Vom Umgang mit Dämonen

Vom Umgang mit Dämonen

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Wir leben in einer Welt, in der das Äußere zunehmend in Diskrepanz zum Inneren steht. Wenn ich auf den sozialen Medien schaue, was meine lieben Kolleginnen und Kollegen so treiben, so folgt nur ein Highlight dem anderen. Lachend in der Garderobe, vor dem Konzert („ich freue mich auf…“), Bilder vom Applaus („es war so toll!“), lachend nach dem Konzert („mit XXX und XXX nach dem fantastischen Auftritt in X – life could be worse!“).

Natürlich schreiben wir nur sehr selten darüber, wie es in unserem Inneren aussieht. Natürlich sind wir alle mal frustriert, schlecht drauf, vielleicht sogar richtiggehend ausgebrannt. Das schreibt aber niemand, stattdessen gibt es Urlaubsfotos („We’re having the best time ever!“) mit Aperol Spritz am Strand. Während man sich diesen Urlaub hart erkämpft hat und dringend braucht, vielleicht wesentlich dringender, als der Welt davon erzählen zu müssen und die wichtige Entspannungszeit mit täglichen Foto-Sessions zu verkürzen.

Das sind jetzt alles keine neuen Phänomene. Früher waren wir Deutschen dafür berühmt, bei der Frage „wie geht es Dir?“ lange und detaillierte Beschreibungen unseres Seelenzustands abzugeben und dabei schonungslos offen zu sein. Inzwischen hat sich aber die „amerikanische“ Selbstdarstellung durchgesetzt: bloß keine Schwäche zeigen, alles ist immer supi und „brillant“. In den Reels führen alle das perfekte Leben – jedes Konzert ist ein Triumph, das Leben eine einzige Party. Wenn sich einer mal traut, wirklich ehrlich zu sein, gibt es vielleicht ein paar mitleidige aufmunternde Sprüche. Aber diese kommen dann meistens von Personen, die man kaum kennt und die nicht wirklich im persönlichen Umfeld wirken: lieb gemeint, aber es kostet die auch nichts.

In unserem Beruf, der ein Showberuf ist, selbst wenn wir keinen Moonwalk praktizieren und stattdessen das Wohltemperierte Klavier spielen, ist diese Diskrepanz oft auch ein brutaler Konkurrenzdruck. Zeige ich nämlich eine Schwäche, kann sich das auf meine Existenz auswirken. Welcher Sänger würde zum Beispiel posten „meine Stimme ist komplett kaputt, weil ich kurz vorm Burnout bin – ich muss jetzt eine Auszeit nehmen“? Niemand – denn sofort würde man nicht mehr zu Vorsingen eingeladen („schon gehört? XXX trifft keinen Ton mehr…“). Der Konkurrenzdruck in unserem Beruf kann unendlich grausam sein und das Rampenlicht bietet nie genügend Platz für alle. Ein kleines Versagen, schon stehen andere bereit. Daher geben wir uns nach außen hin alle unverletzlich, stets guter Laune und zu Taten aufgelegt. Das ist auch eine Art Promotion.

Wie anders die Wirklichkeit aussieht, hat gerade erst vor kurzem der von mir sehr geschätzte Alexander Bojcan (auch bekannt als Kurt Krömer) in seinem Buch „Du darfst nicht alles glauben, was du denkst“ öffentlich gemacht, in dem er sowohl über seine Alkoholsucht als auch seine Behandlung wegen Depression spricht. Ich finde das sehr mutig, denn natürlich ist auch der Komiker-Beruf ein „Showberuf“, es gibt eine Konkurrenz und man will auf keinen Fall als „schwierig“ gelten.

Diese Bücher – auch wenn sie keine tiefschürfenden Neuigkeiten offenbaren – sind unglaublich wichtig, genauso wichtig wie einst das mutige Selbst-„Outen“ von LGBT-Prominenten, die anderen Menschen damit Mut machten, sich zu sich selbst zu bekennen. „Wenn der/die sich das traut, dann traue ich mich auch.“ Wir brauchen tatsächlich mehr solche Bücher wie zum Beispiel auch das wunderbare Buch „Alk“ von meinem lieben Freund Simon Borowiak, vielleicht eines der komischsten wie gleichzeitig auch ernsten Bücher über Alkoholismus das es je gab. Ein Buch, wie es nur jemand schreiben kann, der/die selbst betroffen ist, das ist das wichtige daran. Ich bin sicher, dass Simon Borowiak mit diesem Buch schon Leben gerettet hat.

Es ist kein Klischee, dass künstlerische Berufe besondere Menschen anziehen. Meistens sind es sensiblere Menschen, die in irgendeiner Form entweder an der Welt oder an sich selbst leiden und dies versuchen mit kreativer Arbeit zu kompensieren. Oder mit dem Applaus eines dankbaren Publikums, das man gerade beglückt hat.

Ich weiß selbst, was mich zur Kunst trieb. Schon als Kind fand ich das meiste, was Menschen so auf dieser Welt treiben, abscheulich, niederträchtig und beschissen. Ich fand die Menschheit nur dann interessant, wenn es ihr gelang, etwas zu schaffen, das all dieses Leid in irgendeiner Form transzendierte. Daher gilt bis heute mein größter Respekt den Menschen, die ein bisschen Schönheit in diese Welt bringen, sei es durch Kunst oder auch dadurch, dass sie das, was sie tun, mit großer Liebe und Hingabe tun. Für mich ist jeder Mensch künstlerisch, der sich liebevoll einer Sache widmet, ob es nun der perfekte Kuchen oder eine Symphonie ist.

Aber natürlich kann die Wirklichkeit diesem Idealismus nicht immer gerecht werden. Ich denke, dass wir alle als Künstler gerade wegen unserer Sensibilität auch eine tiefe innere Schwärze kennen, die manchmal überhand nehmen kann. Zum ersten Mal begriff ich das, als einer meiner Lehrer am Dr. Hochs Konservatorium von einem Tag auf den anderen nicht mehr zum Unterricht erschien. Er war mit einer Pistole in den Wald gegangen und hatte sich erschossen. Natürlich gab es vorher keinerlei äußere Anzeichen dafür, aber hätten wir genauer hingesehen, hätten wir es verhindern können? Vielleicht ja, vielleicht nicht.

Ich will keine Theorie aufstellen, aber natürlich ist es schon so, dass sowohl eine Tendenz zu Drogenabhängigkeit wie auch psychische Krankheiten bei Künstler:innen besonders verbreitet sind. Die wenigsten greifen zu Heroin oder Crack, aber dass zum Beispiel Kokain oder Amphetamine eine große Rolle auch in der klassischen Musik spielen, ist kein Geheimnis. Der größte Killer dürfte aber schlicht und einfach Alkohol sein, einfach, weil er eine sozial akzeptierte Droge und überall erhältlich ist.

Wie viele Künstlerkollegen in meinem Bekanntenkreis sind zu Alkoholikern geworden oder an Alkohol gestorben? Ich kann sie gar nicht alle aufzählen, so viele sind es. Aber nur die engsten Freunde bemerken es, da sie auch mit Alkohol (oder vielleicht sogar wegen des Alkohols) scheinbar „funktionieren“ und sogar hart arbeiten können. Und weil sie natürlich sehr geschickt darin sind, es zu verbergen oder Bedenken abzuwiegeln. Dennoch müssen wir uns auch bei diesen Kollegen stets fragen: hätten wir vielleicht eingreifen können? Es gibt das bekannte Phänomen der Ko-Alkoholiker, die zwar selbst nicht trinken, aber die Sucht der anderen indirekt unterstützen, da sie sie tolerieren… und diese damit daran hindern, ihre Krankheit heilen zu können.

Sehr oft machen uns auch hierarchische Strukturen einen Strich durch die Rechnung – sagt man dem berühmten Regisseur oder der berühmten Komponistin direkt ins Gesicht, dass sie ein Alkoholproblem haben? Ganz sicher nicht, denn man fürchtet gerade von Autoritäten das aufbrausende Verhalten, das oft mit Alkoholkonsum einhergeht. Wenn man hierarchisch unter ihnen steht, sagt man nichts.

Ich habe Proben erlebt, in denen besoffene Regisseure Menschen auf der Bühne erniedrigten. Ich habe erlebt, wie überforderte und alkoholisierte Dirigenten Musiker zur Sau machten.  Doch am Ende steht in ihrer Garderobe die Whiskyflasche, oder die Regieassistentin bringt die nächste Weißweinflasche. Dies sind alles keine anekdotischen Geschichten, sondern passiert ganz sicher auch jetzt, in diesem Moment, irgendwo in Deutschland. Und weil alle still daran mithelfen, werden diese Menschen, die schlicht und einfach krank sind, nie geheilt.

Depression ist das andere große Thema, über das nur selten gesprochen wird. Gerade die klassische Musikszene ist unerbittlich und wesentlich leistungsorientierter als zum Beispiel die Pop-Musik. Den Gallagher-Brüdern (Oasis) hat man stets ihr bizarres Verhalten oder misslungene Konzerte verziehen, aber wenn zum Beispiel ein klassischer Pianist ein Konzert abbricht, weil er „nicht mehr kann“, ist er quasi sofort unten durch.

Einer meiner wunderbarsten Klavierlehrer war durch ein solches Erlebnis zutiefst traumatisiert – als junger aufstrebender Star (und Schüler von Artur Schnabel) sollte er das Klavierkonzert von Schumann spielen. Er bekam vor lauter Angst Gedächtnisprobleme und verhaspelte sich, brach ab, begann aufs Neue, scheiterte wieder, verließ dann beschämt das Podium. Er wurde dann ein fantastischer Liedbegleiter und Kammermusiker, aber ich weiß, dass er dieses Erlebnis bis zuletzt nicht verkraftet hat.

Ich habe oben geschrieben, dass wir Menschen dazu tendieren, alles runterzuziehen, aber wie zur Hölle sind wir dazu gekommen so etwas Schönes und Freies wie die Musik zu einem Leistungssport zu machen, in dem man von „Versagen“ spricht, wenn man zum Beispiel wie der nun wirklich hochverdiente Pianist Maurizio Pollini im Alter nicht mehr alle Töne trifft?

Es gibt sie, die Glückskinder wie zum Beispiel der unverwüstliche und erst vor kurzem mit fast 100 Jahren verstorbene Pianist Menahem Pressler, der nie ein Konzert absagte und sich nie groß etwas daraus machte, wenn nicht jeder Lauf perfekt war, da er einfach unglaublich musikalisch und charmant spielen konnte. Aber wer weiß, was für Abgründe in seinem Inneren lauerten? Zumindest konnte er sie nach außen hin erfolgreich überwinden, aber was ist mit denen, die das nicht schaffen?

Wir brauchen eine größere Achtsamkeit und Akzeptanz gegenüber den eigenen wie auch anderen Dämonen. Gerade in der Kunst muss man nicht perfekt „funktionieren“, da auch das Scheitern dazu gehört. Die großen Heroen der klassischen Musik – sie waren alle keineswegs perfekt, kannten jeweils ihre Grenzen. Nur wer Grenzen hat, kann sie überhaupt überwinden – das ungefährdet Errungene ist komplett uninteressant. Dass so selten etwas perfekt gelingt, sollte uns nicht nur lehren, Perfektion zu bewundern. Sondern auch den Weg dorthin

Psychische Probleme wie z.B. Depression können sehr wohl mit Leistungsdruck zu tun haben. Aber es gibt auch endogene psychische Probleme, die weder etwas mit Traumatisierung noch mit Versagen zu tun haben. Ich habe schon sehr viele Kompositionsstudierende mit solchen Problemen unterrichtet – das ging von ADHS bis zu Autismus oder Schizophrenie. Mich macht es sehr glücklich, wenn diese Studierenden dennoch Kompositionen zustande bringen. Aber es braucht viel Geduld.

Wer von uns kann wirklich sagen, dass er/sie „gesund“ ist? Kreativ zu arbeiten, heißt immer auch, sich einer gewissen Gefahr auszusetzen. Ich glaube, dass es vollkommen unmöglich ist, vollkommen frei von diesen Dämonen zu sein.

Wir alle haben unterschiedlichste Motivationen, diesen Beruf auszuüben. Bei mir haben bestimmte Erniedrigungen in der Schule eine große Rolle gespielt. Von der 7. Bis zur 10. Klasse erlebte ich tägliches Mobbing – ich wurde geschlagen (zum Teil vollkommen überraschend und ohne Grund), in Mülleimer gesteckt, aus dem Fenster gehangen, angespuckt. Das sind Situationen, die ich nie vergessen werde, aus denen ich aber auch eine gewisse Widerständigkeit beziehe, denn irgendwann verwandelte sich meine Ohnmacht auch in ein Aufbäumen, in ein „ich zeige es euch“. Ich stellte mir damals oft vor, was meine Peiniger mit 50 wohl machen würden, wie sie frustriert mit einer Bierflasche vorm Fernseher hängen, ohne aus ihrem Leben etwas gemacht zu haben. In einer bestimmten Phase erzeugte das eine Energie, die mich stundenlang Klavier üben oder Komponieren ließ. Dennoch hinterließ dies bleibende Wunden.

Ich kenne auch die Dämonen einer allumfassenden Depression, die einen lähmt und unfähig macht, irgendetwas zu tun. Ich erinnere mich, mit Mitte 20 eine solche Phase durchlaufen zu haben, ohne bestimmten äußeren Grund. Ich war nicht mehr in der Lage, das Haus zu verlassen. Ich verbrachte Wochen damit, einfach nur an die Wand zu starren. Täglich wuchs der Hass auf mich selbst. Ich fühlte mich wie ein Versager, wie der letzte Dreck. Wahrscheinlich war ich nie in meinem Leben einem Selbstmord so nahe. Keiner meiner Freunde bekam diese monatelange Phase mit, denn ich meldete mich einfach nicht mehr.

Irgendwann geschah dann etwas Erstaunliches – ich hatte gemerkt, dass mich die Depression immer mehr anstrengte, alle meine Energie absaugte. So lange, bis ich nicht mehr konnte. So seltsam es klingt: plötzlich war ich zu erschöpft, um depressiv zu sein.

Das war der Wendepunkt. Obwohl immer noch wahnsinnig geschwächt, stand ich auf und ging nach draußen. Im Moment des absoluten Tiefpunkts war es plötzlich wieder möglich geworden, etwas zu tun, da das Nichtstun zu anstrengend geworden war. Es war ein bisschen so, als ob man in einen tiefen Pool sinkt und irgendwann gar nicht mehr anders kann, als sich vom Grund abzustoßen.

Ich bilde mir nicht viel auf diese seltsame Episode ein, die mir bis heute Rätsel aufgibt. Ich habe Freunde, die wesentlich schlimmeres erlebt haben: Wochen, Monate oder Jahre in der Therapie, Selbstmordversuche, leider auch teilweise erfolgreich. Aber in gewisser Weise bin ich dankbar, dass ich zumindest ansatzweise weiß, wie man sich in einer solchen Phase fühlt und wie wenig dann zu helfen scheint. Umso größer ist mein Respekt vor Menschen, die diesen Dämonen fast täglich ausgesetzt sind und die sehr viel Energie aufwenden, um sich gegen sie zu wehren.

Wir sind alle keine unverwundbaren Superhelden. Aber wir leben in einer Welt, die von uns erwartet, ein Superheldentum vorzutäuschen. Wer genau hinschaut, sieht die Zeichen. Die Musikerin, die sich in der Pause selbst ritzt, weil der Dirigent sie heruntergemacht hat, der Freund, der immer ein bisschen zu viel trinkt und immer ein bisschen gefährdet ist. Das sollte uns nicht egal sein. In meiner oben beschriebenen Phase hätte es mir viel bedeutet, wenn einer meiner Freunde angerufen und sich nach mir erkundigt hätte, da ich selbst nicht dazu in der Lage war. Alkoholiker wehren sich vehement, wenn man ihnen die Flasche vorenthält, später sind sie aber dankbar, wenn man nicht weggeschaut hat.

Können wir alle wirklich sagen, dass uns das alles nie passieren würde? Zum Alkoholiker kann jeder werden, wenn bestimmte Umstände zusammen kommen. Wir können alle Panikattacken bekommen, Depressionen zum Opfer fallen.

Wir müssen uns eingestehen, dass wir alle diese Dämonen kennen. Und diejenigen unterstützen, die ihnen ausgeliefert sind.

Manchmal ist es stärker, sich eine Schwäche einzugestehen, als Unverwundbarkeit zu signalisieren. Und wir sind am stärksten, wenn wir lernen, wieder aufzustehen.

Je offener und ehrlicher wir hierbei sind, desto besser können wir uns untereinander helfen. Denn ganz allein ist es für die meisten nicht zu schaffen.

 

Moritz Eggert

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