„Cancel Culture“ und was danach kommt

„Cancel Culture“ und was danach kommt

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Harry Lehmann hat mal wieder ein sehr kluges Buch geschrieben, diesmal über die sogenannte „Cancel Culture“, die als Kampfbegriff schon lange auch in Deutschland Einzug gehalten hat. Der Begriff ist emotional aufgeladen, da er einerseits reelle Vorgänge des Sprachverbots und der Ausgrenzung vor allem in universitären und kulturellen Kreisen bezeichnet, andererseits auch immer dann schnell von „Cancel Culture“ die Rede ist, wenn besonders extremistische oder auch hasserfüllte Positionen um ihr zweifelhaftes Existenzrecht kämpfen – die erbitterten Konflikte um antisemitische Kundgebungen an Universitäten sind hierfür ein gutes Beispiel.

Um zu verstehen, was „Cancel Culture“ von bisherigen öffentlichen Empörungen gerade im Zeitalter der Verstärkung durch Social Media unterscheidet, ist zuallererst einmal eine Spurensuche notwendig. Daher ist ein Großteil des Buches (nach einer Einführung mit Begriffsklärung und verschiedenen Beispielen von „Cancel Culture“) acht unterschiedlichen „Cancel Culture“-Entstehungstheorien gewidmet, wobei Lehmann sorgfältig das Für und Wider der Argumente abwägt.

Zweifellos ist „Cancel Culture“ ein ursprünglich angloamerikanisches Phänomen, das mit den ganz spezifischen Konkurrenzen und historisch gewachsenen Begebenheiten von amerikanischen Universitäten zu tun hat. Vielen Europäern ist nicht bewusst, dass gerade das komplexe amerikanische Rechtssystem (in dem es viel leichter ist, jemanden zu verklagen, als hierzulande) einen großen Teil dazu beigetragen hat, dass eine vorauseilende Selbstzensur entstehen kann, wenn es um DEI (Diversity, Equality, Inclusion) – Themen geht. Eine solche Zensur kann dann wiederum im immer härter gewordenen akademischen Konkurrenzkampf eingesetzt werden. Universitäten verwandeln sich im schlimmsten Fall in „Ideologiemaschinen“, die keinerlei Abweichung mehr dulden und damit freie Rede zunehmend unmöglich machen. Nach anderer Sichtweise ist „Cancel Culture“ vornehmlich eine Geburt der Postmoderne, oder vielmehr eventuell sogar ein amerikanisches Missverständnis bzw. Überspitzung postmoderner Philosophie.

Nach gängigem Klischee richtet sich „Cancel Culture“ vor allem gegen Positionen, die ein überwiegend liberales oder links orientiertes Umfeld als provokant empfindet. Lehmann pocht aber in seinem Buch unerbittlich darauf, dass man das Phänomen komplett getrennt von einer politischen Interpretation betrachten muss, auch wenn die Versuchung groß ist, es anders zu tun.

Das ist auch die besondere Leistung des Buches – es wäre sehr leicht, die „Cancel Culture“ als notwendiges Bollwerk gegen zum Beispiel rechtspopulistische Äußerungen und Aktivitäten zu verteidigen oder zu legitimieren, denn es ist klar, dass z.B. ausgrenzendes oder fremdenfeindliches Denken dem Empfinden eines Großteils von Intellektuellen oder Kulturschaffenden ein Graus ist. Lehmann ist es aber sehr wichtig, zu betonen, dass gerade das übermäßige Reagieren auf diese Gefahren Strukturen schafft, die schon jetzt von z.B. rechts gekapert und missbraucht werden könnten. So ist es nur ein kleiner Schritt von erhöhter DEI-Sensibilität und dem Errichten von immer unübersichtlicherer Bürokratie zur Sicherung von Gleichstellung zu einem homophoben Gesetz wie „Don’t say gay“ in Florida, das die Thematisierung von Homosexualität im Schulunterricht verbietet, da dies religiöse Gefühle verletzen könnte. Die grundsätzlichen Argumente sind nämlich dieselben – Schutz vor „Gefühlen“ und „Triggern“ – nur, dass sie die andere Seite für ihre Zwecke missbraucht.

Wir wissen nur zu genau, dass die Kräfte, die in Deutschland momentan am lautesten „Zensur“ schreien, die allerersten wären, die bei größerer Macht diese Zensur wesentlich radikaler einsetzen würden, als wir es uns im Moment vorstellen können. Dies kann man beispielhaft gerade in der Slowakei erleben, wo in erschreckender Geschwindigkeit öffentliche Institutionen gekapert und mundtot gemacht werden. Daher dürfen wir dieser Art von Missbrauch ursprünglich freiheitlicher Werte nicht den Weg bereiten – eine schwierige, manchmal sogar fast unmögliche Gratwanderung, wie der Versuch, gegen das „Compact“-Magazin vorzugehen deutlich dokumentiert.

Umso präziser muss gehandelt werden, wenn es um begründete Empörung geht. Es ist sehr wichtig, zu verstehen, wie die Mechanismen des Cancelns funktionieren und wie man sie vor Missbrauch schützen kann. Hierfür ist Lehmanns wie gewohnt nüchtern und klar argumentierendes Buch ein ganz essenzieller Beitrag, auf den man sich in der Zukunft beziehen sollte.

Man wünscht sich allerdings schon jetzt einen zweiten Teil, vielleicht über die Natur der Empörung. Wie kann man „richtige“ und „schädliche“ Empörung unterscheiden? Wenn zum Beispiel – wie gerade in Indien – Frauen auf die Straße gehen, um gegen den Umgang des Staates mit Vergewaltigungen zu demonstrieren, ist das eine vollkommen andere Art der Empörung als irgendein sinnloser social-media-Shitstorm von Boomern über angebliche Gotteslästerungen bei der Olympia-Zeremonie. Welche argumentativen wie auch theoretischen Mittel gibt es, um Empörungsformen zu kategorisieren und gegeneinander abwägen zu können, ohne sich auf eine rein intuitive oder emotionale Ebene zu begeben? Was unterscheidet konstruktive Empörung (z.B. über Korruption oder Machtmissbrauch) von destruktiver Empörung?

„Ideologiemaschinen – Wie Cancel Culture funktioniert“ sollte auf jeden Fall nicht das letzte Kapitel dieser Betrachtungen bleiben.

 

Moritz Eggert

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