Gegen den Strom

Gegen den Strom

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Man muss immer seinen Horizont erweitern, daher sagte ich nicht nein, als mein Schwimmerfreund Michael mir eine Karte für ein ganz besonderes Konzert schenkte: eine Open Air- Performance des australischen Komponistenkollektivs „Wechselstrom/Gleichstrom“.

Zeitgenössische Musik aus Australien ist in Deutschland kaum bekannt. Zu ihren bekanntesten Vertretern gehört sicherlich Brett Dean, aber wie bekannt sind zum Beispiel Philip Czaplowski oder Jon Drummond hierzulande? Mary Finsterer und Leah Curtis sind ebenfalls eher Insidern ein Begriff. Um so erfreulicher ist es, dass das einst von den Gebrüdern Angus und Malcolm Young gegründete Komponistenkollektiv „Wechselstrom/Gleichstrom“ nach langer Zeit wieder in München zu hören war und mir das ermöglichte, eine musikalische Wissenslücke aufzufüllen.

Der allgemeine kulturelle Niedergang unseres Landes ist inzwischen leider auch in München angekommen, und so gestaltete sich der Weg zum Konzert im Olympiapark viel abenteuerlicher als es mir recht war. Schon am frühen Nachmittag waren die Wege zum Konzertort von großen Horden meistens mittelalter und bierbäuchiger Männer versperrt, die sichtlich angetrunken und in Pöbellaune waren. Ein neuer Trend scheint in München auch das Anziehen von leuchtenden roten Teufelshörnchen zu sein, die man vollkommen überteuert für 20 Euro an jeder Ecke kaufen konnte, zusammen mit unfassbar scheußlichen T-Shirts für 50,-EUR.  Warum sich die australischen Kollegen ausgerechnet einen solchen deprimierenden Ort für ihre Performance ausgesucht haben, kann man nur mit der Unwissenheit ihrer Konzertagentur erklären, denn sicherlich wären Schwere Reiter, Bergson oder die Einstein-Hallen ein passenderer Ort gewesen.

Nachdem wir den Spießrutenlauf durch die desolaten Horden hinter uns gebracht hatten, die aus irgendeinem unerfindlichen Grund den Olympiapark bevölkerten, erreichten wir schließlich den Konzertort, das Olympiastadion in München.  Dieses war für ein Konzert mit zeitgenössischer klassischer Musik recht ansprechend gefüllt (ca. 60.000 Zuschauer), leider allerdings größtenteils ohne Bestuhlung. Etwas ratlos drängelten wir uns durch eine zunehmend dichter werdende Masse von Menschen, bis wir von einer Barriere vor einem riesigen Lautsprecherturm (Wechselstrom/Gleichstrom verwenden schon seit Anfang ihrer Karriere aufwändige Live-Elektronik) gestoppt wurden, da es kein Weiterkommen mehr gab.

Die ungute Stimmung im Olympiapark hatte sich auch auf die Besucher der Performance übertragen. Einige waren schon jetzt sichtlich angetrunken und schwankten hin und her, andere Mitglieder des vorwiegend männlichen Publikums hatten ihre Freundinnen mitgebracht und zeigten diese wie eine Art Trophäe umher. Auffällig war auch die Provenienz von potthässlichen Tattoos an den unmöglichsten Stellen, viele hatten sich auch die grauslichen Teufelshörnchen gekauft und aufgesetzt.

Aber man muss auch seine Vorurteile überwinden und sich einfach freuen, dass sich mehr Menschen für Neue Musik interessieren – ist doch toll, dass sich in den letzten Jahren so viel verändert hat und die Akzeptanz gestiegen ist! Wenn zeitgenössische Musik auch ein solches Publikum erreicht, ist ihre Existenz trotz der düsteren Prognosen des Deutschen Musikrats gesichert!

„Wechselstrom/Gleichstrom“ hat eine wechselhafte Geschichte hinter sich, die von bedingungslosem künstlerischem Experiment zu großer Tragik reicht. So verstarb schon früh der Sänger Bon Scott, dem Vernehmen nach durch Erstickung an der eigenen aufgestoßenen Galle. Auch Malcolm Young (Gitarre) musste die Gruppe vorzeitig wegen Demenz verlassen und starb an den Folgen eines Schlaganfalls. Tatsächlich ist Angus Young das einzige nach wie vor aktive Gründungsmitglied des Kollektivs, und wie kaum ein anderer hat er die Musik der Formation geprägt.

Im Olympiastadion kündigte sich der Beginn des Konzerts mit dem Aufflackern einiger riesiger, um die Bühne herum angebrachten Bildschirme an. Auf ihnen war ein kurzer Film zu sehen: Ein Auto fährt durch eine apokalyptische Landschaft und wird von gigantischen Unholden bedroht (vermutlich eine kapitalismuskritische Allegorie) und erreicht schließlich die Tore eines Stadions, auf dem „Munich“ steht. Durch diese affirmativ-symbolische Bilderfolge werden die  Zuschauer quasi gleichnishaft in das Konzertgeschehen versetzt, daher überraschte es auch nicht, dass direkt danach die Mitglieder des Kollektivs die von riesigen Lautsprechern umstellte Bühne betraten (auf diesen immer wiederholt der Name „Marshall“ – eine Anspielung auf Marshall McLuhan?).

Leider waren die Protagonisten von unserem Platz aus kaum zu erkennen, was nicht nur an der Entfernung, sondern auch an ihrer ungewöhnlich geringen Körpergröße lag – Angus Young, der immer noch seine Schuluniform aus der 7. Klasse trägt, mag hierfür ein gutes Beispiel sein. Das Schöne ist: aus dem erlittenen Minderwertigkeitsgefühl gegenüber einer vorwiegend athletischen und großgewachsenen australischen Gesellschaft ist eine künstlerisch relevante und subkutan rebellische Botschaft entstanden, die über die vergangenen 51 Jahre Bestand hatte und nach wie vor wahrgenommen wird (auch wenn der Einfluss des Kollektivs gerade in Zeiten der Spektral- und Minimal-Music deutlich abflachte, dann aber in den 10er Jahren wieder Auftrieb gewann).

Nun begann auch gleich das erste Stück, dass leider wegen eines fehlenden Programmhefts und fehlender Textverständlichkeit für mich nicht zu identifizieren war. Wie soll man diese Musik beschreiben? Zuerst einmal fällt auf, dass sich das Kollektiv dem Konzept eindeutig wahrnehmbarer harmonischer Verläufe komplett verschließt, ich würde sogar so weit gehen, dass Harmonik in sowohl funktionaler als auch struktureller Form, kurzum die Vertikale an sich, keinerlei Rolle spielt. Dies ist durchaus in der Tradition von Fluxus und frühen Formen des Neo-Bruitismus. Stevie Youngs (Gitarre) Aufgabe ist es, einen Teppich aus sogenannten „Power Chords“ zu bereiten – offene Quintklänge, die durch die rigoros verzerrende Live-Elektronik einen eher geräuschhaften Charakter bekommen. Diese Aufgabe verrichtet er mit nobler Unauffälligkeit im Hintergrund der Bühne. Obwohl er wesentlich älter als sein Onkel Angus aussieht, ist es klar, wer hier der Boss ist.

Und dieser ist eindeutig Angus Young! An einen geschrumpften Hans Neuenfels erinnernd, dominiert Angus das musikalische Geschehen mit kurzen, oft nur aus wenigen Noten bestehenden Gitarrenmotiven, die aufgrund ihrer stetigen Wiederholung meditativ wirken würden, wenn nicht die große Lautstärke sie fast überdimensioniert und damit auch fast schon wieder zerbrechlich erscheinen ließe. Diese Motive brechen mit brachialer Gewalt über die Hörer ein, wobei auffällt, dass sie stets – als Hommage an Terry Riley zu verstehen – um den Grundton „E“ kreisen, der auch praktischerweise der tiefste Ton der Gitarre ist.

Der Beitrag von Angus Young vollzieht sich auf mehreren Ebenen, wobei die Grenzen zwischen Performance, Improvisation und Komposition eindeutig fließend sind. Die oft provokant banalen und beständig wiederholten Motive bilden das musikalische Basismaterial, solange diese dominieren, hält sich Young mit seinem Spiel eher zurück. An bestimmten Stellen im Stück tritt er aber in den Vordergrund, meistens mit Improvisationen auf den oberen drei Saiten der Gitarre, wobei er gerne nur die Finger auf den Bünden verwendet, ohne rechts die Saiten anzuschlagen (so wie es übrigens auch schon Helmut Lachenmann in seiner berühmten „Salut für Cauldwell“ vorgemacht hat). Dass er die 4. Und 5. Saite der Gitarre verwendet, war für mich nicht ersichtlich, vermutlich sind diese Saiten permanent abgedämpft, im Sinne einer durchgängigen Präparation des Instruments.

Die Performanceelemente von Youngs Performance sind immer gleich und werden in jedem Stück unablässig wiederholt. An bestimmten Punkten beginnt Young einbeinig zu hüpfen (erstaunlich gelenkig für einen fast 70-jährigen Veteranen der australischen Experimentelle-Musik-Szene) und immer wieder mit dem ausgestreckten Zeigefinger in die Luft zu zeigen. Dieses Signal wird teilweise vom eingeweihten Publikum aufgenommen, und mündet in ein diffuses Brüllen des Namens „Angus“. Ist es ein heidnisches Ritual wie in „Sacre“, ein buddhistisches Bejahen im Sinne eines Scelsi (die Ähnlichkeit der Silben „Youuung“ und „Ooooom“ ist unverkennbar) oder vorhersehbarer Manierismus? Diese Frage möge jeder für sich beantworten.

Einige dieser Elemente nutzen sich auf den ersten Blick ab, bis klar wird, dass gerade die Monotonie durch das vollkommene Fehlen von Variation (alle Stücke klingen exakt gleich) künstlerisch eindeutig Absicht zu sein scheint. So endet unweigerlich jedes Werk so:  Angus Young bewegt sich in Richtung Schlagzeug und facht seinen Kollegen an, wohlfeil Lärm auf verschiedenen Hängebecken zu machen. Dieser Moment wird gleichsam an einem bestimmten Punkt von einem Luftsprung von Young abgebrochen, den der Schlagzeuger genau dann mit einem Bass-Drum-Schlag koppelt, wenn Young wieder auf dem Boden aufkommt. In diesem Moment ist das Stück zu Ende, eine längere Pause entsteht, die im Stadion fast beunruhigend wirkt aufgrund ihrer Abwesenheit von Klang. Die Musiker ziehen sich zurück (werden sie künstlich beatmet?), bis irgendwann ein lautes Rückkopplungsgeräusch darauf hinweist, dass Angus Young wieder „zugeschaltet“ ist, dann geht auch schnell das nächste Stück los, das wieder exakt nach demselben Schema abläuft.

Ein weiterer Aspekt der Performance ist der Gesang, oder vielmehr die Nichtexistenz von Gesang. Brian Johnson ist der älteste Musiker auf der Bühne und versprüht den existentialistischen Charme eines gereiften Intellektuellen, der niemandem mehr etwas vormachen muss: Schiebermütze, schwarzes T-Shirt und schwarze Hose, ein ostentativ dem eventuellen body-shaming entgegengereckter Bierbauch. Sein Gesang ist in der Abmischung so im Gesamtklang versteckt, dass nur die schrillsten Töne durchdringen, wobei die Tonhöhe sich in einem vollkommen anderen tonalen Umfeld befindet wie der Rest der Musik. Im Grunde ist es ein fortlaufendes tonloses Kreischen, diffus, undefiniert, ohne erkennbaren Kontext zum jeweiligen Stück. Johnson wandert mal nach links, mal nach rechts, aber im Großen und Ganzen überlässt er die Bühne Angus Young, der auch wesentlich agiler ist. Seine stille Präsenz hat aber einen gewissen Charme: eigentlich braucht man Johnson überhaupt nicht, aber er ist dennoch da, ein bisschen wie ein fleischgewordenes Adorno-Zitat.

Über die weiteren beiden Musiker lässt sich nicht viel sagen, da ihre Rollen aufgrund des Klangkonzepts streng limitiert sind. Chris Chaney (Bassgitarre) ist der Jüngste im Bunde, verlässt aber den ihm zugeteilten Platz auf der Bühne nie. Seine Aufgabe ist es, die ohnehin schon nicht sehr schnellen Motive der einzelnen Stücke zwei Oktaven tiefer quasi unhörbar unisono mitzuspielen. Matt Laug (dem eine erstaunliche Ähnlichkeit zu Odo aus „Deep Space Nine“ zu eigen ist) spielt das Schlagzeug, wobei vor allem sein Durchhaltevermögen bei den sturen und stets synkopen- und triolenfreien Eins-ZWEI-drei-VIER-Rhythmen zu bewundern ist, ein Schema, von dem er nur in ganz seltenen Momenten des Abends – und dann auch nur sehr kurz – abweicht.

Immer wieder wird der Abend durchbrochen von Videoeinspielungen, die langsam, aber sicher einen der ersten Höhepunkte des Abends vorbereiten, die Komposition „Autobahn zur Hölle“, die als eine Hommage an die frühen elektronischen Experimente der deutschen Formation „Kraftwerk“ verstanden werden kann („Fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobaaaahn“). Der Refrain ist radikal dadaistisch und gemahnt an Schwitters: „Ich bin auf der Autobahn zur Hölle, auf der Autobahn zur Hölle, Autobahn zur Hölle, ich bin auf der Autobahn zur Hölle“. Wieder sehen wir bewegte Videos von Fahrmaschinen in unwirklicher Landschaft, diese weichen Explosionen, aber auch überraschend auftauchenden riesigen weiblichen Brüsten aus, was nur auf den ersten Blick eine Dichotomie (Dickotomie?) ist. Überhaupt scheint die wiederholte Kritik an einer dem männlichen Blick ausgesetzten weiblichen Körperlichkeit grundsätzliches Thema der verschiedenen Kompositionen zu sein, wobei dieser Aspekt aufgrund des leider selten verständlichen Textes ein wenig zu kurz kommt. Zumindest visuell wird dennoch die eine oder andere Note gesetzt, vor allem am Höhepunkt des Abends, als mehrere Kanonen phallusartig „abfeuern“.

In gewisser Weise mag die absichtliche Unverständlichkeit des Textes auch mit der Angst vor feministischer Kritik zu tun haben. Wie bewertet man z.B. heute solche Zeilen (aus dem Stück: „Lass mich Deine Liebe in Dich hineintun“)? „Wehre Dich nicht, kämpfe nicht. Sorg Dich nicht, denn heute bist Du dran. Lass mich meine Liebe in Dich hineintun, lass mich Deinen Kuchen mit meinem Messer aufschneiden“… Sicherlich wirkt das heute anders als vor 40 Jahren. In einem anderen Lied heißt es sogar: „Ich streck Dich nieder. Oh, nieder, nieder, nieder. Mach nicht blöd rum, ich drück ihn, drück ihn, den Abzug!“. Sexuelle Anspielung oder Forderung nach entschärften Waffengesetzen in Australien? Man weiß es nicht genau – diese Texte verweigern sich der vorschnellen Interpretation in ihrer Sperrigkeit, machen betroffen, bleiben haften.

Wie das noch toppen? Mit einem Gitarrensolo von Angus! Diese Soli dauern ca. 15 Minuten, denn das Publikum wird dazu aufgefordert jedes hingeworfene Motiv grölend zu imitieren. Das begleitende Ensemble spielt sich dabei meditativ in eine Art Trance, unablässig wird dieselbe dreitönige Repetition des Tons E wiederholt, das Schlagzeug spielt Bumm-Zack-Bumm-Zack, keine einzige Variation trübt den rituellen Gesamteindruck. Erst als das Publikum vollkommen erschöpft ist und noch nicht einmal mehr untereinander schlägern will (wie in den vergangenen 90 Minuten), lässt Angus ab. Die Band tritt erneut auf, ein Song noch, dann ist das Konzert auch schon zu Ende.

Auf dem Weg nach draußen wurde es angesichts der Menschenmassen etwas eng. Anscheinend habe ich die wie eine Trophäe vor sich hergeschobene Freundin meines Nachbarn leicht mit der Schulter touchiert, dieser daraufhin zu mir „Wenn Du noch einmal meine Alte antatscht, klatsch ich Dir eine, Du Arschloch“. Michael zog mich weiter, bevor ich mich in die Tiefen einer grundsätzlichen dialektischen Diskussion begab. Vielleicht war das gut so.

Ein Abend, wie er sein sollte: nachdenklich stimmend und anregend, irritierend und provozierend.

Wechselstrom/Gleichstrom, vielleicht zum letzten Mal live in München.

Moritz Eggert

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