zurück. Das hat einerseits etwas von Zurückhaltung und Erfahrungswelten des Soundesigns. Andererseits wirkte es sehr leer und ruhte sich auf Ideen des englischen Vorbilds aus. Das ist gerade en vogue, mancher russische Grieche könnte das ggf. mal utopisch programmieren. Aber Soundtrack ist eben nicht gleich Neue Musik.
Zuletzt Hanna Hartmans „Advanced Weather Information Processing System“ für Orchester, Tonband und Elektronik. Hier wurde über zwei Seiten effektvoll im kleiner besetzten Orchester geräuschvoll improvisiert. Neue Musik für Anfänger. Nett. Das Wetter wurde nicht besser.
Dann wurde der Orchesterpreis vergeben, an Philippe Lerouxs „Paris, Banlieue“ für Orchester und Elektronik. Man kann es verstehen, da das Orchester viel üben und viel zeigen kann mit dieser Musik. Mir hatte sie zu viel Redundanzen und unnötige Poly-Flexaton-Stellen. Wie gesagt, man kann es aus rein spielerischer Perspektive nachvollziehen. Daher war es dann bei so viel orchestralem Unbedeutendem, abgesehen von dem tollen Klarinettenkonzert von Turgut Ercettin und der schönen Musik von Imsu Choi, klar, dass Leroux zum Zuge kam. Das mag auch Werk ganz nach dem Geschmack Roths sein. Nun, das Klangforum hatte die besseren Werke zu spielen und hätte tagelang für den Entscheidungsprozess gebraucht, da hier jedes Werk bei aller Kritik ein Preis verdient hätte, von Eimermacher bis Khubeev, Korsun, Verunelli und Nikoladze.
Komponist*in