Der ernste Zustand der E-Musik

Der ernste Zustand der E-Musik

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Dass die einst von den GEMA-Gründern benutzten Begriffe heute anachronistisch wirken, muss ich nicht erwähnen. „Ernste Musik“ ist nicht notwendigerweise ohne Humor und Ironie, und Unterhaltungsmusik ist nicht nur da, um ein bisschen zu amüsieren. Beide Genres kennen Tiefe und hohe Qualität. Wenn wir aber über die Gründe für diese Trennung innerhalb der GEMA nachdenken, wird schnell klar, dass ein Verständnis der sehr unterschiedlichen Entstehungsumstände eine modifizierte Betrachtung auch bei der Verwertung rechtfertigen. Zum Beispiel kann die Komposition eines großen Orchesterwerks mit einer aufwendigen Partitur und zahllosen Einzelstimmen nicht wirklich mit einem im Studio produzierten Song verglichen werden, ohne dass eine solche Feststellung irgendetwas über die Berechtigung oder Qualität dieser beiden Ausdrucksformen aussagt. Es gibt sehr erfolgreiche E-Komponist:innen mit zahllosen Aufführungen, aber selbst diese werden mit ihrer Arbeit nur einen Bruchteil der Umsätze erreichen, die in vornehmlich kommerzieller Musik theoretisch möglich sind. Allein dies unterscheidet die beiden Welten grundsätzlich – die eine orientiert sich in irgendeiner Form an einem Markt, die andere existiert in einem freien und „wilden“ Raum, in dem es eher um hohes künstlerisches Risiko, Experiment und den Versuch, möglichst neue künstlerische Wege zu beschreiten geht.

Was aber oft nicht beachtet wird: U-Musik und E-Musik sind keineswegs „konträre“ oder „verfeindete“ Konzepte, sie ergänzen sich, gerade weil sie sich unterscheiden. Unser Vorstandsmitglied Micki Meuser (DKV) – seines Zeichens Filmkomponist – hat es schön ausgedrückt: „Wir sind froh, dass es euch E-Komponisten gibt, denn ihr probiert die Sachen zum ersten Mal aus, die uns bei unseren nächsten Filmmusiken inspirieren können“. Umgekehrt gibt es zahllose Beispiele, in denen E-Musik durch U-Musik inspiriert wurde – so versuchte ein Komponist wie Thomas Adès Elemente von Clubmusik in Orchestermusik neu zu interpretieren, Komponisten wie Philip Glass oder David Lang ließen sich von der Filmmusik eines Bernard Herrmann inspirieren. Populär- und Hochkultur haben sich schon immer wechselseitig ergänzt und inspiriert, das zieht sich durch die gesamte Musikgeschichte, nicht erst seit Mozart.

In einer idealen Welt helfen sich beide Seiten mit gegenseitigem Respekt – die erfolgreichsten Komponierenden kommerzieller Musik unterstützen die „Hexenküche“ der Neuen Musik als kreative Werkstatt, die „Neue Musik“-Freaks arbeiten wiederum an neuen und verrückten Ideen, die irgendwann auch ein großes Publikum begeistern können. Es wäre so schön, aber leider ist es nicht so einfach – es gibt Kräfte, die auf die in den GEMA-Statuten festgelegten Unterstützungen der E-Musik schielen, weil sie jeden Cent ihrer Tantiemen wollen. Aber es gibt auch leider viel zu viele E-Komponierenden, die sich wenig für eine Mitgliedschaft im DKV oder ein Engagement in der GEMA interessieren, weil sie sich dafür irgendwie zu fein sind oder sich darauf verlassen, dass ihr kleines E-Territorium ewig auf festen Füßen steht. Nein, das tut es nicht, denn wie und wohin Geld in der GEMA verteilt wird, ist stets verhandelbar und gemeinsame Entscheidung einer Kurie, die bei den Mitgliederversammlungen anwesend ist und sich einbringt. Geschieht dies nicht, werden die Entscheidungen ohne die Personen getroffen, die davon betroffen sein werden.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen E und U, der mir zunehmend vor allem in Deutschland auffällt, und das betrifft die grundsätzliche Solidarität untereinander.

Weder in der U noch in der E-Musik finden sich alle gleichermaßen dufte. In der U-Musik zum Beispiel hören ganz sicher nicht alle Schlager-Fans gerne auch Heavy Metal. Wer Reinhard Mey und anspruchsvolle Chansons liebt, ist vielleicht nicht die typische Rammstein-Hörerin und Anhänger von Grunge und Punk werden an Nils Frahm wenig finden. Aber im Grunde macht das überhaupt nichts, denn in dem riesigen Bereich von auf ganz unterschiedliche Weise populärer Musik nehmen z.B. Schlagersängerinnen den Heavy Metal – Bands nichts weg, da sie ein vollkommen unterschiedliches Publikum ansprechen. Man kann wunderbar nebeneinander in großer Vielfalt existieren, Konkurrenz gibt es allenfalls dort, wo man exakt dasselbe macht.

Ist es auch so in der E-Musik? Nicht wirklich. Kennerinnen der Neue-Musik-Szene wissen, dass es da genauso viele Unterschiede gibt, wie in der populären Musik. Zum Teil tuen sich tiefste ästhetische Gräben auf zwischen New Complexity und Minimalismus, zwischen Spektralmusik und Konzeptmusik. Das kann alles komplett unterschiedlich klingen, ist dennoch ambitionierte Musik von heute. Das Problem ist nur: das Zielpublikum all dieser Aktivitäten ist mehr oder weniger dasselbe, daher wird der Kampf um die Deutungshoheit wesentlich erbitterter geführt als in der U-Musik, in der eher eine vom Publikum getriebene natürliche Selektion herrscht. Oder anders gesagt: je kleiner der Acker ist, desto erbitterter wird der Kampf um die wenigen Furchen geführt.

Immer noch werden schlaue Bücher veröffentlicht, in denen diskutiert wird, was gerade „relevant“ oder nicht ist, Komponisten wie Pierre Boulez oder Musikphilosophen wie Adorno haben historisch Abgrenzungsprozesse befördert, die die Neue Musik in immer kleinere Parzellen unterteilt hat, in denen bestimmte Stile dann plötzlich keinen Platz mehr fanden. Die schlimmsten Grabenkämpfe der 80er Jahre mögen Vergangenheit sein, wenn ich aber mit jungen Komponierenden spreche, höre ich von ihnen nach wie vor eine große Frustration darüber, dass sie sich hier und dort mit ihrer Musik ausgegrenzt oder nicht für voll genommen fühlen, oder von bestimmten Festivals aus rein ästhetischen Gründen nicht gespielt werden, weil es nicht zu der spezifischen „Szene“ passt, die dort vertreten wird.

Das sind alles Phänomene, die man sicher auch aus der U-Musik kennt, aber es fällt schon auf, dass die E-Musik-Szene sich durch unendliche interne Revierabgrenzungen viel kleiner macht, als sie eigentlich ist. Und je kleiner man sich macht, desto empfindlicher wird man, desto geringer ist das Selbstbewusstsein.

Auch vergangene Jahrhunderte kannten leidenschaftliche Diskussionen darüber, was damals „neue Musik“ war. Tschaikowsky fand Brahms „langweilig“, Debussy arbeitete sich an Richard Wagner ab. Der Unterschied aber war, dass man sich grundsätzlich gegenseitig als Komponierende anerkannte. Tschaikowsky sprach Brahms nicht das Recht zum Komponieren ab. Genau das geschieht aber sehr oft in der E-Musik-Szene aus einer seltsamen Form des Dünkels heraus, wenn z.B. manch akademisch fest im Sattel sitzende Kollege seinen Studierenden sagt, dass man so und so komponieren „müsse“, weil man sonst kein Komponist sei, oder bei einem Meisterkurs eine Partitur desinteressiert bis angeekelt weggelegt wird, weil sie nicht der Ästhetik der jeweiligen Lehrperson entspricht.

Dieser grundsätzliche Geist ist leider noch sehr lebendig, ergibt aber immer weniger Sinn. Warum kann die E-Musik nicht solidarischer auftreten? Nichts wäre in diesen Zeiten der Verteilungskämpfe (mit KI wird alles noch schlimmer werden) jetzt wichtiger.

Ich sage es deutlich: es müssen mehr E-Komponierende dem DKV beitreten, zu den GEMA-Versammlungen kommen, aktiv an den notwendigen Reformen der Verteilungspläne mitwirken. Immer noch schlummert ein Großteil der E-Musik-Szene vor sich hin, vereinzelt, in zahllosen kleinen und zum Teil sogar nur lokal aktiven Szenen, ein eigenes Süppchen kochend und sich abgrenzend.

Ich meine damit nicht, dass man dort überall langweilige Musik schreibt, ganz im Gegenteil. Aber wo bleibt das Gemeinschaftsgefühl, das gerade in schwierigen Zeiten (und diese schwierigen Zeiten sind JETZT) notwendig ist?

Je mehr die E-Musik geschlossen auftritt (bei gleichzeitig größtmöglicher Akzeptanz einer Vielzahl von Stilen und musikalischen Ausdrucksformen, von denen viele im Moment gar nicht für alle als „E“ gelten, was absurd ist), desto mehr können wir auch unsere künstlerischen wie auch finanziellen Anliegen vermitteln. Die harte Realität ist, dass nur eine Handvoll von E-Komponierenden in Deutschland allein vom Komponieren leben können. Aber auch die, die nicht allein vom Komponieren leben, profitieren von z.B. der „Wertung“ bei der GEMA, die ambitionierte und nichtkommerzielle Musik grundsätzlich als förderungswürdig erachtet. Manchen sichert das gar ihr Überleben. Der Kreis dieser Musik muss einerseits größer werden, andererseits darf der Erfolg mit E-Musik nicht nur in kleinen Fachpubliken oder dem Feuilleton gesucht werden, sondern muss sich auch ernsthaft um Vermittlung bei Menschen bemühen, die nicht Fachexperten sind. Auch Orffs Carmina Burana ist letztlich E (und aus GEMA-Perspektive muss man sagen: gottseidank!)

Musik, die nur um ein sehr spezielles Fachwissen oder avancierte und esoterische „Materialdiskussionen“ kreist, darf nicht das einzige Ziel von E-Musik sein. Grundsätzliche Verständlichkeit heißt nicht automatisch, dass man billigen Ausverkauf betreibt. Aber auch das Avancierte hat seinen gerechtfertigten Platz. Warum darf es nicht beide Varianten in „E“ geben?

Wie oft ist mir in meiner eigenen Karriere unglaublicher Dünkel entgegengekommen. Ein Kollege versuchte zum Beispiel jüngst, Veröffentlichungen von mir bei einem CD-Label zu verhindern allein aus dem Grund, dass ihm meine Ästhetik nicht passte. Mein Kompositionslehrer Wilhelm Killmayer wurde jahrzehntelang verlacht und verhöhnt von der „Szene“, nur weil seine Musik nicht den damaligen Maßstäben entsprach. Wie oft hörte ich bei Meisterkursen die Worte „das macht man heute nicht mehr“. Gegenseitige Kritik ist nicht problematisch, wenn aber die grundsätzliche Existenzberechtigung einer bestimmten Ästhetik abgesprochen wird, wird es unerträglich, denn das werden zukünftige Ohren ohnehin ganz anders entscheiden, als man es erwartet.

Der Komponist Hummel galt zu Beethovens Zeit in der auch schon damals existierenden „Fachwelt“ als der wesentlich größere und begabtere Komponist, heute kennt man ihn einzig als Urheber eines gelegentlich gespielten Trompetenkonzerts, wenn überhaupt. Die Musikgeschichte ist voll von solchen Irrtümern, wir sollten uns nicht anmaßen, hier genau schon jetzt über die Zukunft Bescheid zu wissen. Unser Ziel sollte es sein, möglichst viel musikalische Gegenwart zu ermöglichen, hierzu braucht es auch Förderung. Wir zahlen einen Rundfunkbeitrag, weil wir auch ein Spartenradio und Kulturradio wünschen, ähnlich agiert die GEMA mit ihrer Trennung von zwei Konzepten wie E und U. Ob diese Konzepte in Zukunft so heißen, ob es vielleicht bessere und zeitgemäße Konzepte gibt – diese Diskussion wird bei der diesjährigen GEMA-Versammlung im Jahre 2024 eröffnet werden. Wenn wir als E-Komponierende nicht dabei sind, sollten wir uns danach nicht beschweren, wenn wir mit dem Ergebnis dieser Diskussion nicht einverstanden sind.

Was wir aber immer brauchen werden – vor allem in Zeiten von KI – ist möglichst freie menschliche Kreativität. Wir werden immer neue Ideen brauchen, neue ästhetische Ansätze, die vielleicht erst einmal ungewohnt und verrückt sind. Notierte Musik sollte dabei eine wichtige Rolle spielen, weil dort bestimmte Dinge möglich sind, die in rein elektronisch produzierter oder polyphoner Musik nie möglich sein werden, zum Beispiel wenn es in Richtung komplexer Polyphonie geht. Ein 40-stimmiges (vierzig unabhängig agierende Einzelstimmen in fantastischem Kontrapunkt!) Chorwerk wie „Spem in Alium“ von Thomas Tallis kann man nicht eben mal improvisieren, es muss aufgeschrieben werden. Diese Musik ist nicht „besser“ als nicht notierte oder improvisierte Musik, sie stellt nur eine ganz spezielle Art von Musik dar, die nur mit musikalischer Notation – einer der historisch einzigartigsten Errungenschaften des Abendlandes – möglich ist.

All das ist – irgendwie – E-Musik. Und natürlich noch viel mehr als das. Aber wir werden den Fortbestand der sogenannten „Kunstmusik“ nur dann sichern, wenn wir dezidiert solidarisch auftreten und uns auch dort engagieren, wo es um Realitäten unseres Berufs geht, zum Beispiel in der GEMA oder im DKV.

Meinen geschätzten und geliebten E-Kolleginnen und Kollegen sage ich daher: werdet Mitglied beim DKV, werbt neue Mitglieder! Engagiert euch bei der GEMA, vor allem dann, wenn ihr es bisher noch nicht getan habt!

Ihr seid dort nur so fremd, wie ihr euch fühlt. Mit gegenseitigem Respekt (auch – und das ist ganz wichtig – vor den Kolleginnen und Kollegen der U-Musik) geht alles leichter.

Eure Musik wird damit keineswegs unfreier, ganz im Gegenteil. Vielleicht wird sie gerade dann besonders relevant.

Dann, wenn ihr nicht mehr so tut, als ob euch das alles nichts angeht.

 

Moritz Eggert

 

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