Standby
Standby
Sie hatten sich Namen und gegeben und nach einer kurzen Wanderung von der letzten Tunnelbahn-Station aus den Stadtrand erreicht. Die Häuser wichen hier eher barackenähnlichen Behausungen, zum Teil waren es nur ein paar aufgehängte Tücher um eine Wellblechpappe herum. Davor saßen verschiedene Gestalten in zerschlissenen Kleidern, mit intensivem Blick in die Nacht starrend.
Antonio und Daniela besuchten dieses Viertel normalerweise nicht. Es galt als eine halbautarke Zone der Stadt, in die sich nur selten Ordnungskräfte hineinwagten. Man blieb unter sich, daher war ein Besuch für die beiden nicht ungefährlich, obwohl sie alles getan hatten, um sich den Gepflogenheiten dieser ganz speziellen Umgebung anzupassen. So hatten beide ihre Mobilgläser abgesetzt, da sich hier kaum jemand bemüßigt fühlte, moderne Kommunikationstechnologie zu verwenden. Irgendwie fühlte sich alles aufregend und riskant an.
„Das alles macht mich sehr emotional“ sagte Antonio.
„Mich ebenso“. Daniela klang erstaunlich bewegt, so kannte Antonio sie gar nicht.
„Wo wird das Konzert stattfinden? Haben wir es noch weit?“
„Die Straße hinunter, dann rechts.“ Antonio hatte es nicht gewagt, die automatische Navigation zu aktivieren, die ihm in seinem Retina-Implant jederzeit zur Verfügung stand. So etwas wurde hier nicht gerne gesehen. Aber es war ihm nicht schwer gefallen, sich den Weg zu merken.
„Und sie machen wirklich noch Musik? So wie früher?“
„So scheint es. Man macht hier keine Clips fürs Netz, ich kann nur unseren Quellen vertrauen“.
„Wie unglaublich archaisch. Wie wird das klingen?“
„Ich weiß es auch nicht. Anders vermutlich.“
Antonio stieg vorsichtig über eine Metallstange, die mitten auf dem Weg lag. Sie sah aus wie ein Teil eines alten Elektroscooters. Was man hier alles so findet, dachte er sich.
„Ich frage mich, wie die Menschen hier überleben.“ Daniela war ungewöhnlich gesprächig an diesem Abend, so kannte Antonio sie gar nicht. Manchmal verbrachten sie Stunden gemeinsam bei Inspektionen und Datenauswertungen, ohne ein einziges Wort miteinander zu sprechen.
„Sie verzichten auf viele Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation. Niemand kann sich hier Einkaufsdrohnen oder KI-Assistenten leisten. Ich vermute, dass sie sogar ihr Essen selbst kochen und sich dazu Zutaten suchen. Der eine oder andere kann sicherlich auch noch lesen oder schreiben und einfache Handwerksaufgaben verrichten. Aber natürlich nur auf einem ganz niedrigen Niveau, so dass es gerade fürs Überleben reicht.“
„Wie armselig. Ich habe richtig Mitleid mit ihnen!“
Antonio war sich nicht so sicher, ob Mitleid das richtige zu aktivierende Gefühl in dieser Situation war. Ihn faszinierte das Leben in der Vorstadt schon seit langem. Diese Menschen lebten ohne Normen, ohne Regeln. Sie erzählten sich ihre eigenen Geschichten, nahmen nicht an den weltumspannenden VR-Soaps teil, sangen ihre eigenen Lieder. Sicherlich langweilten sie sich gelegentlich, aber war Langeweile nicht auch ein relevantes Gefühl?
„Ich könnte es hier nicht lange aushalten, so ohne Erzähler und Jukebox.“
Antonio wusste, was sie meinte. In der Stadt war es gang und gäbe, sich den ganzen Tag mit Erzählungen, Farben, Klängen und Gerüchen zu umgeben, die einen ständig bei Laune hielten und perfekt auf die eigenen Bedürfnisse abgestimmt waren. KI-generierte E-Tainments, immer den richtigen Ton treffend, die richtige Stimmung erzeugend. War man traurig, heiterte einen der Erzähler mit einem Witz oder einem klugen Aphorismus auf. Wollte man tanzen, fand die Jukebox das exakt richtige Tempo der Musik, so lange und so viel man wollte. Jeder Mensch trug seine private Unterhaltungsumgebung stets mit sich, solange er oder sie seine oder ihre Mobilgläser aufhatte.
So mangelte es den Menschen der Stadt an nichts, ihre Welt war bis ins letzte Detail generativ gestaltet und stets spannend. Die generativen Intelligenzen griffen auf eine unendliche Datenbank menschlicher Leidenschaften zurück und fanden immer den richtigen Ton und die richtige Ansprache. Alle Balladen waren perfekt, alle Erzählungen ohne Makel. Die Spannungsverläufe jeder Geschichte und jedes Musikstücks waren auf die jeweiligen Rezipienten so angepasst, dass es ihnen an nichts fehlte. Man wurde nie genervt, schockiert oder unangenehm überwältigt. Die digitale Fantasie war grenzenlos, wohlfeil abgestimmt und geschmackvoll, ein einziges lebenslanges Abonnement reichte aus.
Die meisten hatten verlernt, sich noch selbst kreativ zu betätigen. Aber das machte nichts – die Daten reichten viele Jahrzehnte bis in die Anfänge des sogenannten „Internets“ zurück und waren längst noch nicht ausgeschöpft. Nur wenige Mahner sahen voraus, dass die Ressourcen menschlicher Kreativität irgendwann ausgeblutet sein könnten wie früher die Ölquellen. Antonio war einer von ihnen.
Fast hätte er die Abzweigung verpasst. Aber er hatte etwas gehört, dass ihm zeigte, dass sie den richtigen Weg gewählt hatten.
„Hast du das gehört? Das klingt abscheulich!“ sagte Daniela.
Aus ihrer Perspektive mochte das stimmen. Sie hörten unausgegorene und fremdartige, geradezu menschliche Klänge, die der Wind zu ihnen herübertrüg. Das „Konzert“ konnte nicht mehr fern sein.
Die Schweißdrüsen taten ihre Arbeit – so viel Emotion! Antonio hatte Daniela schon lange nicht mehr so hibbelig erlebt. Schnellen Schrittes näherten sie sich einer kleinen Ansammlung von Menschen, die sich um ein skurriles…wie nannte man es früher…“Trio“ versammelt hatten. Antonio – der nur Musik aus dem Stream und damit der Konserve kannte – hatte schon lange keine echten Instrumente mehr gesehen. Kaum jemand konnte sie spielen und sie wurden schon lange nicht mehr hergestellt.
Er versuchte, sich zu erinnern, wie man die Instrumente nannte, die sie nun erblickten. War das etwa eine…“Harfe“? Korrekt, sagte ihm der Erinnerungsassistent – Harfen benutzten gezupfte Saiten, die auf einen Rahmen aufgespannt waren. Nur sah dieser Rahmen nicht im Geringsten so aus, wie die Bilder, die ihm der Erinnerungsassistent zeigte. Wahrscheinlich war das Instrument komplett selbst gebaut, vermutlich aus Abfall, den die Vorstädter auf den Müllhalden illegal einsammelten, bevor die Recycling-Bots ihre Arbeit taten.
Daniela und Antonio mischten sich unauffällig unter das kleine Häuflein von Menschen, die sichtlich ergriffen der skurrilen Musik lauschten. Nun versuchte auch Antonio sich auf das zu konzentrieren, das tatsächlich erklang.
So etwas hatte er noch nie gehört. Es waren zuerst einmal raue, ungefilterte und fast abschreckende Klänge. Die menschlichen Musiker gaben ihr Bestes, aber ihre Bemühungen hatten etwas Unbeholfenes und charmant Unperfektes. Hier und da war sich Antonio nicht sicher, ob alle Töne wirklich so gemeint waren, oder ob es sich um kleine Unsauberkeiten beim Bespielen der Instrumente handelte. Hier ein ausgeglittener Finger, hier eine ungenaue Intonation. Es war fantastisch! So musste Musik klingen – ungefiltert, außerhalb jeglicher Norm und jedes Algorithmus, wild und frei. Es war so erfrischend, dass es nicht darum ging, ob ihm diese Musik gefiel oder nicht. Sie war Ausdruck eines Bedürfnisses und eines In-der-Welt-seins. Und anders als die Musik der KIs war es den Musikern vollkommen egal, ob sie den perfekten Stil fanden, der auf seine Bedürfnisse passte. All dies war ein Angebot, das man annahm oder nicht, und allein der Akt des Zuhörens war Teil einer komplexen Kommunikation.
So lebendig hatte Antonio sich schon lange nicht mehr gefühlt. Wussten die Städter nicht, was ihnen da fehlte? All dies war es wert, dieses ärmliche Leben, diese jämmerliche Existenz in der Vorstadt. Diese Menschen waren so viel lebendiger als die Städter es waren, und ihre auf so charmante Weise unperfekte Musik war Ausdruck eines ganz speziellen Lebensgefühls, wie es nur hier und jetzt in diesem Universum existierte.
Antonio war zufrieden, obwohl er spürte, dass Daniela die Erhabenheit des Moments entgangen war. In diesem Moment war er eins mit den Menschen, mit ihren Träumen, mit ihren Sehnsüchten. Ein unglaublich erhebendes Gefühl.
Er schloss die Augen und…lauschte!
Stunden später machten sie sich auf dem Nachhauseweg. Es fielen nicht viele Worte zwischen ihnen, weder beim Besteigen der Tunnelbahn noch beim Abschied auf der Plattform. Das war auch nicht nötig, denn Antonio und Daniela verstanden sich auch ohne viele Worte, ganz auf ihre Weise.
Als Antonio sein Apartment erreichte, überprüfte er den Datenleser, den er in der rechten Hosentasche versteckt hatte. Er lächelte zufrieden – das ganze Konzert war perfekt aufgezeichnet worden und die Daten waren schon jetzt auf der Cloud gesichert und nun Teil des weltweiten Informationsnetzes, mit dem er in jeder Sekunde in Verbindung stand. Er war unendlich dankbar, dass diese Menschen dafür gesorgt hatten, die Datenquellen mit neuen und bisher unbekannten Informationen zu füllen. Die KIs konnten nun endlich wieder neue Musik generieren, die man so noch nie gehört hatte.
N-TON-0 freute sich schon jetzt darauf. Und natürlich auch darauf, am nächsten Tag D-NIE-11 wiederzusehen. Aber jetzt musste er sich dringend aufladen.
Mit einer geübten Handbewegung öffnete er seinen Bauchverschluss, holte das Stromkabel heraus und steckte es in eine Dose in der Wand. Das Standby würde ihm gut tun.
Moritz Eggert
Komponist