Was kann heute „Neue Musik“? Sehr viel!
Reupload meines Textes für backstageclassical im Vorfeld von Antennenglühn vor einer Woche in München.
Der Begriff ist historisch. 1920 kam der Begriff auf, um „schwer vermittelbare ästhetische Positionen“ von Arnold Schönberg, Ernst Krenek und Franz Schreker besser zu vermitteln. Interessant dabei: Franz Schrekers dissonanteste Werke brachten es sogar als Zitat und Beispiel für die Auflösung der Dur-Moll-Harmonik in das letzte Kapitel von Arnold Schönbergs Harmonielehre. In den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts erfuhr dann ausgerechnet Schreker nach Gustav Mahler eine Renaissance an Opernhäusern zusammen mit Alexander Zemlinskys Opern, auch mit genau den Opern wie „Der Ferne Klang“, den Schönberg ebenda zitierte.
Über Schönberg hingegen streitet man heute noch, gilt allein die Nennung seines Namens angeblich Münchner Klassik-Konzertveranstaltern als Kassengift. Doch fanden Werke wie „Pierrot lunaire“ heute ein breiteres Publikum durch die Violinistin Patricia Kopatschinskaja oder begeisterte in den 1920er Jahren sogar Giacomo Puccini. Tiefen Ernst und Betroffenheit löst heute in Konzert und bei musikalischen Gedenkfeiern immer wieder „A Survivor of Warsaw“. Das unterstreicht die doch auch ein größeres Publikum ansprechenden Möglichkeiten der „Neuen Musik“. Das zeigt aber auch, dass sie meist ein Sonderfall ist und am besten sich mit einem konkreten Anlass der Hörerschaft vermitteln läßt. In gewisser Weise könnte man sie in diesen Fällen als „Spezial-Gebrauchsmusik“ bezeichnen.
Findet die Aufführung von „Neuer Musik“ heute statt, erreicht sie am ehesten viele Leute, wenn sie zum Beispiel die Berliner Philharmoniker aufführen. Ob Werke von Olga Neuwirth oder Wolfgang Rihm oder anderen – der Saal ist vielleicht nicht bis auf den letzten Platz gefüllt, dennoch begeistern sich immer wieder dann im wahrsten Sinne des Platzangebotes in einem Abo-Zyklus einige tausend Menschen für diese Kunstmusik. Der umstrittene Dirigent Teodor Currentzis schaffte es mit seinem ehemaligen SWR-Sinfonieorchester in wenigen, aber doch wichtigen Konzerten, auch das südwestdeutsche Klassik-Publikum mit anspruchsvollen Werken lebender Komponisten zu interessieren. 2022 waren die Opern von Georg Friedrich Haas an den experimentellen Spielorten der Bayerischen Staatsoper von Anfang bis Ende nahezu ausverkauft. Wenn große „Tanker“ des Klassikbetriebs „Neue Musik“ wagen, findet sie immer wieder Zuhörerinnen und Zuhörer, die sich sehr gerne mit ihr befassen wollen. In München sind dabei die Konzerte der musica viva des Bayerischen Rundfunks und die Konzerte des Münchener Kammerorchesters, welches einerseits Werke des Barocks bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts andererseits mit ganz neuen Werken und Uraufführungen in seiner Abo-Reihe kombiniert.
Aber warum ist das so? „Neue Musik“ scheint auf zeitaktuelle Ereignisse des 20. und 21. Jahrhunderts, die das Scheitern von Humanität und Vernunft verarbeiten, am besten reagieren zu können, wenn das nicht allein mit traditionellen bzw. gewohnten Klängen durch die Komponierenden verarbeitet wird, sondern wenn diese nach einer zeitgemäßen Klangsprache und Ästhetik suchen, um dem Ausdruck zu verleihen, um Unsagbares musikalisch bewältigbar zu machen. Wenn dies mit Text oder Theater verbunden wird, entfaltet dies eine Wirkung, wie in Schönbergs „A Survivor of Warsaw“ oder in „Thomas“ von Georg Friedrich Haas. In der Orchester- und Chormusik geschieht das trotz sehr strenger Konstruktion, aber mit klanglicher Überraschungen und Schönheiten z.B. in György Ligetis „Atmosphères“ oder „Requiem“ mit dem bekannten „Lux aeterna“. Oder mit den großartigen Werken von György Kurtag“, z.B. in „Stele“ oder „…quasi una fantasia…“. Die technischen Herausforderungen dieser Werke sind heute Standard und sprechen Dank ihrer Qualität und ästhetischen Kraft das Publikum an.
Werke mit sogenannten erweiterten Spieltechniken ziehen tatsächlich heute immer noch eher ein Publikum an, wenn sich Berliner Philharmoniker, Salzburger Festspiele oder eine Staatsoper daran wagen. Der oben genannte Teodor Currentzis kombinierte mit dem SWR-Sinfonieorchester zuletzt den ersten Satz von Gustav Mahlers mit Uraufführungen, die auf diesen Satz reagieren sollten. Regte sich auf den sozialen Medien des Orchesters sonst das Publikum über den Dirigenten auf, verteidigten vor allem die Fans des Dirigenten diese Kombination aus Spätromantik und Neuer Musik. In dem Konzert erklang auch Musik von Mark Andre, der ganz klar Musik mit geräuschlichen erweiterten Spieltechniken komponiert. Dadurch erreichte diese Art von Musik ein breiteres Publikum. Wie man an Ligeti, Kurtag, Neuwirth, Haas und Rihm sieht, zahlt sich Beharrlichkeit von Orchestern und Opernhäusern sowie Festivals aus, wenn sie interessante und gute Werke der „Neuen Musik“ immer wieder ins Programm nehmen, Kompositionsaufträge vergeben. Man muß dran bleiben! Das war mit den Opern und Sinfonien von Wolfgang Amadeus Mozart auch nicht anders, die manchmal nach der Uraufführung den Gewohnheiten der Zeit entgegen im Repertoire blieben, aber auch am Anfang wie z.B. „Cosi fan tutti“ einen Anschub durch damals mutige Intendanten benötigten.
Zudem ist „Neue Musik“ heute oft auch fröhlicher, weltzugewandter, rhythmischer oder sogar harmonischer, als man erwartet. Wie Maurice Ravel lassen sich viele Komponierende von Jazz, Pop oder Volksmusik sowie weltweiten Musikkulturen beeinflussen. Das Experimentelle ist dann die Neubeleuchtung dieser Stile oder vergangener Musiken durch die technischen Mittel der „Neuen Musik“. Das ermöglichte die minimal music in den USA von Steve Reich bis Phil Glass oder die französische süffige Strömung der spektralen Musik auf erweiterten Prinzipien der Obertonreihe, wo die italienische Musik eines Giacinto Scelsi und die ungarisch-österreichisch-deutsche Musik von Ligeti amalgamiert wurden. Oder die neueste Strömung der „Neo-Klassik“ die hoch umstritten ist mit ihren niemals die Tonart wechselnden Stücken, die aber oft so radikal reduziert sind wie die geistliche Musik von Arvo Pärt – ob es dann mehr Geist und Tiefe oder eben Gebrauch und Yoga ist, darüber wird heftig gestritten. Sie mag keine „Spezial-Gebrauchsmusik“ wie „A Survivor of Warsaw“ sein, ist aber eben für die individuelle Hörerschaft genau die richtige Musik für den richtigen ruhigen Moment im Alltag.
Über das Alltägliche hinaus versucht jetzt am 28. September 2024 „Antennenglühn – Tag der Neuen Musik“ ab 12 Uhr im schwere reiter münchen zu gehen. Hier versammelt der Landesverband Bayern des Deutschen Komponist-innenverbandes das ganze Spektrum bayerischer und münchnerischer Komponierender. Streichtrio-Experiment stößt auf Cello-Solo-Esoterik, jugendliche Pianistinnen und Pianisten spielen neue Werke, ein Blechbläserquartett mischt Transzendentales mit Musikelektronik, als sei es eine Pop-Band sowie ist das Klavierlied mal eher performativ, mal denkt es Schubert und Schumann oder fränkische Mundart ins Heute weiter. Man begegnet allen möglichen Einflüssen, die heute erlebbar sind: Geräusch, Mikroton, Jazz, Pop, Volksmusik, Kontemplativen, Elektronischem, Abstrakten und Klassisch-Romantischen.
Denn das ist ja das Verrückte mit diesem eigentlich ziemlich veralteten Begriff „Neue Musik“: es ist da viel mehr drin an stilistischer Breite, als man in anderen Genres erwarten würde. Am Ende passt qua individueller Entscheidung der Komponistinnen und Komponisten alle mögliche Musik unserer heutigen Welt dort hinein.
Komponist*in