Meister Guru – und Täter? Gastartikel von Florian Hölscher
Da in der Welt momentan nicht wenig passiert, ist das Thema Machtmissbrauch an Musikhochschulen in der letzten Zeit nicht so oft besprochen worden, obwohl es natürlich weiterhin Skandale gibt, siehe zum Beispiel hier.
Der Pianist und Hochschulprofessor Florian Hölscher (Musikhochschule Frankfurt) setzt sich vorbildlich für die Aufklärung und Verhinderung von Machtmissbrauch ein und hat dazu einen sehr erhellenden Artikel geschrieben, den ich vor allem deshalb so bemerkenswert finde, weil er die psychologischen Hintergründe beleuchtet, aus denen Machtmissbrauch enstehen kann. Er entwirft darin sogar eine hochinteressante Tätertypologie, in der vielleicht die eine oder der andere Lehrende wiedererkennen, mit denen sie mal zu tun hatten. Nicht alle von diesen werden oder wurden automatisch zu Tätern, aber es geht um bestimmte wiederkehrende Muster.
Man kann immer nur betonen, dass es am besten ist, entstehenden Machtmissbrauch sehr früh zu erkennen und potenzielle Ausübende eines solchen Machtmissbrauchs z.B. durch Gespräche über Fehlverhalten aufzuklären, das ihnen vielleicht selbst gar nicht sofort bewusst ist. Erfolgreiche Präventivarbeit ist wesentlich besser als einen entstandenen Scherbenhaufen wieder zu „richten“, denn dazu ist es dann oft zu spät. Die meisten Institutionen reagieren nach wie vor mit einem automatischen Schutzreflex bei interner Kritik, selbst wenn die Fakten über Fehlverhalten eines Lehrenden schon längst auf dem Tisch liegen.
Nun aber zu dem hochinteressanten Artikel von Florian Hölscher, den er uns freundlicherweiser zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat. Hans-Jürgen von Bose hat übrigens immer wieder seine Bewunderung für Stefan George zum Ausdruck gebracht. Wenn man den Artikel liest, versteht man, warum. (Moritz Eggert)
Meister, Guru – und Täter?
Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Lehrverständnissen und Übergriffen
Abstract
In allen Lernsituationen und in allen Lehrverhältnissen gibt es Hierarchien. Diese können didaktisch begründet, aber auch institutionell oder durch Persönlichkeitsstrukturen bedingt sein oder aus dem Lehrgegenstand selbst hervorgehen. Beim Nachdenken über Machtmissbrauch und Übergriffe lohnt es, auch einen Blick auf diese Urbedingungen von Lehre und Lernen zu werfen. Ursächliche und notwendige Zusammenhänge zwischen bestimmten didaktischen Konstellationen und Machtmissbrauch gibt es nicht. Aber die gelebten Lehr- und Lernverständnisse können jeweils bestimmte Formen von Übergriffen begünstigen.
Voraussetzungen. Die „didaktische Haltung“
Wenn es um Lehre an einer Hochschule oder Universität und ihre Grundbedingungen geht, wird an hervorgehobener Stelle nahezu immer die Fähigkeit der Dozierenden zur Reflexion des eigenen Handelns angemahnt. „Hochschuldidaktik beginnt beim Verhalten der Hochschullehrkräfte zu sich selbst: bei ihren Erfahrungen und bei ihrer Fähigkeit und Bereitschaft zur Reflexion des eigenen Tuns, Denkens, Fühlen; bei ihrer Beziehung zu Sachen und Menschen; und führt weiter zu der Bereitschaft, die ständige Selbstvergewisserung transparent zu machen.“[1] Im Leitbild der HfMDK klingt dies an zwei Stellen an: „Wir streben nach Verbesserung auf Basis kontinuierlicher Reflexion.“ und: „Wir reflektieren unser künstlerisches, pädagogisches und wissenschaftliches Handeln auf Grundlage der Sicherung, Pflege und Neudeutung des kulturellen Erbes.“[2]
Die genannte Forderung nach einer „didaktischen Haltung“[3] bezieht sich auf alle Ebenen der Lehre. In diesem Versuch soll der Blick auf die Basisaspekte eines Lehr- und Lernverständnisses gerichtet werden: auf das Hierarchiegefälle, die Verteilung von Verantwortung zwischen Lehrenden und Studierenden im Lehr- und Lernprozess sowie den Grad der Teilhabe an diesem; schließlich auf die Frage einer Führung von Studierenden und ihren Lernprozessen: Ob dies, wie es Ulrich Mahlert nennt, etwa gemäß einer instruktivistischen Methode bzw. einem direktiven Unterrichtsstil im Sinne einer Erzeugungsdidaktik geschieht oder nach einer konstruktivistischen Methode, einem nicht-direktiven Unterrichtsstil, gemäß einer Ermöglichungsdidaktik.[4]
In einem zweiten Schritt sollen verschiedene Modelle der pädagogischen Führung daraufhin befragt werden, ob sie mehr als andere anfällig sind für einen Missbrauch seelischer oder körperlicher Art. Anders gesagt: Gibt es einen (notwendigen oder augenfälligen) Zusammenhang zwischen Lehrverständnis einerseits und Übergriffen oder Machtmissbrauch jeder Art andererseits?
Hierarchien in der Lehre früher und heute. Hochschuldidaktische Forderungen
Es ist nicht überraschend, dass im hochschuldidaktischen Diskurs verbreitet ein eher dialogisches Verhältnis mit meist flachen Hierarchien zwischen Lehrenden und Lernenden im Sinne einer konstruktivistischen Methode postuliert wird. Die Anleitung zum eigenverantwortlichen Lernen, die Anpassung eigener Methoden an individuelle Lern- und Studienziele der Studierenden und die Interaktion stehen dabei im Mittelpunkt der Überlegungen. Die Schweizer Vordenkerin Brigitta Pfäffli nennt unter den Kriterien für Qualität in der Lehre unter anderen folgende:
„Dozierende
- verstehen Lernen als individuellen Prozess, ermöglichen deshalb verschiedene Zugänge zu den Lerninhalten und berücksichtigen so die Heterogenität der Studierenden,
- setzen verschiedene Methoden und Hilfsmittel […] in Abhängigkeit von den Inhalten, Zielen und Ressourcen flexibel, situations- und niveaugerecht ein,
- involvieren die Studierenden durch authentische und interaktive Lernumgebungen in verstehende und problemlösende Lernprozesse,
- variieren ihre Rolle entsprechend der Lerngestaltung“.[5]
Sie
- „konkretisieren Lernsituationen, in denen die Studierenden […] eigene Ziele setzen und eigene Lernwege bestimmen,
- übernehmen Mitverantwortung für den Lernprozess der Studierenden,
- thematisieren den Aspekt der Eigenverantwortlichkeit für den Lernprozess“.[6]
Überlegungen dieser Art richten sich nicht nur gegen Lehrformen wie traditionell verstandene Vorlesungen, in denen nur eine Person spricht und in denen Lehre in erster Linie als Wissens-, Erkenntnis- oder Methodentransfer angesehen wird. Indem das Lernen in den Mittelpunkt gestellt wird (häufig auch unter dem Schlagwort „The shift from teaching to learning“), wird für alle Lehrformen bis hin zum künstlerischen Einzelunterricht ein auf Dialog und Kollegialität basierendes Verständnis des Lehr- und Lernverhältnisses begründet. Dieses will nicht nur dem Umstand Rechnung tragen, dass man es in der Lehre mit einer großen Heterogenität und Vielfalt an Persönlichkeiten und ihren je eigenen Fähigkeiten, Zielen, Denkweisen, ihren Vorlieben und ihren kulturellen, sozialen oder individuellen Prägungen zu tun hat. Sondern es schließt auch den Gedanken ein, dass die Vermittlung verschiedener künstlerischer oder künstlerisch-wissenschaftlicher Gegenstände jeweils unterschiedliche Methoden, unterschiedliche Arten der Aneignung und des Entdeckens aus sich selbst heraus geradezu fordern:
Mag es noch legitim sein, eine bloße Information (etwa einer nicht umstrittenen historischen Tatsache) auch einmal ,ex cathedra‘ zu verkünden, so wäre es beispielsweise abwegig, die Entwicklung kreativer oder improvisatorischer Elemente und Prozesse (selbst solcher im Kontext historischer Praxis) oder von interpretatorischen Freiheiten ausschließlich durch Vortrag und Anweisung anzulegen.
Zudem hat sich weithin die Ansicht durchgesetzt, dass selbst vermeintlich objektivierbare Schulen – z.B. Fragen der Haltung, der musikalischen Technik, der Atemführung – auf individuelle Besonderheiten wie physiognomische oder psychologische Dispositionen eingehen müssen, wollen sie nicht nur punktuell erfolgreich sein.
Der Berliner Musikpädagoge Christoph Richter begründet seine Forderung nach einem auf Dialog und Kollegialität basierenden Lehrverständnis auch künstlerisch. Ebenso wie ein künstlerischer Entdeckungs- und Erkenntnisprozess prinzipiell nie abgeschlossen ist, ist auch ein Prozess der Aneignung in der Lehre ein suchender, offener, abwägender, kritischer und dialogischer: „Seit einiger Zeit ist das Prinzip des Dialogs und des Gesprächs zu einer wichtigen Weise des Erkennens, des Denkens, des Handelns und des Umgangs zwischen Menschen geworden. Unter Dialog ist die abwägende, die sich hin und her wendende Auseinandersetzung über etwas […] zu verstehen – als Dialog zwischen Menschen, zwischen Menschen und Sachen oder auch im inneren Dialog mit sich selbst, auf der Suche nach guten Lösungen.
Der Dialog lebt vom Austausch des Wissens, von Erfahrungen und Vorstellungen, vom Austausch der individuellen Eigenart und der Ideen der Partner. Zum Wesen der dialogischen Auseinandersetzung gehören ihre Unabschließbarkeit, Vorläufigkeit und Veränderlichkeit. Dialogisches Verhalten setzt Unsicherheit, Zuhören-Können und Neugier voraus, vor allem auch die Einsicht, nicht am Ziel, sondern auf dem Weg zu sein.“[7]
In diesem dialogischen Verhalten, das sowohl das Verständnis von Lehre als auch deren Klima und Umgangsformen prägt, sieht Richter eine Grundvoraussetzung für eine zeitgemäße „Meister-Lehre“: Diesen Begriff versucht er gleichzeitig neu zu fassen und zu retten. Dem dialogischen Modell stellt er ein traditionelles und unreflektiertes Verständnis von „Meister-Lehre“ gegenüber: „Festgelegtsein auf Handlungs- und Denkweisen, das […] Beharren auf fertigen und angeblich bewährten Lösungen und Methoden, das Einfordern von Gefolgschaft – und auf der anderen Seite das unkritische Übernehmen und Nachmachen.“[8]
Meisterbegriffe
In eben dieser Imitation und Gefolgschaft liegen allerdings die historischen Wurzeln der instrumentalen Ausbildung in Europa: In den Stadtpfeifereien gab es Meister, Gesellen und Lehrlinge; erstere waren nicht nur für die Ausbildung der Lehrlinge (die nicht selten bei ihnen im Haushalt lebten) zuständig, sondern auch für die Durchführung und Organisation von Funktionsmusiken bei Festen, Beerdigungen und anderen öffentlichen Anlässen. Bei diesen Anlässen durften Lehrlinge im Sinne eines „learning by doing“[9] das Gelernte gleich anwenden: „Lernen durch Nachmachen, Abgucken, Mitmachen, durch praktische Musiziervorbereitung und durch Lernen im Ernstfall.“[10] Die Ausbildung muss man sich sehr hierarchisch vorstellen: Die Weitergabe von Lehrgeheimnissen außerhalb der Zunft war vielerorts unter Strafe gestellt, und analog zu der Ausbildung in Handwerksbetrieben durchlief man die Stationen „Aufdingen“ und die eigentliche „Lehre“, bevor man schließlich „freigesprochen“ wurde.[11] Der Meister war der eigentliche und einzige Bezugspunkt: Ihm eiferte man in allen Fragen der Spiel- und Übetechnik, im musikalischen Geschmack, im Musikverständnis, aber auch in Fragen der Sittlichkeit oder der Lebensführung und Lebensplanung nach.
Ohne die Entwicklung im Einzelnen nachzeichnen zu wollen, soll kurz die Sprache auf einen veränderten „Meister“-Begriff insbesondere im 19. Jahrhundert kommen, der von einem neuen Selbstbewusstsein des „autonomen“ Künstlers, von idealistischer Kunstphilosophie und einem aufkommenden Genie- und Virtuosenkult gespeist ist. Zu den Meistern pilgerte man wie zu Heiligen – Ulrich Mahlert formuliert: „Im Wort ,Meister‘ schwingt eine sakrale Bedeutung mit. Meister ,erleuchten‘ ihre Schüler. Diese werden seine ,Jünger‘, die ihren Meister (archetypisch eine männliche Person) über alles verehren, ihm ,nachfolgen‘ und seine Lehre tradieren.“[12]
Auch heute noch legitimieren sich Lehrende über die Ahnenreihe ihrer Lehrer oder Lehrerinnen, die beispielsweise im Falle von Pianistinnen und Pianisten nicht selten über Artur Schnabel und Leschetitzky zu Liszt und Czerny führt und schließlich bei Beethoven endet.[13] Viele so genannte Schulen basieren bis heute auf einer traditionellen „Meisterlehre“, und in den meisten Fällen gründet sich die Verehrung der nachfolgenden Generationen auf Faktoren wie handwerkliche Vollendung, musikalische und ästhetische Weisheit, künstlerische Vision und persönliche Ausstrahlung des Meisters. „Das prägendste Moment in der Ausbildung eines Musikers oder einer Musikerin scheint auch noch am Beginn des 21. Jahrhunderts die Begegnung und die künstlerisch-fachliche Unterweisung durch einen Meister seines Fachs zu sein.“.[14]
Die Nachahmung und das Nacheifern sind in der „Meisterlehre“ die dominierenden Lernprinzipien; entsprechend sind Lehrende in allererster Linie Vorbild und beispielgebende Autoritäten, deren so genannte Methode übernommen wird. In manchen Fällen gehören Befehle, Anordnungen oder das Aufzwingen von Inhalten, Techniken und Ansichten zu den Elementen der Lehre. Neben einer Legitimierung über Traditionslinien wird dabei meist auch der eigene Erfolg des „maestro“ als schlagendes Argument benutzt: „Ich kann es – und weiß, wie es geht“.
Eine didaktische Bewertung der Prinzipien der „Meisterlehre“ aus heutiger Sicht ist in der Vergangenheit an verschiedenen Stellen versucht worden. Um eine solche geht es hier nicht (nur soviel sei erwähnt: Das Prinzip der temporären oder partiellen Nachahmung wird als Werkzeug auch in Lehrverständnissen eingesetzt, die prinzipiell im scharfen Gegensatz zu einer Meisterlehre im oben beschriebenen Sinne stehen).
Es geht auch nicht um die unbestreitbaren, großen Erfolge, die traditionellen Meister-Lehren zugeschrieben werden können. Im Folgenden soll einzig der Aspekt der Hierarchie in Meister-Schüler-Verhältnissen betrachtet werden, insbesondere auch Phänomene wie Abhängigkeiten und Gehorsam.
Charisma, Faszination, Abhängigkeit: der „geistige Führer“ Stefan George
Ein besonders facettenreiches Bild auf ein Spannungsfeld zwischen künstlerisch-intellektueller Vision, systematischer und gewollter Abhängigkeit, Elementen von krassem Missbrauch auf der einen Seite, sowie Faszination, blinder Gefolgschaft und mehreren menschlichen Tragödien auf der anderen Seite bietet sich beim Blick auf den Dichter Stefan George (1868-1933) und seinen Kreis.
Es lohnt, an dieser Stelle etwas weiter auszuholen. An George lässt sich vieles studieren, das in Einzelaspekten auch in musikalischen Ausbildungskontexten auf verschiedensten Niveauebenen gegenwärtig ist. Das System George ist gut erforscht, und da es sich bei ihm nicht um einen Heiligen des Musiklebens handelt, lösen die Beschreibungen beim Lesen idealerweise nicht sofortige Abwehrreflexe aus.
George, ein mitunter mythisch verehrter und auch zu Lebzeiten äußerst einflussreicher Dichter, scharte seit der Jahrhundertwende eine Gruppe von zunehmend systematisch rekrutierten jungen Männern (in vielen Fällen nach damaligem – und in manchen Fällen nach heutigem – Gesetz minderjährig) um sich. Sein Kreis lässt sich ebenso als geistige Elitevereinigung, Sekte, Männerbund, als „Staat“ oder als ordensartiges soziales Konstrukt begreifen. Georges Zeitgenosse, der Soziologe Max Weber, sprach von einer „von künstlerischen Weltgefühlen getragenen Sekte“ und prägte mit Verweis auf den George-Kreis den Begriff „charismatischer Herrschaftsverband“.[15] Als George die kultische Verehrung des frühverstorbenen Kreismitglieds „Maximin“ und dessen Stilisierung zum Heiligen etablierte, handelte er sich den Vorwurf ein, nicht nur als Prophet, sondern auch als Religionsstifter zu wirken. Friedrich Gundolf, zentrale Figur des Kreises bis zu seiner Verstoßung, widersprach allerdings Vorwürfen, es handele sich hierbei um eine Sekte oder einen Geheimbund: Der Kreis sei „eine kleine Anzahl Einzelner mit bestimmter Haltung und Gesinnung, vereinigt durch die unwillkürliche Verehrung eines großen Menschen, und bestrebt, der Idee, die er ihnen verkörpert (nicht diktiert), schlicht, sachlich und ernsthaft durch ihr Alltagsleben oder durch ihre öffentliche Leistung zu dienen.“[16]
Am Beginn des Kontakts eines späteren Kreismitglieds zu George stand jeweils eine „ästhetische Erfahrung“. Im Keim enthielt sie schon das gleichsam religiöse Verhältnis zwischen Meister und Jünger, das durch die imitierenden Techniken im Kreisleben später gefestigt und tradiert wurde. Die ästhetische Erfahrung mit Georges Lyrik diente als eine Art Erweckung zur Nachfolge[17].
Der 17-jährige Hugo von Hofmannsthal war einer der ersten, um die George warb. Wenige Tage nach der ersten Begegnung formulierte der junge Dichter eindrucksvoll und beklemmend die Atmosphäre von charismatischer Anziehung, Verführung und Angst in seinem berühmt gewordenen Gedicht „Der Prophet“, ein Dokument der künstlerischen Verarbeitung einer existenziellen Extremsituation:
In einer Halle hat er mich empfangen,
Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt,
Von süßen Düften widerlich durchwallt;
Da hängen fremde Vögel, bunte Schlangen.
Das Tor fällt zu, des Lebens Laut verhallt,
Der Seele Atmen hemmt ein dunkles Bangen,
Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen
Und alles flüchtet hilflos, ohne Halt.
Er aber ist nicht wie er immer war,
Sein Auge bannt und fremd ist Stirn und Haar.
Von seinen Worten, den unscheinbar leisen,
Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen
Er macht die leere Luft beengend kreisen
Und er kann töten, ohne zu berühren.[18]
Max Weber definierte Charisma als „magisch bedingte Qualität, um derentwillen eine Persönlichkeit als ,Führer‘ anerkannt wird“[19] und machte sie zum Ausgangspunkt einer neuen Herrschaftssoziologie. Charismatische Erziehung hat zum Ziel, „Auserwählte wiederum charismatisch zu befähigen“. Dies setze die „Isolierung von der gewohnten Umgebung voraus“ und „Eintritt in eine besondere Lebensgemeinschaft, Umgestaltung der gesamten Lebensführung […], endlich feierliche Rezeption der Erprobten in den Kreis der bewährten Träger des Charisma“.[20] Webers Beschreibung, die teilweise unter Verweis auf die Strukturen des George-Kreises entwickelt worden ist, lässt sich durchaus in vielen Punkten auf künstlerische Ausbildungszusammenhänge anwenden.
Gerade weil der George-Kreis keinen institutionellen Regeln und institutionell vorgegebenen Machtverhältnissen unterworfen war, kann man an ihm so gut studieren, welches Machtpotential in geistig-künstlerischer „Führerschaft“, in prophetisch angehauchten Meisterfiguren liegt: Wie leicht auf einer nicht rationalen Ebene Heilsversprechen verfangen, Abhängigkeiten geschaffen werden und schließlich fatale Formen von Erniedrigung, Missbrauch und Ausschluss erwachsen können. Das maßvolle Schüren von Rivalitäten, ein Spiel mit Begünstigungen und Rangfolgen, schließlich Degradierungen und Verstoßungen sind dabei Mittel zur Sicherung des Bundes und der meisterlichen Herrschaft. Ein Ausscheiden aus dem Kreis war nicht vorgesehen. Wenn ein Mitglied sich für eine akademische Laufbahn oder eine Familiengründung entschied, konnte es zu heftigen Konflikten und zum Bruch kommen, den mehrere junge Männer nicht verkrafteten. George behandelte Abtrünnige als Verräter und sprach vom „kranken Blut“[21]; es kam zu Selbstmorden, beispielsweise als ein Mitglied zwischen der Freundschaft zu einem „Verräter“ und der Loyalität zu den Idealen des Georgeschen Bundes aufgerieben wurde und damit nicht mehr fertig wurde. Im George-Kreis wurde die „Überwindung des Sexus“ als übergeordnetes Ziel ausgegeben: „Die Liebe zu den schönen Knaben musste über alle Begierden des Fleisches erhaben sein“[22] – der Begriff des „pädagogischen Eros“ kursierte. Offenbar kam es in einer häufig „erotisch aufgeheizten Stimmung“[23] dennoch auch zu sexuellen Kontakten zwischen George und Mitgliedern des Kreises. Ein (abtrünniger) Schüler erklärte dies auch im Nachhinein noch damit, dass George das „Urbild Meister-Schüler-Beziehung im 20. Jahrhundert neu etabliert hat, inklusive sexuellen Handlungen“.[24] George-Biograph Thomas Karlauf spricht vom „ungeheuerliche(n) Versuch, die Päderastie mit Hilfe pädagogischen Eifers zur höchsten geistigen Daseinsform zu erklären“.[25] Die Vorwürfe sind im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen an reformpädagogischen Schulen erneut in den Fokus geraten.
Aus dem Blickwinkel unserer Fragestellung ergibt sich das verstörende Bild eines von Sendungsbewusstsein getriebenen Charismatikers, der – ausgehend von seinem Selbstverständnis als „großer Dichter“ und Visionär – eine geistige Führerrolle ergriff, über die er begabte Jugendliche, auch mit Heilsversprechen und unter Verletzung zahlreicher Grenzen, an sich band – mit teilweise katastrophalen Folgen für die Betroffenen.
Lehrverständnis und Machtmissbrauch
Auf die Verantwortung, die Lehrende mit dem Unterricht übernehmen, hat schon 1735 der Musiktheoretiker Johann Mattheson hingewiesen:
„Hiernächst ist auch darauf zu achten, dass man zum Lehr=Meister einen bescheidenen, sittsamen Menschen wehle, der keine öffentliche, große Laster an sich habe; kein aufgeblasener Fantast; kein Liebhaber falscher Griffe bey jungem Frauenzimmer; kein schmutziger Sau=Nickel; kein Trunckenbold oder Bruder=liederlich sey: denn, wenn er auch sonst alle Künste besäße, und hätte diese oder andere Unarten an sich, so würde der Untergebene an guten Sitten weit mehr dabey verliehren, als im Spielen gewinnen.“[26]
Berichte von sexuellen Übergriffen im Musikunterricht und über deren seelische Folgen gibt es zahlreich und konstant über die Jahrhunderte hinweg.[27] Im Zuge der MeToo-Debatte haben viele Opfer den Mut gefunden, von ihren Fällen zu erzählen, und in diesem Zusammenhang sind auch vermehrt Berichte an die Öffentlichkeit gelangt. Bei den Übergriffen geht es um verschiedenste Formen wie verbale, sexuell konnotierte Belästigungen, unerwünschte Berührungen bis hin zu sexueller Nötigung und versuchter oder tatsächlicher Vergewaltigung.
Betrachtet man die Kontexte, insbesondere Machtstrukturen und Aspekte des Lehrverständnisses, in denen derartige Taten stattfinden, lässt sich zunächst konstatieren, dass es Übergriffe in nahezu allen Macht- und Lehrkonstellationen zu geben scheint. Es lassen sich aber wiederkehrende Muster erkennen, die im Folgenden beschrieben werden sollen. Dabei gilt: Taten bleiben Taten – mit der Analyse von Mustern und Kontexten werden diese nicht erklärt und sicherlich nicht entschuldigt. Der folgende Versuch einer beispielhaften Typologie kann möglicherweise für problematische Zusammenhänge sensibilisieren.
- Der „Heilsbringer“[28]
In vielen Berichten in der Literatur wird beschrieben, dass manche junge Studierende – nach Meinung der Lehrenden – (noch) eine gewisse Scheu haben, sich in der Kunst und mit der Kunst extrovertiert und emotional zu äußern, sei es im Unterricht oder auf der Bühne. Die Studiensituation macht sie eventuell unsicher, Verehrung und Machtgefälle mögen eine Rolle spielen, ebenso die neue und manchmal sehr fremde Umgebung. Manche sind vielleicht schlicht so erzogen worden, dass sie dem „Meister“ demütig entgegenzutreten haben. Der „Meister“ diagnostiziert das und beschreibt die Schüchternheit als großes Defizit, als Problem, das nur er zu lösen in der Lage sei – unter der Voraussetzung, dass man sich ihm ganz anvertraue. Das Handlungsmuster wird oft auch in Verbindung mit der Feststellung von körperlichen oder bewegungstechnischen Blockaden beschrieben.
Dieses Prinzip ist vergleichbar mit dem, das auch Stefan George pflegte: Der „Meister“ konstatiert, dass der Schüler oder die Schülerin unabdingbar eine bestimmte Entwicklung zu durchschreiten habe, wenn er oder sie etwa zu Wahrheit, Erkenntnis, höchster Kunst oder gar Erlösung kommen wolle; auch George war der Meinung, dass „der Weg zur neuen Kunst (…) ausschließlich über ihn“ führe.[29]
Im Zuge von vermeintlich direkt persönlichkeitsbildenden, als Therapie getarnten Maßnahmen werden dann auch Grenzen verletzt. Besonders häufig wird davon berichtet, dass ein Meister Studierenden aus anderen Kulturkreisen dabei „helfen“ wolle, sich von ihrer Erziehung und ihren kulturellen Prägungen zu „befreien“. Die Mechanismen einer Machtschöpfung, deren sich die Verantwortlichen bedienen, erinnern in fataler Weise an George, der von seinen Jüngern verlangt hatte, mit dem bisherigen Leben zu brechen. In vielen beschriebenen Fällen übernimmt der so genannte Meister die kulturelle „Initiation“ gleich selbst, im extremen Fall gilt die vermeintliche sexuelle Befreiung der Studierenden als Bestandteil davon. Sexuelle Übergriffe werden dann in zynischer Weise getarnt als Lernziel – im Sinne von: Die Studierenden müssen „erfahren, was künstlerische Freiheit wirklich sei“ etc. – als würden diese Übergriffe dazu beitragen, Musik in ihrer je eigenen Gedanken- oder Gefühlswelt, in ihrer Atmosphäre und in ihrem biographischen Kontext wirklich näher zu kommen, sie zu verstehen und nachzuvollziehen.
- Der „mächtige Kumpel“
Auf einen ersten Blick könnte man denken, dass es immer dann leichter zu Übergriffen und zur Verletzung der psychischen und physischen Integrität von Studierenden kommt, wenn das Hierarchegefälle im Unterrichtsverhältnis nicht zu groß ist – wenn man sich scheinbar eher auf einer Ebene begegnet. Dann sitzt das Gespräch etwas lockerer, ist die private und letztlich die intime Verabredung „natürlicher“. Dem kann entgegengehalten werden, dass auch sehr machtbewusste Personen, die Gefolgschaft und Gehorsam einfordern, unter Umständen eine freundschaftliche und heimelige Atmosphäre schaffen, in der man spricht, sich austauscht und anvertraut. Ähnliches wird aus dem George-Kreis durchaus auch berichtet: Der Meister sei im persönlichen Umgang überraschend „einfach“ gewesen, man traf sich im privaten Rahmen, etablierte eine lockere „Gruppe“.
Wenn es um Übergriffe geht, findet sich allerdings tatsächlich in einer besonders großen Zahl von Berichten das Muster, dass Dozierende sich nahbar geben, sich mit Studierenden zu Freizeitaktivitäten in Café, Theater, auch im Schwimmbad oder in der Diskothek verabreden und/ oder das verstehende, vertraute Gespräch „von gleich zu gleich“ suchen.[30] Die Grenzen zwischen Professionellem und Privatem verschwimmen dann womöglich umso leichter, je geringer auch die sprachliche Distanz ist.
In diesen unklaren Zusammenhängen mag es für manche Studierende zunächst überraschend sein, wie „normal“ die bewunderte und berühmte Person ist. Manche lassen sich suggerieren, sie seien über die persönliche Nähe zu der wichtigen Persönlichkeit, die über Karrieren entscheiden kann, schon Teil des Betriebs, in den sie unbedingt eintreten wollen. Das kann von eben diesen „wichtigen“ Personen ausgenutzt werden, es können auch spiralartige Entwicklungen entstehen.
In Bezug auf das vermeintlich kollegiale Lehrverständnis bleibt anzumerken, dass das Machtgefälle immer bestehen bleibt, unabhängig von den Umgangsformen und vom Gesprächston: Die mächtige Person – das ist institutionell vorgegeben – hat in der Regel nicht nur einen inhaltlichen Erfahrungsvorsprung und einen höheren sozialen Status, sie hat auch ein weitgehendes „Deutungsmonopol“, sie entscheidet am Ende über Noten, über die Aufnahme in höhere Studiengänge, schreibt Empfehlungen, führt in Netzwerke ein, etc. Es hilft, diese Tatsachen transparent zu machen, denn nur so wird klar, dass es letztlich immer die Lehrperson ist, die den „Ton“ vorgibt – sie entscheidet, ob man distanziert oder kumpelhaft, persönlich oder professionell, zweideutig oder respektvoll miteinander umgeht.
- Der „Fürst“
Im Zuge der MeToo-Debatte ist ein dritter Typus (vor allem in der Presse) immer wieder beschrieben worden: Der Typus des seiner Macht bewussten Herrschers, der sich gleichsam außerhalb des juristischen Rahmens sieht und der sich jederzeit das Recht herausnimmt, übergriffig zu werden. Er hält sich schon aufgrund seiner Position für unwiderstehlich und versteckt seine Absichten nicht einmal. Die Tatbestände sind meist recht eindeutig: Es geht um Drohungen, Nachstellungen, Nötigungen, Vergewaltigungen.
„Und er kann töten, ohne zu berühren“
Sexuelle Übergriffe sind besonders verabscheuenswürdige Formen des Machtmissbrauchs und der Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen. Aber auch Ausprägungen des seelischen Missbrauchs, Erniedrigung, Erzeugung von Hörigkeit, Formen der Erpressung, Anwendung von Zwang und vieles mehr sind vielfach beobachtet und beschrieben worden und nicht hinnehmbar. Sie stehen, das ist meine These, zumindest auch in Zusammenhang mit einem Lehrverständnis. Eine unvollständige und punktuelle Aufzählung mag beschreiben, was gemeint ist:
- Der oben beschriebene „Heilsbringer“ schafft häufig einen Kult um sich herum, über den er schwere Abhängigkeiten provozieren kann, selbst wenn es nicht zu sexuellen Übergriffen kommt. Viele verstehen sich als Guru oder Meister und versehen ihre Lehre mit einer Vorstellung von Exklusivität, die jeden Kontakt der Studierenden zu alternativen, ergänzenden Lehrmeinungen ausschließt. Wer sich bei anderen kompetenten Spezialistinnen oder Spezialisten punktuell weiter ausbilden lassen möchte, wird zum Verräter.
- Es wird vielfach beschrieben, dass Lehrkräfte sich im Unterricht ungefragt therapeutisch betätigen, auch wenn sie dafür nicht ausgebildet sind. Betrifft diese „Therapie“ Aspekte der Körperwahrnehmung, kommt es immer wieder zu Übergriffen, zu zweideutigen und unerwünschten Situationen. Betrifft die „Therapie“ hingegen Fragen der Persönlichkeit, etwa das Selbstbewusstsein der Studentin oder des Studenten, entsteht Schaden vielfach nicht nur durch dilettantisches Vorgehen, sondern es kann z.B. ein legitimes Bedürfnis der Studentin oder des Studenten nach professioneller psychologischer Distanz gestört werden: Lehrpersonen mischen sich in Belange ein, die sie nichts angehen, sie nehmen Einfluss in Bereichen, die außerhalb des eigentlichen Unterrichtsfeldes liegen, sie überschreiten ihren Kompetenzbereich und werden so seelisch übergriffig.
- Dozierende „vernichten“ mit einem Feedback, etwa nach einer Prüfung, die Studierenden, ohne dass sie irgendeine Verantwortung dafür übernehmen, wie die Studierenden in der Folge damit umgehen können. An vielen Hochschulen (auch in Einzelfällen an der HfMDK) fehlen bis heute in vielen Studiengängen klare Beschreibungen der so genannten Zielkompetenzen. Für Bewertungen fehlen damit transparente Kriterien, was den Boden bereitet für Willkür, Begünstigungen, Benachteiligungen.
- Ein „Sänger-Papst“, der über Karrieren entscheidet, empfiehlt einem jungen aufstrebenden Sänger, er möge doch besser Arzt werden: Diese Geschichte ist berühmt geworden, weil sie in der öffentlichen Wahrnehmung ein „gutes“ Ende genommen hat. Der damals junge Sänger ist mittlerweile selbst weltberühmt. Von den unzähligen destruktiven und vermeintlich abschließenden Urteilen über letztlich nicht erfolgreiche Künstlerinnen und Künstler wird in der Regel nicht berichtet. Diese Urteile haben aber, so steht zu vermuten, wesentlich zum Scheitern der Ambitionen und der Hoffnungen beigetragen.
- Dozierende können auch künstlerisch Gehorsam und Gefolgschaft einfordern – schließlich sitzen sie als Haupt-Begutachtende in der Regel auch in der Abschlussprüfung. Ein unreflektiertes Meister-Denken, dessen Ziel die erfolgreiche Nachahmung des Vorbilds durch die Lernenden ist, stößt hier auf einer sehr einfachen Ebene an klare ethische Grenzen.
In einem solchen Lehrverhältnis ist Widerspruch unter Umständen nicht vorgesehen. Studierende haben keine Möglichkeit, sich zu wehren, wenn sie sich künstlerisch oder persönlich unverstanden, bedrängt oder eingeengt fühlen. Es ist auch schwer vorstellbar, dass in einem solchen Kontext durch Studierende Respekt, wohlwollende Behandlung, Fairness oder auch mehr körperliche Distanz eingefordert werden können.
- Gegen die Ausübung von direkter Gewalt und Zwang, die „Knechtschafft der Kunst-Pfeifferey“, ihre „Sclaverey und Prüge=Probe“ wandte sich schon Johann Mattheson: „Denn durch den Zwang werden Ingenia niedergeschlagen / der Mensch verliehret seine natürliche Gemüts Freyheit / er wird verdrießlich / träge / faul […].“[31] Ulrich Mahlert folgert: „Späte Relikte solcher Gepflogenheiten sind Anschreien, Beschimpfen, Verächtlichmachen, Liebesentzug und anderer Psychoterror – Gruselwerkzeuge einer schwarzen Pädagogik […].“[32]
Ausblick
Unabhängig davon, wie man „Meister“ überhaupt definiert, sind „Meister“ natürlich weder üblicherweise noch notwendigerweise Täter. Künstlerische und künstlerisch-pädagogische Exzellenz darf – möglicherweise muss – mit Charisma, mit starken Überzeugungen, mit fachlicher Besessenheit und ästhetischer Leidenschaft ebenso einhergehen wie mit einem verantwortungsvollen Sendungsbewusstsein. Und es gibt erwiesenermaßen Übergriffe in flachen Hierarchien gleichermaßen wie in autoritären Lehrverhältnissen.
Statistiken und tiefergehende Studien zum Zusammenhang zwischen Lehrmodellen und Übergriffen verschiedenster Art fehlen. Die Schlussfolgerung liegt allerdings nahe, dass bestimmte didaktische Konzepte (oder das Fehlen von ebendiesen) eher den Boden für bestimmte Arten des Missbrauchs von Macht und Verantwortung bereiten als andere. So mag an der Stelle eines Fazits ein Plädoyer stehen:
Wenn es im Unterrichtsverständnis die Ebene des erwarteten Gehorsams und der inhaltlichen, seelischen oder persönlichen Abhängigkeit überhaupt nicht gibt, ist ein Übergriff oder eine ungute Entwicklung in diesem Bereich auch weniger wahrscheinlich oder gar nicht zu erwarten. Unreflektierte Schulen- oder Legendenbildungen haben in einer zeitgemäßen Didaktik, die sich auf ein modernes, aufgeklärtes Bildungsverständnis beruft, keinen Platz. Verzichtet man auf umfassende, also nicht-punktuelle Nachahmung, rückt die Lehrperson automatisch ein wenig aus dem Fokus; den freiwerdenden Platz nehmen die Inhalte (Werke, Techniken, Stilistiken) sowie die lernende Person mit ihrer eigenen Suche, ihren eigenen Voraussetzungen, Sichtweisen und Bedürfnissen ein. Versteht man Lehre aber in dieser Weise als kompetente Begleitung eines Lern- und Aneignungsprozesses, ergibt sich fast von selbst ein respektvolles und auf Interesse gegründetes, gleichzeitig gesund-distanziertes Unterrichtsverhältnis, in dem Übergriffe fern liegen. Respekt ist dann kein von außen herangetragenes, der Lehre übergestülptes Prinzip, sondern eine aus den Bedingungen selbst erwachsende Selbstverständlichkeit.
Ergänzend lohnt ein weiterer Blick ins Leitbild der Frankfurter Hochschule, in dem es heißt: „Wir begegnen einander mit Wertschätzung, in wechselseitiger Anerkennung der Kompetenzen und schaffen eine Atmosphäre, in der Authentizität und Kreativität gedeihen können“.[33] Es ist unsere Aufgabe, dieses Leitbild mit Leben zu füllen.
Dieser Artikel erschien erstmals in einer internen Antidiskriminierungsbroschüre der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt/Main: „Begegnung. Nähe. Grenzen“. Ein Handbuch für den Hochschulalltag, Frankfurt am Main 2022“, abrufbar zum Download unter: https://www.hfmdk-frankfurt.de/thema/antidiskriminierungsbeauftragte.
Darin gibt es lesenswerte weitere Artikel und Informationen.
[1] Christoph Richter: Meister-Unterricht. Prinzipien der Meisterlehre früher und heute, in: üben & musizieren 03/2012, S. 6-11, hier S. 9
[2] Leitbild der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 2014
[3] Richter, Meister-Unterricht, a.a.O., S. 9
[4] Ulrich Mahlert: Wege zum Musizieren. Mainz 2011, S.35ff.
[5] Brigitta K. Pfäffli: Lehren an Hochschulen. Eine Hochschuldidaktik für den Aufbau von Wissen und Kompetenzen. Bern 22015, S. 46.
[6] Ebd.
[7] Richter: Meister-Unterricht, a. a. O, S. 10.
[8] Ebd.
[9] Hierzu Magdalena Bork: Jenseits von „gut“ und „böse“. Meisterlehre im 21. Jahrhundert – Erkenntnisse aus einer Wiener AbsolventInnen-Studie, in: üben & musizieren 03/2012, S. 12-16, hier S. 12.
[10] Richter: Meister-Unterricht, a. a. O., S. 7.
[11] Vgl. hierzu Michael Roske: Umrisse einer Sozialgeschichte der Instrumentalpädagogik, in: Handbuch der Musikpädagogik,hrsg. von Christoph Richter, Bd. 2, Kassel/Basel/London 1993, S. 158-196.
[12] Ulrich Mahlert, Editorial zu: üben & musizieren 03/2012, S. 1.
[13] Das Beispiel stammt aus: Henry Kinsbury: Music. Talent and Performance: a Conservatory Cultural System, Philadelphia 2001, S. 46; hier zitiert nach Raymond Ammann: Exzellenzkriterien für die “Meister-Schüler”-Beziehung im Musikunterricht, Forschungsbericht der Hochschule Luzern 2013, S. 17f.
[14] Bork: Jenseits von „gut“ und „böse“, a. a. O., S. 12.
[15] Vgl. hierzu: Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 22019, S. 410-418.
[16] Friedrich Gundolf: George, Berlin 1920, S. 31, zitiert nach: Thomas Karlauf: Stefan George, a. a. O., S. 410.
[17] Vgl. hierzu: Gunilla Eschenbach: Imitation im George-Kreis, Berlin 2011, S. 12f
[18] Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Gedichte und lyrische Dramen, Frankfurt am Main 1970, S. 502.
[19] Vgl. Karlauf: Stefan George, a. a. O., S. 412 und 416.
[20] Ebd., S. 417.
[21] Thomas Karlauf: Päderastie aus dem Geist Stefan Georges? Interview mit Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Zeitung 05.04.2010.
[22] Thomas Karlauf: Stefan George,a. a. O., S. 388.
[23] Karlauf: Päderastie, a. a. O.
[24] Ebd.
[25] Karlauf: Stefan George, a. a. O., S. 394.
[26] Johann Mattheson: Kleine General=Baß=Schule, Hamburg 1735, S. 60.
[27] Vgl. hierzu insbesondere: Freia Hoffmann (Hrsg.): Panische Gefühle. Sexuelle Übergriffe im Instrumentalunterricht. Mainz 2006 sowie Matthias Bartsch, Martin Knobbe, Jan-Philipp Möller: Gefährliche Nähe. In: Der Spiegel, 27.04.2019.
[28] Der Autor verzichtet hier auf eine gender-neutrale Bezeichnung. Damit soll nicht angedeutet werden, dass ein ähnliches Verhalten nicht auch gelegentlich bei nicht-männlichen Personen beobachtet werden konnte oder kann.
[29] Vgl. Karlauf: Stefan George, a. a. O., S. 17.
[30] Solche Aktivitäten können selbstverständlich auch tatsächlich einvernehmlich stattfinden, so wie es auch zu einvernehmlichen Liebesverhältnissen zwischen erwachsenen Menschen aus dem Lehrkontext heraus kommen kann.
[31] Zitiert nach Ulrich Mahlert: Mächte und Ohnmächte. Musizierunterricht als Machtgefüge. In: üben & musizieren 01/2021, S. 6-10, S. 8.
[32] Ebd.
[33] Vgl. Leitbild der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main, a. a. O.
Komponist
Danke für den interessanten und wertvollen Text. Im Bereich der Frage, was eine gute Instrumentallehre ausmacht, stimme ich dem Text voll zu.
Die Sache ist aber m.E. noch viel komplizierter. Daher als Ergänzung:
Z.B. „Die mächtige Person – das ist institutionell vorgegeben – hat in der Regel nicht nur einen inhaltlichen Erfahrungsvorsprung und einen höheren sozialen Status, sie hat auch ein weitgehendes „Deutungsmonopol“, sie entscheidet am Ende über Noten, über die Aufnahme in höhere Studiengänge, schreibt Empfehlungen, führt in Netzwerke ein, etc.“
Wo es in einem Fachbereich viele Professoren gibt (z.B. Klavier), die untereinander in Macht-Konkurrenz stehen, muss diese mächtige Person nicht der eigene Lehrer sein, sondern z.B. der Fachbereichsleiter. Der eigene Professor benotet ja auch die Prüfung nicht. D.h. es gibt auch unter den Professoren selbst ein Abhängigkeitsverhältnis, weil man weiß, dass wenn man den Kollegen ärgert, man selbst und auch die eigenen Studierenden darunter leiden wird. Positiv nennt man das Kollegialität, negativ ist das Klüngel. Es geht nicht nur um das Macht- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Professoren und Studierenden. Und unter den Studierenden geht es dann auch darum, wieviel Macht der eigene Professor hat, und ob man lieber zu einem Professor gehen sollte, der diesbezüglich mehr „Vorteile“ bringt. Das sind Überlegungen, die mit der eigentlichen Lehre nichts zu tun hat, und mit der Musik erst recht nicht. In einer Hochschule, wo solche Überlegungen viel mehr Wert einnehmen als über das Eigentliche (sich mit der Kunst beschäftigen, besser werden als Musiker), entsteht ein destruktives Klima.
Bei dem Machtkampf geht es ja hier nicht nur um die künstlerische Frage (Prof. X will Bach nur so interpretiert sehen, nur so ist es richtig, Prof. Y findet das ganz falsch), sondern auch um ganz andere Dinge.
Z.B. Prävention, bevor was passiert, ist natürlich viel besser hinterher als „Scherben“ aufzuräumen. Das setzt voraus, dass die Grenzverletzungen ungewollt passieren, weil man nicht besser wußte oder weil man unerfahren waren. Ja, es gibt solche Situationen. Es gibt auch Situationen, wo es tatsächlich nur um Missverständnisse geht, z.B. ein falsch gewähltes Wort, eine gut gemeinte Geste.
Das Problem ist, wenn man selbst Dinge wie „aufgedrängter Sex“ nur intern mit Gesprächen zu klären versucht. (Vor allem, wie überzeugt man Menschen mit Einstellungen wie bei George?) Die Erfahrung zeigt, dass je größer ein Problem ist, desto kleiner wird es gemacht. Viel Mühe wird gegeben, dass die Sache nicht in die Öffentlichkeit kommt, letztendlich werden die Geschädigten alleine gelassen, weil man sie unsichtbar machen möchte. Es ist auch nicht so, dass die Medien nur auf Vorfälle warten und gerne darüber berichten. Es ist auch nicht so, dass strafrechtlich „die Tatbestände meist recht eindeutig“ sind. Auch Dinge wie Drohungen, Nachstellungen, Nötigungen, Vergewaltigungen kommen nicht so leicht zur Verurteilung, eben weil Einstellungen wie bei George früher auch strafrechtlich eine gängige Entschuldigung und Freispruchsgrund war (und heute zwar seltener aber leider auch immer noch ist) und dann wird das gerne so getan, als wäre nichts Schlimmes, nichts Eindeutiges passiert. Und dann ist man wieder beim „intern per Gespräch klären“, und das kann über Jahrzehnte so weitergehen (und so manche Kulturmagazine, vor allem Online-Blogs tragen unwissend oder wissend zur „Rehabilitierung“ solcher Täter bei – z.B. in dem sie über sie lobende Artikel schreiben, und natürlich bekommt dann das Publikum nur diese lobenden Artikel mit und nicht das, was „intern besprochen“ wurde).
Das Leidbild der Frankfurter Hochschule ist wichtig und lobenswert: „Wir begegnen einander mit Wertschätzung, in wechselseitiger Anerkennung der Kompetenzen und schaffen eine Atmosphäre, in der Authentizität und Kreativität gedeihen können“.
In der Praxis geht es darum, die magische Linie zu finden, wo es um (gute) Kollegialität (gegenseitige Unterstützung und Wertschätzung, konstruktive Kritik) geht, ohne dass es in (schlechten) Klüngel mündet (sich gegenseitig decken, falsche Gerüchte gegen „Feinde“ verbreiten, Täter vor Whistleblowern schützen).
Daher ist es es wichtig, weiterhin darüber zu reden!
(Teil 2)
Nach meinem Verständnis gehören der Typus 1 (Heilsbringer) und Typus 3 (Fürst) zusammen. Es ist eher so: der Typus 3 sieht sich subjektiv nicht außerhalb des juristischen Rahmens, sondern noch im legalen Rahmens, weil er seine Beweggründe mit 1 legitimiert. Er fühlt sich im Recht, deshalb muss es Recht sein. Und weil er sich im legalen juristischen Rahmens sieht, konnte er und kann er zumindest in Deutschland und zumindest teilweise strafrechtlich auch tatsächlich im legalen Rahmen bleiben, d.h. nicht verurteilt werden (weil es im Strafverfahren neben des objektiven Tatablaufs auch und vor allem um das subjektive Empfinden des Täters geht, weil es um die Bestrafung bzw. Nichtbestrafung des Täters geht).
Das war der Ausgangspunkt für die Sexualstrafrechtsreform 2016. Im Zuge dessen und auch wegen der Sensibilisierung wegen #metoo haben sich auch die Rechtssprechungen (auch nach dem alten Sexualstrafrecht) teilweise auch geändert (siehe die Urteilsbegründungen für die Verurteilung im Falle Mauser – früher wurden mit den gleichen Begründungen freigesprochen. Das war eigentlich der juristische Erfolg des Falls von allgemeiner Bedeutung).
Zu dem Punkt:
„In einem solchen Lehrverhältnis ist Widerspruch unter Umständen nicht vorgesehen. Studierende haben keine Möglichkeit, sich zu wehren, wenn sie sich künstlerisch oder persönlich unverstanden, bedrängt oder eingeengt fühlen.“
sehe ich es schon auch so. Man müsste aber trotzdem trennen zwischen drei Konstellationen, auch wenn alle frei missbräuchlich sind: wenn die Studierenden nach Sex gefragt wurden und „Ja“ sagten, weil sie dadurch Vorteile haben und dadurch tatsächlich Vorteile bekommen haben; wenn sie nach Sex gefragt wurden und sich nicht vorstellen konnten, „Nein“ zu sagen und deshalb mitgegangen und mitgemacht haben; wenn sie mit dem Sex überrascht wurden, eingesperrt wurden, gewaltsam gezwungen wurden.
In gängigen Narrativen, auch in den Medien, heißt es oft „sie haben sich nicht gewehrt“, das stimmt aber bei Übergriffen nämlich häufig nicht ganz. Das ist das typische „Zier Dich nicht so, Du willst es doch auch“ Situation – das Opfer wehrt sich, oder kommt aufgrund des Übergriffs in eine „Freeze“ Reaktion, der Täter deutet das dann für sich um als „Die will nur stärker angepackt werden“, „Ich muss sie nur noch mehr überzeugen“, oder wie beim Typus 1 beschrieben z.B. „Die ist aber schüchtern, die muss sich für die tolle Erfahrung noch öffnen, ich muss ihr nur noch mehr helfen“. Nur weil der Täter das Wehren des Opfers nicht als Wehren versteht (und vorm Gericht geht es eben um seine Wahrnehmung, weil es ein Strafverfahren um ihn geht), heißt es noch lange nicht, dass das Opfer sich nicht gewehrt hatte. Das Wehren war nur nicht stark genug, um vom Typus 1+3 als solches verstanden zu werden.
(Teil 3)
Missbrauchstäter haben die Tendenz, in ihrer Wahrnehmung die Welt für sich zurecht zu rücken, so dass man sich im Recht fühlen kann und die Tat für sich so erklären kann, dass man damit was Gutes getan hat. Das ist ein ur-menschliches Verhalten, um sein Gewissen und sein Verhalten in Einklang zu bringen, ansonsten würde man eine kognitive Dissonanz verspüren und entweder ein schlechtes Gewissen bekommen oder sein Verhalten ändern. Deshalb folgt aus der Typus 3 Persönlichkeit Verhaltensweisen, die im Artikel unter Typus 1 beschrieben sind.
Nun herrscht bei Fällen wie „Sex aufgezwungen“ (was unter juristischen Laien als „Vergewaltigung“ verstanden wird) mittlerweile ein ziemlicher Konsens, dass das nicht OK ist, vor allem nicht als Teil einer Hochschullehre.
(Beim einvernehmlichen Sex, bzw. Liebesbeziehung zwischen Professoren und Studierenden, besteht m.E. der Konsens auch heute noch nicht wirklich. Wann ist dies Machtmissbrauch und wann ist es einfach Liebe? Und wenn zwei Menschen wirklich lieben, was muss getan werden, um sicher zu stellen, dass das echte Liebe zwischen zwei freien Menschen auf Augenhöhe ist? usw.)
Man hat das Problem z.B. während der Corona-Zeit deutlich gesehen. Wenn der Professor gegen die Corona-Eindämmungsgesetze und die Corona-Maßnahmen der Hochschule verstößt, bringt das die Studierenden in ein Dilemma. Einerseits sind sie dem Prof. z.B. dankbar für die illegale Übemöglichkeit oder den illegalen Unterricht, anderseits wissen sie, dass sie das eigentlich nicht dürfen, und sie wollen nicht gegen die Gesetze verstoßen. Sie trauen sich aber nicht, Nein zum Angebot des Profs zu sagen, weil sie Angst haben, dann als nicht leidenschaftlich genug oder zu unkünstlerisch zu gelten. Hinzukommt, dass so manche Gesetze waren auch an sich unlogisch, so dass man eigentlich auch selber auf die Einschränkung sauer war. So entstehen dann ein gewisses Bandengefühl in der Klasse, wo alle sich wie heimliche Kämpfer gegen die Maßnahmen fühlen oder fühlen sollen. Wir sind ja Künstler und sind frei. Wir machen nicht alles mit, was die profane Gesetze der unkünstlerische Gesellschaft sagt. usw. Irgendwann kann das dann in Anarchie und Übergriffigkeit kippen.
Und damit komme ich zum Anfang des Artikels zurück.
Bei Interpreten ist es schon so, dass es in russischen Schulen oder aber auch in französischen, Wiener oder deutschen Schulen noch Dinge gibt, die „oral“ an die Meisterschüler weitergegeben werden (auch wenn die Ausbildung in letzter Zeit viel inklusiver geworden sind, dank Meisterkursvideos usw.). Z.B. gibt es bei Tschaikowsky Dinge, die sie in den Noten nicht stehen – man kann natürlich nach dem Motto verfahren „ich spiele, wie ich mich fühle“, aber wenn man sagen kann „ich habe das so vom X gelernt, der das bei Y gelernt hat, der das bei Tschaikowsky gelernt hat“, hat das Gewicht. Selbst wenn man es persönlich letztendlich anders macht (künstlerische Freheit), ist es hilfreich, die Tradition (und den Willen des Komponisten) zu kennen. Der Sinn und die Grenze des Konzeptes „Texttreue“ in der klassischen Musik haben einen direkten Einfluss auf das Verständnis der Macht in der Musikausbildung. (Aber auch das ist aktuell im Wandel – zumal es Musiker gibt, die brechen mit der Tradition komplett spielen die Stücke, wie sie wollen – er will keinen Schumann spielen, sondern ein neues eigenes Stück nur mit Notentext von Schumann – und das wird teilweise als neuer Wind in der Klassik für ein neues Publikum gelobt. Jedenfalls – Festhalten an der eigenen Vorstellung der Tradition und dies von Studierenden zu verlangen, wäre reine Machtdemonstration – aber sie nur „frei entfalten lassen“ ohne Anleitung, wäre Vernachlässigung und ebensfalls nicht gut, ein guter Pädagoge hat eine gute Linie dazwischen.)